Auf dem Weg zur Deutschen Einheit trat im Sommer 1990 der Streit um die zukünftige Landeshauptstadt des wieder zu gründenden Sachsen-Anhalts immer mehr in Vordergrund. Am 21. Juli 1990 lud der damalige Minister für regionale und kommunale Angelegenheiten, Dr. Manfred Preiß, alle Beteiligten zu einer Beratung nach Zerbst ein, um sich zumindest auf ein gemeinsames Verfahren in der Hauptstadtfrage zu einigen, wie eine Filmbeitrag aus dem Deutschen Rundfunkarchiv zeigt.
Nach intensiven Diskussionen wurde in Zerbst beschlossen, dass in der Zeit vom 15. bis 30. August 1990 eine geheime Abstimmung der Abgeordneten in den Kreistagen und Stadtverordnetenversammlungen zur Landeshauptstadt stattfinden soll. Aufgerufen waren 2 489 Abgeordnete in den 37 Kreistagen der Landkreise der Bezirke Halle und Magdeburg (ohne Artern), in den Stadtverordnetenversammlungen Halle, Magdeburg und Dessau, sowie im Kreistag des Landkreises Jessen (zukünftig wieder Sachsen-Anhalt).
Von 2 180 gültigen Stimmen entfielen 882 auf Halle als Landeshauptstadt und 1 298 Stimmen auf Magdeburg. Das Abstimmungsergebnis sollte den neu zu wählenden Landtagsabgeordneten mit auf den Weg gegeben werden. Die endgültige Entscheidung fiel jedoch erst auf der konstituierenden Sitzung des Landtags am 28. Oktober 1990.
Wichtige Gründe – je nach Sichtweise
Natürlich gab – je nach Sichtweise – für beide Städte Pro- und Contra-Argumente. Magdeburg argumentierte beispielsweise mit seiner langen Tradition als Hauptstadt der preußischen Provinz Sachsen. Außerdem verfügte die Stadt an der Elbe über eine etwa 1000-jährige Tradition als Residenzstadt, vor allem unter Kaiser Otto dem Großen. Demgegenüber stünde für Halle nur eine 6-jährige „Tradition“ (1947–1952) als Landeshauptstadt, bei der vor allem politische Erwägungen eine Rolle gespielt hätten, argumentierten die Gegner Halles.
Genau daran versuchten die Hallenser jedoch anzuknüpfen. In einem Gutachten hatte der Direktor des Stadtarchives Halle erklärt, dass die Stadt die Hauptstadtwürde seit 1947 eigentlich nie verloren hatte, weil Sachsen-Anhalt nie aufgelöst worden sei. Allerdings waren der Status der Stadt und die Existenz des Landes 1952 faktisch natürlich aufgelöst und aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Ein Nachteil für Halle dürfte auch die jüngere Vergangenheit der Stadt gewesen sein, die in der Bevölkerung als „SED-Hochburg“ galt. Neben dem Gutachten versuchte Halle mit seiner Rolle als wichtigstes Wirtschafts- und Bildungszentrum zu punkten.
Für Magdeburg als Hauptstadt sprach dagegen laut Befürwortern auch die zentralere Lage innerhalb des wieder zu gründenden Sachsen-Anhalts. Auf diese Weise könnten sowohl die Interessen der Industriegebiete als auch die Probleme der strukturschwachen Agrargebiete berücksichtigt werden. In Meinungsumfragen der Technischen Universität Magdeburg hatten sich 50 Prozent für Magdeburg, 39 Prozent für Halle und 11 Prozent für Dessau ausgesprochen.
Endgültige Entscheidung fällt in Dessau
Am Ende entschieden die frei gewählten Landtagsabgeordneten am 28. Oktober 1990 auf der konstituierenden Sitzung des Landtags in Dessau. Im zweiten Wahlgang – Dessau hatte im ersten ebenfalls kandidiert – entschieden sich die Abgeordneten mit 57 von 106 abgegebenen Stimmen für Magdeburg. Damit war die seit Monaten offene Frage beantwortet – die Rivalität zwischen beiden Städten hielt bis heute. Vielleicht eine interessante Randnotiz: Vor der geheimen Abstimmung gab es keine parlamentarische Debatte über das Für und Wider, wie es eigentlich üblich ist. Zudem blieb es bis heute die einzige Sachentscheidung des Landtags, die in geheimer Abstimmung erfolgt ist.
Dokumente aus dem Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt
Der Text stammt aus unserem Archiv vom Oktober 2015.