Die Landesregierung hatte im Oktober 2017 einen Gesetzentwurf in den Landtag eingebracht, durch den das Landesverfassungsgerichtsgesetz geändert werden soll. Wesentliches Ziel des Gesetzentwurfs ist die Einführung der Individualverfassungsbeschwerde zum Landesverfassungsgericht ab 1. Januar 2019. Damit soll eine Vereinbarung der Koalitionspartner umgesetzt werden, die auf eine Anregung des Präsidenten des Landesverfassungsgerichts zurückgeht. Der Ausschuss für Recht, Verfassung und Gleichstellung hatte sich darauf verständigt, am Freitag, 16. Februar 2018, eine Anhörung in öffentlicher Sitzung durchzuführen.
Hintergrund und Ziele des Gesetzes
Bislang können Bürger/innen mit einer solchen Individualverfassungsbeschwerde nur Grundrechtsverletzungen durch den Gesetzgeber rügen; Grundrechtsverletzungen durch Entscheidungen der Verwaltung oder der Gerichte sind dagegen bisher kein tauglicher Beschwerdegegenstand. Mit der Einführung dieser Beschwerdemöglichkeit soll der grundrechtliche Rechtsschutz erweitert werden.
Ein weiteres Ziel des Gesetzentwurfs ist die Einführung einer Verzögerungsbeschwerde im Landesverfassungsgerichtsgesetz und damit die Umsetzung einer europarechtlichen Vorgabe. Im Grunde geht es um einen speziellen Rechtsbehelf gegen überlange Verfahren vor dem Landesverfassungsgericht.
Zuletzt soll mit dem Gesetzentwurf der Kreis der potenziellen Mitglieder des Landesverfassungsgerichts moderat vergrößert werden. Der nach Ansicht der Landesregierung bisher ausgesprochen kleine Kreis wählbarer Berufsrichter mit besonders herausgehobener Stellung innerhalb der Landesjustiz soll erweitert werden, um mehr Auswahlmöglichkeiten zu schaffen.
Wortlaute aus der Anhörung
Der Reigen der Anhörung begann mit dem Präsidenten des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, Peter Küspert. Er wies darauf hin, dass es in Bayern entsprechende Regelungen seit vielen Jahrzehnten gebe; die gängigen Abläufe skizzierte er nach. Die Verfassungsbeschwerde zum Landesverfassungsgericht sei nötig, um auch individuell örtliche und landesspezifische Belange vor dem landeseigenen Verfassungsgericht klären zu lassen. Diese richten sich vor allem gegen fachspezifische Gerichtsentscheidungen.
Der überwiegende Teil der Verfassungsbeschwerden sei in Bayern allerdings nicht erfolgreich – weil Fristen nicht eingehalten worden seien, die Beschwerde substanzlos gewesen sei oder gerichtliche Instanzen noch nicht ausgeschöpft worden seien. Trotzdem sei – gerichtlich gesehen – nicht zu unterschätzen, dass allein die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde positive Effekte habe, zeigte sich Küspert überzeugt.
Durchschnittlich 110 Verfassungsbeschwerden würden in Bayern pro Jahr erhoben. Über die Handhabung solch einer Beschwere könne sich im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs im Vorfeld umfänglich informiert werden, so Küspert.
Der Präsident des Landesverfassungsgerichts von Sachsen-Anhalt, Lothar Franzkowiak, betonte, dass der vorliegende Gesetzentwurf in Abstimmung zwischen Landesregierung und Landesverfassungsgericht erstellt worden sei. Künftig sollen die Bürger/innen selbst entscheiden können, ob sie sich mit ihrer Beschwerde an das Bundes- oder das Landesverfassungsgericht wenden wollen. Franzkowiak wies auf die zusätzliche personelle Belastung des relativ klein besetzten Gerichts hin; zusätzliche Personalstellen müssten aufgrund der anzunehmenden Steigerung der Fallzahlen geschaffen werden.
Der reale Nutzen decke nicht den Aufwand der Gesetzesnovelle und der Umsetzung der erweiterten Verfassungsbeschwerde, mutmaßte Prof. Dr. Michael Germann, Richter am Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt. Es gebe dafür eine „bessere Idee“: eine andere Zugangshürde zum Landesverfassungsgericht auszuräumen, die sogenannte Beschwerdebefugnis. Eine Umformulierung der geltenden Vorschriften würde genügen, um eine sogenannte Popularverfassungsbeschwerde zu ermöglichen.
Vom Oberlandesgericht Naumburg meldete sich dessen Vizepräsident Michael Braun zu Wort. Grundsätzliche Bedenken ließen sich gegen das Vorhaben nicht erheben, ob es nötig ist, sei eine andere Frage. Er plädierte für die Einarbeitung einer Missbrauchsgebühr und die Zahlung eines Verfahrensvorschusses in den Gesetzentwurf. Auch ein Anwaltszwang sollte nach Ansicht Brauns integriert werden.
Es würden große Erwartungen geweckt, die die große Verfassungsbeschwerde nicht werde erfüllen können, meinte Oliver Becker, Präsident des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt. Solche Rechtsbehelfe seien in der Regel erfolglos, weil die Gerichte richtige Urteile fällten. Es werde also mehr (auch personellen) Aufwand, aber wenig praktischen Nutzen geben. Becker riet allerdings dennoch von Verfahrensgebühren ab, weil diese das Vorhaben von mehr Bürgernähe konterkarieren würde.
Michael Fock, Präsident des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt, kritisierte, dass seitens der Landesregierung offenbar nicht der Wunsch bestehe, auf Änderungsvorschläge zum Gesetzentwurf einzugehen. Aus der Praxis heraus zeige sich, dass ein kleiner Personenkreis verschiedene Gerichte mit denselben Belangen beschäftigten – von Querulanten bis „Reichsbürgern“. Diese wollten vor allem die Arbeit der Gerichte behindern. Dieses Vorgehen werde ab 2019 dann auch beim Landesverfassungsgericht der Fall sein – durch die „restriktive Personalbewirtschaftung im Land“ werde dies zur Überbelastung des Verfassungsgerichts führen, so Fock.
Das Landesarbeitsgericht wurde durch seine Präsidentin Kathrin Thies vertreten. Sie äußerte erhebliche Bedenken gegen die Einführung der Individualverfassungsbeschwerden. Dies sei vor allem eine Frage des fehlenden Personals. Die normale Rechtsgewährung für den Bürger auf dem derzeitigen Niveau solle zunächst sichergestellt werden, betonte Thies. Mit dem weiteren Rechtsbehelf würden sich die Bearbeitungszeiten herkömmlicher Verfahren erheblich verlängern, was zu mehr Frustration und Enttäuschung seitens der Bürger führen werde. Zum Landesverfassungsgericht könnten zudem nur sehr erfahrene Richter entsandt werden – diese würden dann allerdings an den anderen Gerichten fehlen.
Elke Kagelmann sprach für den Städte- und Gemeindebund sowie den Landkreistag: Richtet sich eine Verfassungsbeschwerde gegen Handlungen oder Unterlassungen einer Kommune solle den kommunalen Spitzenverbänden im Verfahren Rederecht erteilt werden.
Die Einführung der Individualverfassungsbeschwerde sei seit Langem ein Anliegen der Rechtsanwaltskammer des Landes Sachsen-Anhalt, betonte deren Präsident Guido Kutscher. Vorstandsmitglied Dr. Michael Moeskes erklärte, die Kammer unterstütze nachdrücklich den Gesetzentwurf. Der Justizstandort Sachsen-Anhalt werde durch die Erweiterung gestärkt. Die Frist von zwei Monaten für die Eingabe und Begründung einer Verfassungsbeschwerde (nach Abschluss der letzten Instanz) sei sinnvoll, weil das Verfahren so ausreichend vorbereitet werden könne.
Der Landesverband des deutschen Anwaltvereins in Sachsen-Anhalt befürworte die Einführung einer Landesverfassungsbeschwerde, erklärte dessen Vorstandsvorsitzender Oliver Lentze. Die bisher geplante Frist von einem Monat für die Eingabe und Begründung der Beschwerde werde vom Verein kritisch betrachtet. Die Wahl mindestens eines Anwalts/einer Anwältin in die jeweiligen Kammern des Landesverfassungsgerichts sei wünschenswert. Für die gebührenfreie Verfassungsbeschwerde solle keine Anwaltspflicht bestehen, umfangreiches Informationsmaterial sollte den Beschwerdeführern aber zur Wahrung der Formalien zur Verfügung stehen.
Abschließend meldete sich Polizeidirektor a. D. Jan Schürmann zu Wort. Die Anerkennung des Verfassungsgerichts sei in der Bevölkerung sehr hoch, konstatierte Schürmann, obwohl bürgerliche Verfahren in den meisten Fällen erfolglos verliefen. Kostenvorschussregelegungen, Missbrauchsgebühr und Anwaltszwang könnten bei derlei Beschwerden als wirksame Filter wirken.
Wie es weitergeht
In den weiteren Beratungen des Ausschusses für Recht, Verfassung und Gleichstellung geht es nun darum, zum Gesetzentwurf der Landesregierung eine Beschlussempfehlung zu erarbeiten. Diese wird dann dem Landtag zur Abstimmung durch alle Abgeordneten vorgelegt.