Der Ausschuss für Recht, Verfassung und Gleichstellung hat sich am Donnerstag, 11. Juni 2020, mit dem Fluchtversuch eines Gefangenen aus der Justizvollzugsanstalt „Roter Ochse“ in Halle beschäftigt. Ende Mai hatte der 28-Jährige Terrorverdächtige von Halle versucht, aus dem Gefängnis zu fliehen.
Das Justizministerium (MJ) hatte die Öffentlichkeit am 3. Juni 2020 informiert, dass der Gefangene am Pfingstsonnabend bei einem Freigang über einen mehr als drei Meter hohen Zaun kletterte und so unbeobachtet in einen anderen Hof gelangte. Nach Aussagen von Justizministerin Anne-Marie Keding wurde der 28-Jährige über längere Zeit nicht direkt bewacht, sondern es wurde nur sporadisch nach ihm gesehen.
Die Mitglieder des Ausschusses für Recht, Verfassung und Gleichstellung wollten nun in ihrer teils öffentlichen Sondersitzung unter anderem wissen, wie es angesichts der strengen Auflagen hinsichtlich der Haftbedingungen von Stephan B. zu diesem Vorfall kommen konnte. Denn laut aktuellem Erlass des Justizministeriums darf sich dieser nicht ohne Aufsicht außerhalb seines 24h kameraüberwachten Haftraumes bewegen.
Dem 28-Jährigen wird vorgeworfen, am 9. Oktober 2019, schwer bewaffnet, versucht zu haben, in die gut besuchte jüdische Gemeinde in Halle einzudringen. Als das misslang, soll er zwei Menschen erschossen und weitere schwer verletzt haben. Die Bundesanwaltschaft wirft dem 28-Jährigen zweifachen Mord und 68-fachen Mordversuch „aus einer antisemitischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Gesinnung heraus“ vor. Der Prozess gegen ihn soll im Juli in Magdeburg beginnen.
Was die Abgeordneten wissen wollten:
- Warum habe die JVA die Sicherheitsverfügungen des MI nicht eingehalten?
- Welche Konsequenzen werden aus dem Vorfall gezogen?
- Welche Vorschriften gibt es zu Meldeketten bei außergewöhnlichen Ereignissen in der JVA?
- Inwieweit hat sich das Justizministerium regelmäßig über den Gefangenen Bericht erstatten lassen?
- Es sei für Kamera-Bedienstete zu sehen gewesen, dass der Gefangene bereits 30 Minuten allein im Freiraum gewesen sei. Warum sei das nicht aufgefallen?
- Warum wurde der Untersuchungsgefangene überhaupt in Halle untergebracht?
- Wie viele Mitarbeiter gibt es derzeit in der JVA und wie viele hatten am fraglichen Tag Dienst?
- Wie kam die Zusammensetzung der Bediensteten an dem Tag zustande?
Welche Konsequenzen gezogen wurden
Justizministerin Anne-Marie Keding, erklärte, dass trotz dieses Zwischenfalls, „nie die reale Möglichkeit eines Ausbruchs bestanden“ habe. Allerdings allein die Tatsache, dass sich der Gefangene für etwa fünf Minuten unbeobachtet innerhalb der JVA bewegen konnte (mit der Absicht eines Fluchtversuchs), treibe sie um. Bei der Aufarbeitung des Geschehenen sieht Keding drei große Bereiche:
- das konkrete Geschehen in der JVA während des Fluchtversuchs
- den Informationsfluss von der JVA zum Ministerium nach dem Geschehen
- die Frage: Wie konnte es dazu kommen, dass die Sicherheitsverfügung der JVA nicht in vollem Umfang dem Erlass des Justizministeriums entsprach?
Als eine sofortige Konsequenz sei veranlasst worden, dass die Bediensteten in anderen Bereichen der JVA eingesetzt werden, erklärte die Justizministerin. Der Gefangene wurde in die JVA Burg überwiesen und verbringt nun dort seine Untersuchungshaft unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen. Nachdem sie von dem Zwischenfall erfahren habe, hätte sie den Vorsitzenden des Rechtsausschusses telefonisch informiert und danach die Presse und die Fraktionen des Landtags, beschrieb Keding die Informationspolitik ihres Hauses. „Mir tut es leid, dass ich neben dem Telefonat mit dem Vorsitzenden des Rechtsausschusses nicht noch zusätzlich mit den Sprechern der einzelnen Fraktionen telefoniert habe“, räumte sie. Außerdem würden derzeit Disziplinarverfahren vorbereitet und die stellvertretende Anstaltsleiterin der JVA Halle sei ins Justizministerium versetzt worden.
Welche Fehler in der JVA begangen wurden
Thomas Naumann, Leiter der Justizvollzugsanstalt in Halle, erklärte, bis zum 2. Juni 2020 hätte er nicht gedacht, „dass es ein solches Fehlverhalten seitens der Bediensteten geben kann“. Er bedauere das Fehlverhalten seiner Mitarbeiter zutiefst. Im Vorfeld hatte er nie den Eindruck, dass die Bedeutung dieses besonderen Gefangenen nicht verstanden worden sei. Zudem bestätigte der JVA-Leiter die Aussage der Justizministerin, wonach der 28-Jährige nie in den Nahbereich der Außenumgebung gekommen sei, sodass nie eine reale Möglichkeit zur Flucht bestanden hätte.
Naumann skizzierte noch einmal den Ablauf des Geschehens am Pfingstmontag: Demnach ist der Gefangene gegen 13 Uhr zu seiner Freistunde aus der Zelle geholt worden (in der er 24h mit einer Kamera videoüberwacht wird). Danach habe das Fehlverhalten seinen Lauf genommen. Denn entgegen der Vorschriften hätte es eine Bewachung des Gefangenen beim Freigang immer nur für kurze Zeit und nicht vollständig gegeben. Damit verstießen die Bediensteten gegen jede Verfügung, so Naumann. Der Gefangene habe dies ausgenutzt und sei in dieser Zeit über den besagten Zaun in einen anderen Hof geklettert. Nachdem sein Fehlen bemerkt wurde, habe man ihn gesucht und nach etwa fünf Minuten im Nachbarhof gefunden.
Warum das Ministerium nicht informiert wurde
In der Folge sei der nächste Fehler passiert, so der Leiter der JVA, indem nämlich die Bedeutung des Ereignisses falsch eingeschätzt wurde. Normalerweise hätte per Fax oder E-Mail sofort ein Kurzbericht an das Justizministerium übermittelt werden müssen. Dies sei nicht geschehen, da die zuständigen Bediensteten der Ansicht waren, es handle sich nicht um ein Ereignis von öffentlichem Interesse. Zudem hätte es wohl Unklarheiten über die Zuständigkeit dieser Aufgabe gegeben. Als Naumann selbst am Dienstag zurück ins Büro gekommen sei, stieß er in der Übergabe auf die Meldung und habe so von dem Vorfall erfahren. Daraufhin hätte er dann einen Sofortbericht an das Justizministerium geschickt und eine erste Video-Analyse veranlasst.
Warum der Erlass des MJ nicht eingehalten wurde
Naumann erklärte abschließend, „wäre die Anstaltssicherheitsverfügung richtig umgesetzt worden, wäre es nicht zu dem Ereignis gekommen“. Er räumte jedoch ein, dass der Erlass des Ministeriums zum Umgang mit dem Gefangenen nicht vollumfänglich umgesetzt und dieser möglicherweise fehlinterpretiert worden sei. So konnte es dazu kommen, dass es eine Sicherheitsverfügung in der JVA Halle gegeben habe, die nicht den schriftlichen Vorgaben des Ministeriums entsprach. Dennoch unterstrich er, wenn die Bediensteten keine Dienstpflichtverletzung begangen hätten, wäre der Gefangene nicht über den Zaun gestiegen. Der Gefangene hätte beobachtet und von seinem Fluchtversuch abgehalten werden können.
Wolfgang Reichel, Leiter Justizvollzug im MJ, ergänzte, dass es zeitgleich Malerarbeiten (durch Gefangene) gegeben habe, die auch ein Dienstzimmer betroffen hätten. Diese hätten beaufsichtigt werden müssen. Zudem gebe es in der JVA einen zentralen Kameraraum, wo alle Bilder zusammenlaufen. Dort säßen immer zwei Bedienstete, allerdings seien diese wohl auch mit einem anderen Problem abgelenkt gewesen, da die Zellenkommunikation kurzfristig ausgefallen sei.
Reichel betonte, dass jede Änderung der Sicherheitsvorkehrungen in der JVA schriftlich beantragt werden müsse. Wenn eine JVA ihren Pflichten nicht nachkommen könne, beispielsweise durch personelle Engpässe, dann müsse sie dies dem Justizministerium berichten. So eine Meldung habe es von der JVA Halle jedoch nicht gegeben.