Solange „Wählen gehen“ als Pflicht betrachtet wird und keinen Spaß machen darf, werde die Wahlbeteiligung in Sachsen-Anhalt weiter sinken, prognostizierte Dr. Christian Rademacher anlässlich der Podiumsdiskussion „Von der Demo zur Demokratie – 25 Jahre nach den ersten freien Kommunalwahlen in der DDR“. Auch Werbekampagnen würden nichts bringen, um Bürger zum Wählen zu animieren. Stattdessen schlug Rademacher vor, „Wahl-Lokale“ wörtlich zu verstehen und in ihrer unmittelbaren Umgebung vielleicht Kaffee und Kuchen auszuschenken. Auch ein Volksfest im Zusammenhang mit demokratischen Wahlen sei für ihn vorstellbar, so würden Wahlen zu echten „Festen der Demokratie“.
Anlässlich des 25. Jahrestags der ersten freien Kommunalwahlen in der DDR hatte der Landtag in Kooperation mit dem Landkreistag und dem Städte- und Gemeindebund Sachsen-Anhalt zu einer Podiumsdiskussion über die Zukunft der Kommunen und Landkreise eingeladen. Als Veranstaltungsort diente nicht zufällig die Hochschule Harz, Campus Halberstadt, schließlich werden hier die „Verwaltungsmitarbeiter von morgen“ ausgebildet.
Dass diese in Zukunft vor allem mit den leeren Kassen der Kommunen und Landkreise zurechtkommen müssen, wurde jedem Teilnehmer der Diskussionsrunde schnell klar. Nach Ansicht von Anette Sprung-Scheffler, Dozentin für Verwaltungswissenschaften an der Hochschule Harz, könne man allerdings auch mit wenig Geld, eine Menge gestalten. Die jungen Absolventen auf den „Spagat zwischen Kreativität und Geldnot“ vorzubereiten, sei eine Aufgabe der Hochschule.
Kommunale Handlungsspielräume enorm eingeschränkt
Dr. Rademacher erinnerte dagegen daran, dass die Schulden- und Finanzkrise in vielen Kommunen zu einer enormen Einschränkung kommunalpolitischer Handlungsspielräume führt. Er verwies auf Art. 28, Abs.2 des Grundgesetzes, der innerhalb der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung auch die Gewährleistung ihrer finanziellen Grundlagen umfasse. Außerdem sei das Konnexitätsprinzip in Art. 104a der Verfassung verankert. Dieses besage mit einfachen Worten: Wer etwas bestellt, muss es auch bezahlen! Dieser Argumentation schlossen sich Michael Ziche, Präsident des Landkreistages und Heiko Liebenehm vom Städte- und Gemeindebund an.
Der Vorsitzende des Innenausschusses im Landtag, Dr. Ronald Brachmann sagte, dass bei der Diskussion um die leeren Kassen nicht die Ursachen vergessen werden dürften: Geringe Wirtschaftskraft, fehlende Steuereinnahmen, sinkende Bevölkerungszahlen. Um dem entgegenzuwirken, müssten den Kommunen mehr finanzielle Hilfen bereitgestellt werden, damit sie handlungsfähig blieben, so Brachmann.
In gerade dieser fehlenden Handlungsfähigkeit vieler Kommunen sah Michael Ziche einen wichtigen Grund für die sinkende Wahlbeteiligung. Die Bürger würden spüren, dass die Akteure auf kommunaler Ebene immer stärker eingeengt würden und stellten sich die Frage, was Bürgermeister und Landräte überhaupt noch leisten und bewegen könnten. Denn nur über vier Prozent der Haushaltsmittel könnten die Kommunen wirklich frei entscheiden, betonte Ziche. Im Hinblick auf die Diskussion über das Finanzausgleichsgesetz plädierte er dafür, den Kommunen mehr Verantwortung und größeren finanziellen Spielraum zu übertragen.
Wählen bald per Mausklick von zu Hause?
Der zukünftige Oberbürgermeister der Stadt Quedlinburg Frank Ruch war als einer von zahlreichen Gästen bei der Podiumsdiskussion und konstatierte, solange die finanzielle Ausstattung der Kommunen nicht gelinge, werde sich auch die Wahlbeteiligung nicht verbessern. Dr. Brachmann verwies darauf, dass man vielleicht darüber nachdenken müsste, „digitale Möglichkeiten zu schaffen“, um das „Wählen gehen“ zu erleichtern. In Estland und Südkorea werde dies bereits praktiziert, sei jedoch nicht automatisch von dauerhaftem Erfolg gekrönt, erklärt Sozialwissenschaftler Rademacher.
Definitiv keinen Erfolg bei der Erhöhung der Wahlbeteiligung habe eine weitere Absenkung der Altersgrenze beim Kommunalwahlrecht, so Rademacher. Statistiken bewiesen, das Gegenteil sei der Fall: „Die propagierte demokratisierende Wirkung ist mehr als zweifelhaft und der entwicklungspsychologische Effekt desaströs.“ Junge Menschen würden nicht frühzeitig an demokratische Wahlen herangeführt, sondern lernten stattdessen, dass es keinerlei Konsequenzen habe, nicht zur Wahl zu gehen. Der parlamentarische Geschäftführer der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Landtag Sebastian Striegel widersprach dieser Einschätzung vehement. Es gehe bei der Absenkung des Wahlalters nicht vordergründig um die Erhöhung der Wahlbeteiligung; vielmehr sei es Ziel, Jugendliche frühzeitig an der demokratischen Willensbildung zu beteiligen und ihre Meinungen mit aufzunehmen.
Ehrenamtliches Engagement weiter fördern
Für bedenklich hält der Rademacher auch die sinkende Bereitschaft der Bürger, sich zivilgesellschaftlich oder politisch zu engagieren. Aus einer Umfrage des ZSH unter etwa 3 000 Bürgerinnen und Bürgern in Sachsen-Anhalt geht hervor, dass sich 42 Prozent in den letzten zwölf Monaten ehrenamtlich engagiert haben, im politischen Bereich waren es jedoch nur 12,4 Prozent. Als regelmäßig politisch aktiv (Engagement im letzten Monat) bekannten sich dagegen lediglich 5,5 Prozent.
Dem widersprachen die Kommunalpolitiker auf dem Podium, die in der Praxis recht zufrieden mit dem bürgerschaftlichen Engagement sind. Heiko Liebenehm vom Städte- und Gemeindebund sagte, natürlich werde man zukünftig noch stärker auf ehrenamtliches Engagement angewiesen sein, da die finanziellen Ressourcen immer knapper würden. Allerdings müssten auch die Rahmenbedingungen für ehrenamtliches Engagement stimmen. So sei es beispielsweise unverständlich, warum ehrenamtlich tätige Bürgermeister für ihre Aufwandsentschädigung Sozialversicherungsbeiträge zahlen müssten. Seit vielen Jahren sei das Problem bekannt, trotzdem hätte sich noch nichts getan, so Liebenehm.
Angst vor Fehlern bremst Entwicklung
„Wer wählen geht, übernimmt Verantwortung für das Gemeinwohl“ – dies müsste zukünftig noch stärker herausgearbeitet werden, erklärte Landtagspräsident Detlef Gürth. Daneben sah auch er die Frage der Konnexität als Schlüssel für die zukünftige Bewältigung der kommunalen Aufgaben. Die Parlamente müssten sich fragen, in welchen Bereichen dürften tatsächlich noch Standards erhöht werden und wo könnten sie eventuell gesenkt werden, damit es noch finanzierbar bleibt.
Außerdem kritisierte Gürth die geringe Fehlertoleranz in der Gesellschaft. Niemand sei perfekt auch die Politiker und Verwaltungsmitarbeiter in den Ländern, Landkreisen und Ratsstuben nicht. Anfang der 1990er Jahre hätten die Menschen einfach die Ärmel hochgekrempelt, losgelegt und versucht, während des Prozesses jedes Mal ein bisschen besser zu werden. „Heute werden, bevor es überhaupt losgeht, so viele Vermerke geschrieben, um auch jeden denkbaren Fehler von vornherein auszuschließen, das macht alles langwieriger und teurer.“