Das Bundesverfassungsgericht hatte am 29. Januar 2019 geurteilt, dass der Wahlausschluss von „für in allen ihren Angelegenheiten betreute“ Menschen verfassungswidrig ist. Die Verfassungswidrigkeit der Regelung stütze sich auf eine Ungleichbehandlung gesetzlich Vollbetreuter gegenüber vergleichbar Betreuungsbedürftigen ohne gesetzlichen Vertreter. Um diesen Missstand noch vor der Kommunalwahl am 26. Mai 2019 auszuräumen, brachten die Fraktionen von CDU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen entsprechenden Gesetzentwurf ein.
Zudem wollen die Regierungsfraktionen mithilfe eines Entschließungsantrags das inklusive Wahlrecht umsetzen. Die Landesregierung soll dafür bis Ende 2019 einen Gesetzentwurf zur Änderung des Wahlgesetzes vorlegen, der den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom Januar 2019 umsetzt. Beispielsweise soll die Anzahl der barrierefreien Wahlräume für Wahlberechtigte mit Mobilitätseinschränkungen weiter erhöht werden.
Rechtssichere Ergänzung der Wählerverzeichnisse
Menschen mit Behinderung stehen lauf UN-Behindertenrechtskonvention alle politischen Rechte und Möglichkeiten zu, diese gleichberechtigt zu genießen, erklärte Dr. Katja Pähle (SPD). Zu Unrecht seien bisher zwei Gruppen von Menschen von Wahlen ausgeschlossen gewesen: vollbetreute Menschen und Personen, die durch Schuldunfähigkeit in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht sind. Durch den vorgelegten Gesetzentwurf könne eine rechtssichere Ergänzung der Wählerverzeichnisse erreicht werden, sagte Pähle. Sachsen-Anhalt schaffe damit eine Lösung, die im Bundestag für die Europawahl nicht zustande gekommen sei.
Weitergehende Maßnahmen sollen durch den Entschließungsantrag der Koalition erzielt werden. Durch die angestrebte Änderung des Wahlrechts soll auch die Landtagswahl 2021 rechtssicher gestaltet werden. „Es geht uns um das Wahlrecht und die tatsächliche Möglichkeit, wählen zu können“, betonte Pähle. Dies gelte unter anderem auch für Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt seien. Es müsse gelingen, Informationen zu Wahlen auch in Einfacher Sprache und in Gebärdensprache anzubieten oder Parteienlogos auf Wahlscheinen zuzulassen. Der Text einer Wahlbenachrichtigung sei für viele Menschen eine ebenso hohe Höhe wie die Treppe für die Rentnerin mit dem Rollator vor dem Wahlbüro, kritisierte Pähle.
Sitzung entspricht nicht den Erwartungen
Die Koalition habe die zusätzliche Sitzung des Landtags mit der Schaffung von „Klarheit vor der Kommunalwahl“ begründet, erklärte Daniel Roi (AfD). Jedoch werde nun nicht – wie erwartet – ein Gesetz zum Straßenausbau vorgelegt, auch keine Klärung, ob eine zweite Erstaufnahmeeinrichtung in Stendal wirklich nötig sei, oder was aus den zwölf von der Schulschließung bedrohten Grundschulen werde.
Es fehle der Regierung an Kraft und dem Willen, all diese Unklarheiten zu beseitigen, betonte Roi. Stattdessen gehe es beim vorgelegten Gesetzentwurf nur um einen Satz im Kommunalverfassungsgesetz, der vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erklärt worden sei. Ein Gerichtsurteil zwinge die Koalition zum Handeln und nicht der Wille der Koalition, so der AfD-Abgeordnete.
Leitbild einer inklusiven Gesellschaft
Der Wahlrechtsausschluss bestimmter Personengruppen verstoße gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl und der Benachteiligung wegen einer Behinderung, betonte Christina Buchheim (DIE LINKE). Um auf die aktuelle Entwicklung (Urteil des Bundesverfassungsgerichts) zügig zu reagieren, sei mit Blick auf die Kommunalwahl die zusätzliche Sitzung des Landtags einberufen worden.
„Die Wahlen inklusiver zu machen, ist ein wichtiges Signal, es entspricht dem Leitbild einer wirklich inklusiven Gesellschaft“, so Buchheim. Selbstbestimmung müsse das dominierende Prinzip der Gesellschaft sein. Sie sprach sich für individuelle Assistenzleistungen für eine adäquate Meinungsbildung bei Menschen mit Behinderung aus. „Auch Menschen mit Behinderung haben das Recht, die Gesellschaft durch eine Wahl mitzugestalten“, erklärte die Linken-Abgeordnete.
Grüne für Ausweitung des Wahlrechts
„Dem Thema Inklusion wird schlicht nicht die Aufmerksamkeit zuteil, die es verdient“, konstatierte Sebastian Striegel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). Zwar habe Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben, dennoch gebe es bis jetzt den Wahlausschluss für bestimmte Personengruppen. Die Wahl müsse aber auch den Charakter eines Integrationsvorgangs tragen.
Es gelte, für mehr Barrierefreiheit und Inklusion im Wahlrecht einzutreten. „Alle Menschen, die fähig und willens sind, am demokratischen Prozess teilzunehmen, sollte diese Möglichkeit auch eingeräumt werden“, legte sich Striegel fest. Die Grünen sprechen sich für ein Wahlrecht ab 14 Jahren und unabhängig von der Staatsbürgerschaft für alle Menschen aus, die im politischen System der Bundesrepublik lebten.
Mehr demokratische Beteiligungsmöglichkeiten
Die als verfassungswidrig eingestuften Wahlrechtsausschlüsse sollen noch vor der Kommunalwahl zumindest in Sachsen-Anhalt ausgeräumt werden, erklärte Tobias Krull (CDU). 2 500 Personen seien in Sachsen-Anhalt vom wiedereingeräumten Wahlrecht betroffen. Damit würden die demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung ausgebaut – lange Zeit schon eine der Forderungen der Behindertenvertreter. Krull räumte ein, dass auch das Bundesteilhabegesetz in Sachsen-Anhalt noch mit mehr Leben gefüllt werden müsse. Er warb dafür, nicht nur den Zugang zu Informationen über Wahlen, sondern auch die Informationen an sich zu vereinfachen.
Im Anschluss an die Debatte wurden der Gesetzentwurf und der Entschließungsantrag der Koalition einstimmig in den Ausschuss für Inneres und Sport überwiesen. Dort soll bis Freitag, 5. April 2019, eine Beschlussempfehlung erarbeitet werden.