Zu Beginn der 2. Wahlperiode des Landtags von Sachsen-Anhalt gründete eine Reihe von Parlamentariern des ersten Landtags 1995 die „Vereinigung ehemaliger Abgeordneter des Landtages von Sachsen-Anhalt e.V.“. Zielsetzung dieses Zusammenschlusses ist es, die Erfahrungen ehemaliger Landtagsabgeordneter auch nach der Zeit ihrer aktiven Parlamentsarbeit für die Stärkung der parlamentarischen Demokratie in Sachsen-Anhalt einzusetzen.
In diesen Tagen feiert die Vereinigung ihr 20-jähriges Bestehen. Am Donnerstag, 3. September, wurde das Jubiläum bei einem Festakt im Plenarsaal des Landtags von Sachsen-Anhalt begangen. Begrüßt wurden auch Vertreterinnen und Vertreter von Ehemaligenvereinigungen anderer Parlamente. Festredner waren der frühere sachsen-anhaltische Landtagsabgeordnete Prof. Dr. Konrad Breitenborn und Prof. Dr. Klaus Töpfer, Anfang der 1990er Jahre Bundesumweltminister. Das Ensemble KONbarock des Konservatoriums „Georg Philipp Telemann“ aus Magdeburg umrahmte die Veranstaltung musikalisch.
„Macher“ beiderseits der früheren Grenze
Landtagspräsident Detlef Gürth hieß die parlamentarischen Gäste vergangener und heutiger Tage im Hause willkommen – im, so Gürth, „wichtigsten Saal des Landes“. Die Abgeordneten der mittlerweile fünf abgeschlossenen Wahlperioden hätten die Entwicklung des Landes und somit auch Deutschlands mitgestaltet, sie hätten gezeigt, wie wichtig es sei, sich einerseits wählen zu lassen und andererseits die Interessen aller abzuwägen und dann Entscheidungen zu treffen. „Bringen Sie sich noch weiter ein, wir brauchen Sie“, ermunterte der Landtagspräsident die Jubiläumsgäste, die gemäß ihrer Vereinsordnung genau dieses Ziel vor Augen haben. Ulrich Seidel, Vorsitzender der Ehemaligenvereinigung, blickte auf das Jahr 1990 als „ein Jahr voller historischer Ereignisse“ zurück. Es habe „Macher“ beiderseits der früheren Ost-West-Grenze bedurft, um die Entwicklung der neuen Länder zu gestalten. Mit den beiden Festrednern habe man für die Jubiläumsveranstaltung solche Macher gewinnen können, die hätten einen „prägenden Eindruck in Sachsen-Anhalt“ hinterlassen.
Wahlbeteiligung muss wieder stärker werden
Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff betonte in seinem Grußwort, dass die ehemaligen Abgeordneten mit ihrem Wissen und ihren Erinnerungen das lebendige Gedächtnis des Parlamentarismus im Land seien. Er machte darauf aufmerksam, dass die Wahlbeteiligung immens höher ausfalle, wenn es um historisch bedeutsame Prozesse gehe – beispielsweise bei der ersten freien Wahl zur Volkskammer mit einer Beteiligung von 92 Prozent oder der Wahl zum ersten gemeinsamen Bundestag, bei der die Beteiligung immerhin noch bei 78 Prozent gelegen habe. Bis heute sei die Wahlbeteiligung kontinuierlich gesunken, auch in Sachsen-Anhalt, dabei gehe es aber bei jeder neuen Wahl um die Zukunft des Landes.
Ein Hauch von Geschichte
Seine letzte Rede im Landtag hielt der damalige FDP-Abgeordnete Konrad Breitenborn am 4. Mai 1994. Mehr als 25 Jahre später stand er nun noch einmal am Rednerpult eines Plenarsaals und erinnerte an die erste Sitzung des Parlaments am 28. Oktober 1990, die seinerzeit im Kultursaal der Johann-Philipp-Becker-Kaserne in Dessau stattfand. Ein Hauch von Geschichte sei durch den Saal geweht, als der Ministerpräsident (Gerd Gies) gewählt und die Hauptstadtfrage (57:49 Stimmen für Magdeburg statt Halle) entschieden worden waren. Wenig feierlich sei es dennoch gewesen, nicht einmal das antizipierte Musikstück zum Beginn der Sitzung habe es gegeben, an deren Ende lediglich das Singen der Nationalhymne. „Kaum einer wusste, was mit seinem Mandat zusammenhing“, erklärte Breitenborn, denn alle seien doch keine „gelernten Politiker“ gewesen, wie es der einstige Bauminister Karl-Heinz Daehre einmal so treffend formuliert habe. „Wir waren eine bunte politische Gemeinschaft in Aufbruchsstimmung – Ingenieure, Ärzte, Theologen, Naturwissenschaftler, Lehrer und viele andere Berufe kamen zusammen“, erinnerte sich der Historiker Breitenborn.
Festrede von Konrad Breitenborn
Die Politik-Infrastruktur habe erst nach der Bestimmung Magdeburgs als Landeshauptstadt in Angriff genommen werden können. Das Parlamentsgebäude – die frühere Ingenieursschule für Wasserwirtschaft am Domplatz der Landeshauptstadt – wurde in der Folgezeit ausgebaut, die Telekom sorgte landesweit für Hunderttausende Telefonanschlüsse, die 1990 noch „Mangelware“ waren. Nach den ersten sechs Sitzungen des neuen Parlaments in der Dessauer Kaserne zogen die Abgeordneten im Januar 1991 in den Magdeburger Plenarsaal um. In den 62 Sitzungen der 1. Wahlperiode wurden „Gesetze am laufenden Band“ verabschiedet, exakt 200, rekapitulierte Breitenborn – von Gesetzen zur Umwelt und Chemie über die Hochschulen bis hin zu Treuhand und Spielbanken. Auch die neue Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt sei verabschiedet worden.
Die Bundesländer vermitteln Identitäten
„Wir haben viel zusammen gedacht und getan“, erinnerte sich Klaus Töpfer an die Aufbruchsjahre Anfang der 1990er. Es seien Erinnerungen an Menschen und Aufgaben, die ihn an diese Zeit denken ließen und die ihn gelehrt habe, nie davon auszugehen, dass etwas nicht möglich sei. Mit den Kontakten vor Ort – beispielsweise bei seinen Besuchen im Chemiekombinat Bitterfeld – habe er gelernt, was es hieß, dort zu leben und zu arbeiten, wie stark die Identität der Menschen mit ihrem Flecken Erde verbunden war und wie katastrophal sich die Neuordnung des Standortes auf das Leben der Menschen ausgewirkt habe. „Jedes Bundesland ist ganz wichtig, weil es Identitäten vermittelt“, so Töpfer, der sich deutlich gegen eine Länderneugliederung aussprach, wie sie dann und wann im Sinne der Kostenreduzierung diskutiert wird. Ein großes Plus sei 1990 gewesen, dass die neuen Bundesländer die Idee des föderalen Staates als ganz selbstverständlich aufgegriffen und auf diesem Wege Entscheidungen vor Ort möglich gemacht hätten.
Festrede von Klaus Töpfer
Aufgabe der Politik müsse es sein, Alternativen zu entwickeln und diese gegeneinander abzuwägen und dann Entscheidungen zu treffen. In der Landeshymne, die 1991 für Sachsen-Anhalt geschrieben worden war, sei von „einer guten Heimat ohne Zaun“ die Rede. Zwar sei die Hymne heute quasi der Vergessenheit anheimgegeben, aber sie transportiert doch diesen perspektivischen Halbsatz, der gerade heute wieder an enormer Bedeutung gewonnen habe. Heimat ohne Zaun bedeute allerdings nicht nur Mobilität in eine Richtung, denn es sei nicht verwunderlich, dass sich Menschen auf den Weg machten, um sich eine sichere Zukunft zu schaffen. Mit der Erinnerung an das Ende der 1980er Jahre und den Beginn der 1990er Jahre, mit der Erinnerung an Aufbruch und Sicherheit müsse die Zukunft – für alle Menschen – bedacht werden.