Die Verfolgung von Schulpflichtverletzungen gegenüber Schüler/innen als Ordnungswidrigkeit mit der Folge eines Arrests für Jugendliche als „Ultima Ratio“ sei nicht geeignet, die Einhaltung der Schulpflicht zu verbessern. Die Fraktion DIE LINKE spricht sich mit einem Gesetzentwurf daher für die Abschaffung des Schülerarrests aus. Der Gesetzentwurf wurde im November 2018 in Erster Beratung im Plenum behandelt und anschließend unter anderem in den Ausschuss für Bildung und Wissenschaft überwiesen. Dessen Mitglieder verständigten sich auf die Durchführung einer Anhörung in öffentlicher Sitzung, die am Freitag, 10. Mai 2019, abgehalten wurde.
Für die einbringende Fraktion stehe außer Frage, dass die Einhaltung der gesetzlichen Schulpflicht durch alle Schüler/innen ein wichtiges Anliegen der Schulpolitik sei. Dafür seien auch alle geeigneten pädagogischen Maßnahmen zu ergreifen. Das Fernbleiben von der Schule sei fast immer Folge individueller Problemlagen. Es müsste deshalb auch durch die Schulbehörden und Jugendämter und nicht durch Ordnungsämter und die Justiz bearbeitet werden. Zu diesen Standpunkten bezogen die Anzuhörenden (aus dem Schul- und Justizbereich) Stellung.
Wortmeldungen aus der Anhörung
Gründe, warum Kinder und Jugendliche der Schule fernblieben, seien vielfältig, beispielsweise Schulangst, schlechte Leistungen oder Probleme mit Lehrkräften und Mitschülern, erklärte Lydia Bütof von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (Regionalstelle Sachsen-Anhalt). Schulabsentismus führe nicht selten zum Schulabbruch, zu Ausbildungs- und Arbeitslosigkeit, zu Problemen bei der sozialen Integration und zu erhöhter Straffälligkeit. Bütof forderte unter anderem ein eindeutiges Feedback bei der zeitnahen Umsetzung der verabredeten Maßnahmen gegen den Schulabsentismus. Denn je größer die Fehlzeit und stärker die Ersatzbeschäftigung, desto größer sei auch die Hürde, die Schule wieder zu besuchen. Im Einzelfall könnten Ordnungsmaßnahmen ein Weckruf sein, der zu ruckartigem Umdenken führe. Jugendarrest ziehe jedoch eine Rückfallquote von 70 Prozent nach sich, er sei also im schlimmsten Fall kontraproduktiv und werde deshalb von der Stiftung abgelehnt. Schulsozialarbeit könne hier andere Brücken bauen, damit Schülerinnen und Schüler besser in den Schulalltag integriert werden könnten, so Bütof abschließend.
Fast 400 Kolleginnen und Kollegen sind in der Schulsozialarbeit in den Schulen des Landes Sachsen-Anhalt tätig. Jeder Fall von Schulbummelei sei individuell, so Carsten Krause, Schulsozialarbeiter in der Gemeinschaftsschule „Gottfried Wilhelm Leibniz“ in Magdeburg. Der zeitnahe Kontakt zwischen Schüler, Schule und Elternhaus sei bei der Bewältigung der Probleme dringend notwendig. Auch wenn sich Grenzen der Beratung aufzeigten, sei es notwendig, hartnäckig zu bleiben und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Gute Schulsozialarbeit setze eine gutentwickelte Teamarbeit in der Schule voraus, erklärte Roman Schöpp, Schulleiter an der Gemeinschaftsschule „Gottfried Wilhelm Leibniz“ in Magdeburg. Nichts laufe jedoch ohne außerschulische Hilfsinstitutionen. Er warb zudem für alternative Beschulungsmodelle (zum Beispiel „Produktives Lernen“, PL), um Schulverweigerer an anderer Stelle zielgerichteter abzuholen. Die Zahl der pädagogischen Mitarbeiter/innen sollte an den Schulen deutlich erhöht werden.
„Schüler haben ein Recht auf Bildung und sollen auf ihr späteres Leben vorbereitet werden“, betonte Lena Prinzler vom Landesschülerrat. Schüler sollten wissen, was sie dürfen, müssten aber auch ihre Pflichten kennen und achten. „Auf Pflichtverletzungen sollten weiterhin Konsequenzen folgen.“ Ordnungsmaßnahmen sollten jedoch angemessen sein und nicht die Würde des Schülers verletzen. Geldbußen und Jugendarrest seien nicht die bevorzugten Maßnahmen, so Prinzler. Es sei unerlässlich, die Hintergründe der Schulverweigerung zu kennen und an den Problemen zu arbeiten. Die Kommunikation innerhalb der Schülerschaft sollte stärker berücksichtigt sowie mehr Schulsozialarbeit ermöglicht werden.
Ihre Institution unterstütze den Gesetzentwurf der Linken, sagte Nicole Anger, Vorsitzende des Landesjugendhilfeausschusses Sachsen-Anhalt. Bereits eingeleitete Verfahren sollten eingestellt werden. Annähernd 200 Jugendliche würden jedes Jahr als Ultima Ratio in den Jugendarrest geschickt, kritisierte Anger. Instabile Lebensbedingungen würden durch solche Strafmaßnahmen noch verstärkt, zudem sei die Verfahrensdauer (bis zum tatsächlichen Antreten des Arrests) viel zu lang. Eine pädagogische Leistung sei im Arrest nicht wirklich möglich. Stattdessen drang Anger darauf, die interdisziplinäre Zusammenarbeit aller Akteure im Vorfeld zu intensivieren.
„Wir begrüßen die hier angesprochenen inhaltlichen Änderungen des Schulgesetzes“, sagte Eva Gerth, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Sachsen-Anhalt (GEW). Nur durch pädagogische Hilfe könnten die anfallenden Probleme der Schülerinnen und Schüler abgearbeitet werden. Die Schulsozialarbeit müsse aus diesem Grund ausgeweitet werden. Sie warb dafür, den § 84 des bestehenden Gesetzes zu streichen.
In den ersten vier Monaten des Jahres 2019 seien 43 Arrestanten in der Jugendarrestanstalt Halle untergebracht gewesen, berichtete die stellvertretende Anstaltsleiterin der JVA Halle, Steffi Kretzschmer. (Der JVA-Leiter ist zugleich Behördenleiter der Jugendarrestanstalt Halle.) Die Arrestanten seien zwischen 15 bis 23 Jahre alt gewesen, die Durchschnittszeit des Arrests habe 3,6 Tage betragen. „Niemand wurde dort arrestiert, weil er nicht zur Schule gegangen ist, sondern weil beispielsweise ein Bußgeld nicht abgeleistet worden ist“, stellte Kretzschmer klar. Dieses Bußgeld werde allerdings auch erst verhängt, wenn alle anderen pädagogischen Maßnahmen nicht gegriffen hätten. Bußgelder können auch in Ratenzahlung beglichen oder gar in gemeinnützige Arbeit umgewandelt werden. Werde die Strafe wiederum nicht abgegolten, könne ein Arrest angeordnet werden. „Die Arrestanten werden betreut, sie haben Schulunterricht, der Arrest kann mitunter auch Struktur geben, die die Schüler zuvor nicht kannten.“
Der Landesverband für Kriminalprävention und Resozialisierung Sachsen-Anhalt e. V. sei dankbar, dass der Jugendarrest endlich als „Zuchtmittel aus dem Gesetz“ genommen werden soll, erklärte dessen Geschäftsführerin Delia Göttke. Dem Problem von Schulangst und Lernversagen könne man nicht allein mit zeitlich begrenzten Projektinitiativen begegnen, sondern die Projekte müssten verstetigt werden, man müsste auf diese Hilfs- und Interventionsangebote jederzeit zugreifen können.
Aus pädagogischer Sicht schloss sich Oberstaatsanwalt Dr. Ulf Lenzner vom Bund der Richter und Staatsanwälte den Vorredner/innen an, aus juristischer Sicht allerdings lehne der von ihm vertretene Bund den Gesetzentwurf ab. Die Durchsetzung der Schulpflicht müsse weiterhin gewährleistet werden, durch den Gesetzentwurf würde aber eine erhebliche Sanktionsmöglichkeit gestrichen, übrig bliebe nur ein gesetzgeberischer Appell. Abschreckung sei nicht das Ziel des Jugendarrests, sondern die Aufrechterhaltung einer gesetzlichen Konsequenz, so Lenzner.
Würden alle pädagogischen Maßnahmen nicht greifen, könne am Gericht eine Prüfung auf Kindeswohlgefährdung eingefordert werden, sagte Gabriele Bunzendahl, Familienrichterin in Halberstadt. Beispielsweise gebe es einen Fall von Schulabstinenz von 80 Tagen – bei einem Kind in der 2. Klasse. Soziale Kompetenz müsse zumindest in der Schule vermittelt werden, es gebe aber auch das Recht auf den Schulbesuch. Seien Eltern erziehungseingeschränkt, könne ihnen unter anderem ein Gebot zugestellt werden, die Einhaltung der Schulpflicht zu gewährleisten. Nutzt dies nichts, könnten Kinder auch aus der Betreuung durch die Eltern herausgelöst werden.
Die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V. (DVJJ) sprach sich für den vorliegenden Gesetzentwurf aus, erklärte dessen Vorstand Klaus Breymann. Die, die am meisten gefährdet seien, würden durch einen angedrohten Arrest nicht abgeschreckt, dies treffe eher auf diejenigen zu, die davon so gut wie nie bedroht seien. Die erhofften Wirkungen des Arrests blieben alle aus, er könne vielmehr der Beginn einer kriminellen Karriere sein – „Denn wen lernen die Jugendlichen denn dort kennen?“ Landet jemand in der Jugendstrafanstalt, habe er meistens auch Bekanntschaft mit dem Jugendarrest gemacht, so Breymann.
So geht es weiter
Der Ausschuss für Bildung und Kultur wird sich in seinen kommenden Sitzungen weiter mit dem Gesetzentwurf der Fraktion DIE LINKE beschäftigen. Am Ende der Beratungen soll eine Beschlussempfehlung für das gesamte Plenum erarbeitet werden.