Beim Live-Dolmetschen einer Landtagssitzung bleibt nicht immer genug Zeit, einzelne Begriffe zu erklären. Da geht es den Gehörlosen dann genauso wie vielen Hörenden, die verstehen auch nicht alles“, räumt Stefanie Sens freimütig ein. Gemeinsam mit sieben Kolleginnen arbeitet sie seit einem Jahr freiberuflich für den Landtag von Sachsen-Anhalt und dolmetscht Landtagssitzungen für Gehörlose.
Im Dezember 2015 startete der Landtag ein Pilotprojekt zur barrierefreien Übertragung der Landtagssitzungen im Internet, das mittlerweile standardmäßig angeboten wird. Das bedeutet: Der übliche Livestream der Plenarsitzung wird durch eine alternativ wählbare Übertragung mit Gebärdensprachdolmetschung ergänzt. Dazu wird jeweils eine der acht Dolmetscherinnen in den herkömmlichen Videostream eingeblendet, was die barrierefreie Übertragung ermöglicht.
Warum es immer noch ein Frauenberuf ist
Sie haben richtig gelesen, alles Frauen! Das ist kein Zufall, denn noch wird der Beruf überwiegend von Frauen ausgeübt und auch noch oft zu den sozialen Berufen gezählt, obwohl es eine Dolmetscherausbildung ist, erzählt die 33-Jährige. Vielleicht liege es daran, dass sie und ihre Kolleginnen außerhalb des Landtags ganz nah dran sind an den Menschen. „Wir begleiten sie bei vielen Gelegenheiten quasi von der Wiege bis zur Bahre.“ Genau dies mache den Beruf als Gebärdensprachdolmetscherin auch so unheimlich interessant – der Blick hinter die Kulissen, denn wer könne zum Beispiel schon einfach mal so bei einer Operation zuschauen?
Bevor es zum eigentlichen Dolmetschen im Landtag kommt, müssen sich Stefanie Sens und ihre Kolleginnen Monat für Monat gründlich auf die Landtagssitzungen vorbereiten. Sie liest sich daher intensiv in die Anträge, Beschlussempfehlungen und Gesetzentwürfe ein und beschäftigt sich inhaltlich mit den jeweiligen Tagesordnungspunkten. Außerdem sei es sinnvoll, Nachrichten zu schauen oder Zeitung zu lesen, um in puncto Landes- und Bundespolitik auf dem aktuellen Stand zu bleiben. Tauchen während der Vorbereitung unverständliche Worte und Sachverhalte auf, werden sie im Team besprochen oder recherchiert, erzählt Sens. Manchmal überlegen die Gebärdensprachdolmetscherinnen auch gemeinsam, wie ein Begriff gebärdet werden könnte.
Warum die Gebärdensprache viel bildhafter ist
Ganz aktuelle Beispiele für komplexe und damit schwierige Begriffe aus der Landespolitik seien zum Beispiel: „Parlamentarischer Untersuchungsausschuss“, „Haushaltsplan“ oder „Enquetekommission“. Grundsätzlich werde in der Gebärdensprache vieles bildhafter dargestellt, erklärt Sens weiter. So wird dann aus den Haushaltsberatungen mit ein paar flinken Handbewegungen, der passenden Mimik und Gestik in Sekundenschnelle eine kleine Bildergeschichte, aus der geht hervor: „Ein Minister gibt dem anderen Minister Geld und verteilt es…“
Um Gebärdensprache zu verstehen, sei es wichtig zu erkennen, dass vieles gleichzeitig abläuft, während beim Sprechen ein Wort an das andere gereiht wird und alles nacheinander abläuft. Demnach bestehe eine Gebärde aus einer Handform, einer Ausführung und einer Handstellung. Diese verschiedenen Komponenten ergeben dann ein bestimmtes Wort, eine Wortgruppe und haben letztlich eine Bedeutung. Ganz wichtig seien zudem auch Mimik und Gestik. Nur weil vieles parallel ablaufe, schaffe man es überhaupt, live zu gebärden, so die studierte Gebärdensprachdolmetscherin.
Die Redewendung: „Wie ich eben schon mal erwähnt habe…“ wird auf diese Weise zu einer für den Laien flüchtigen Handbewegung, ein Gebärdensprachnutzer weiß dagegen genau, worauf Bezug genommen wurde. „Man muss das Deutsche hören, im Kopf in Gebärdensprache umwandeln und dann produzieren“, versucht Sens den Prozess des Dolmetschens noch genauer zu beschreiben. Dabei seien manche Begriffe (Haus, Essen) einfach zu gebärden und auch für Nichtmuttersprachler zu verstehen.
Wie komplizierte Begriffe übersetzt werden
Schwieriger werde es dagegen mit abstrakten Begriffen wie „Politik“. Neben den komplexen Fachbegriffen sei es für sie und ihre Kolleginnen auch herausfordernd, dem Zuschauer die verschiedenen Stimmungen einer Rede wiederzugeben. Spricht ein Landtagsabgeordneter eher bedächtig, mahnend, wütend oder schimpft er? Macht er einen Witz oder ist völlig genervt? Auch dies muss eine Dolmetscherin berücksichtigen und es sollte sich in ihrer Mimik und Gestik widerspiegeln. Gleichzeitig müssen natürlich auch Gebärdensprachdolmetscher absolut neutral bleiben, betont Stefanie Sens.
Warum einzelne Gebärden entstanden sind, könne nicht immer genau erklärt werden, denn auch die „Gebärdensprache ist natürlich gewachsen“. Grundsätzlich sei es eine Sprache, die sich stark entwickle. Durch die gesetzlichen Vorgaben zur Barrierefreiheit hätten Gehörlose in den vergangenen Jahren einen viel besseren Zugang zur Welt der Hörenden bekommen, wodurch viele neue Gebärden entstanden seien. Darüber hinaus hätten die neuen Medien wie Facebook und You-Tube oder Smartphones für einen großen Entwicklungsschub in der Gebärdensprache gesorgt – allein durch die Möglichkeiten der Videotelefonie.
Und auch beim Austausch untereinander und dem Entstehen neuer Gebärden spielten die Sozialen Netzwerke eine große Rolle. So hätten Muttersprachler in den USA die offizielle Gebärde für den neuen US-Präsidenten Donald Trump erstmals im Internet vorgestellt. So viel sei verraten, sie hat mit seiner Frisur zu tun. Stefanie Sens betont, dass sich die Dolmetscher ungern in solche Gebärdenfindungsprozesse einmischen. „Die Muttersprachler entscheiden und wir nutzen dann die Gebärde, die festgelegt wurde oder sich etabliert hat.“
Warum Gebärdensprache nicht international ist
Übrigens, Gebärdensprache ist keine internationale Sprache, sondern jedes Land hat seine eigene Gebärdensprache. Zwar habe es mal Bestrebungen nach einer internationalen Gebärdensprache – ähnlich wie Esperanto – gegeben, die habe sich allerdings nicht flächendeckend durchgesetzt, sondern werde bisher nur auf internationalen Kongressen genutzt, sagt Sens. Das hänge auch damit zusammen, dass es zu jeder Gebärde ein eigenes Mundbild oder eine eigene Mundgestik gebe. Diese sehe in der deutschen Gebärdensprache anders aus als beispielsweise in der französischen. Ebenso sei es mit der Grammatik, denn auch die gibt es in der Gebärdensprache.
Aber zurück zur Namensgebung: Es sei keine Seltenheit, dass Gebärdennamen für Personen nach ihren optischen Eigenschaften vergeben werden. So gebe es bei Bundeskanzlerin Angela Merkel entweder die Charakterisierung über ihre Bob-Frisur oder die Mundwinkel – auch wenn das nicht ganz politisch korrekt sei, räumt Sens ein. Man orientiere sich entweder an optischen Auffälligkeiten oder versuche den Namen bildlich darzustellen, beim Abgeordneten Jürgen Barth ist das dann logischerweise – ein Bart. Für Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch haben die Gebärdensprachdolmetscher noch keine Gebärde gefunden. In solchen Fällen gebe es jedoch immer die Möglichkeiten den Namen zu buchstabieren.
Was ein Gebärdensprachdolmetscher braucht
Wer wie Stefanie Sens Gebärdensprachdolmetscher werden möchte, der sollte Sprachbegeisterung mitbringen und „Mimik und Gestik einsetzen können, ohne Angst zu haben, dass es vielleicht doof aussieht.“ Außerdem sei es wichtig, viel- seitig interessiert, begeisterungsfähig und in der Lage zu sein, sich in kürzester Zeit in unterschiedlichste Themengebiete einzuarbeiten – auch wenn man vorher noch nie etwas davon gehört habe.
Seitdem sie für den Landtag dolmetscht, schaut sie sich selbst regelmäßig zu Hause die Landtagssitzungen im Livestream an, „weil es einfach spannend ist, an der Landespolitik teilhaben zu können und weil man die Zusammenhänge jetzt ein bisschen besser versteht“. Trotzdem gibt sie zu, dass es manchmal wirklich schwierig ist, zu verstehen, worum es eigentlich geht. „Ich denke, nicht nur uns Dolmetschern, sondern auch den Bürgern würde es manchmal helfen, wenn sich die Abgeordneten ein bisschen einfacher ausdrücken würden.“