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Plenarsitzung

1990: Die erste freie Volkskammerwahl

Vor 25 Jahren wählten in den Bezirken Halle und Magdeburg, dem heutigen Sachsen-Anhalt, über 93 Prozent der 2,3 Millionen Wahlberechtigten die 10. Volkskammer der DDR und gaben damit ein klares Votum für die deutsche Einheit ab. Die Wahl zur 10. und letzten Volkskammer am 18. März 1990 war für die DDR-Bevölkerung ein Meilenstein auf ihrem Weg vom Wendeherbst 1989 bis zur deutschen Vereinigung.

Nie wieder folgten so viele Menschen dem Wahlaufruf zu einer demokratischen Wahl. 93,4 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimmen ab und bestimmten 400 Frauen und Männer, die in den folgenden Monaten in einem unvorstellbar aufwändigen und zugleich zutiefst demokratischen Akt die Auflösung eines Staates vollzogen. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990, auf der Grundlage des Beschlusses der Volkskammer vom 23. August 1990, löste sich das erste frei gewählte Parlament der DDR nach nur sechs Monaten wieder auf.

Überraschendes Wahlergebnis zur Volkskammerwahl

So haben die DDR Bürger am 18. März 1990 gewählt. Grafik: IDEENGUT OHG

Das Wahlergebnis war eine echte Überraschung. In Umfragen hatte die neu gegründete und von der DDR-Vergangenheit unbelastete SPD vorne gelegen. Doch entgegen aller Vorhersagen votierten 48 Prozent der Wähler für die „Allianz für Deutschland“, bestehend aus der Ost-CDU, dem Demokratischen Aufbruch (DA) und der Deutschen Sozialen Union (DSU). Das Wahlbündnis war erst am 5. Februar 1990 gegründet worden und unter dem Motto „Freiheit und Wohlstand – Nie wieder Sozialismus“ zur Wahl angetreten. Die SPD wurde nur zweitstärkste Kraft mit 21,9 Prozent. Die zur PDS umbenannte SED übernahm mit 16,4 Prozent die Rolle der größten Oppositionspartei.

Gürth und Fikentscher erinnern sich

Der heutige Landtagspräsident Detlef Gürth (CDU) und der ehemalige langjährige SPD-Landtagsabgeordnete Dr. Rüdiger Fikentscher gehörten zu den 76 frei gewählten Volkskammerabgeordneten aus den Bezirken Halle und Magdeburg. Während Gürth mit seinem Platz 15 auf der CDU-Liste im Bezirk Halle kaum mit einem Wahlerfolg gerechnet hatte („Da kommst du nie rein“, habe er damals gedacht.), war für Fikentscher der Wahlausgang eine riesengroße Enttäuschung.

Ein Mann der ersten Stunde: Dr. Rüdiger Fikentscher war von 1990 bis 2002 SPD-Landesvorsitzender in Sachsen-Anhalt. Foto: Werner Klapper

 

Der SPD-Spitzenkandidat für den Bezirk Halle erlebte die Stimmenauszählung am Wahlabend im eigentlich „roten“ Mansfelder Land und wollte gar nicht glauben, dass es lediglich 20 Prozent würden. „Auf der Rückfahrt nach Halle, wo im Volkspark eine große Wahlparty angedacht war, hörten wir schon, dass es DDR-weit nicht viel besser aussieht“, erinnert sich der heute 74-Jährige. „Als Bezirksvorsitzender musste ich dann im Volkspark auf die Bühne und versuchte, meine Genossen zu trösten, indem ich sagte, dass es andere noch härter getroffen hätte.“

Damit meinte Fikentscher die Bürgerrechtler aus dem Wendeherbst. „Neues Forum“, „Demokratie jetzt“ sowie die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ hatten sich noch im Februar 1990 zum „Bündnis 90“ zusammengeschlossen. Sie kamen jedoch völlig unerwartet auf nur 2,9 Prozent der abgegebenen Stimmen. Da es keine Sperrklausel gab, konnte das „Bündnis 90“ insgesamt wenigstens zwölf Abgeordnete entsenden, darunter je einen aus den Bezirken Halle und Magdeburg.

Wiedervereinigung wurde zur entscheidenden Frage

Die Stimmung in der DDR vor der Volkskammerwahl wurde beherrscht von dem Gedanken der deutschen Einheit. Nicht ob, sondern wann erfolgt die Vereinigung? Das war die alles entscheidende Frage, die den Wahlkampf bestimmte. „In dieser Situation hatte Kanzler Helmut Kohl die geniale Idee und schmiedete die 'Allianz für Deutschland'“, sagt Fikentscher rückblickend.

Allein der Name sei Programm gewesen. „Wir Sozialdemokraten waren auch für die Einheit, aber wir wollten darüber diskutieren, nachdenken, alle Möglichkeiten bedenken, wollten eine Übergangszeit.“ Dieses nach außen hin zögerliche Verhalten habe die SPD den Wahlsieg gekostet. „Die Leute dachten, wir wollten die Einheit nicht.“ Kohl dagegen habe „blühende Landschaften“, die sofortige Einführung der D-Mark, Privateigentum und uneingeschränkte Gewerbefreiheit und vieles andere auf zahlreichen Großveranstaltungen mit Hunderttausenden Teilnehmern versprochen.

Gürth: „Wahlkampf nötigte uns alles ab“

Der relativ kurze Wahlkampf von sieben Wochen, die Wahl war vom ursprünglichen Termin 6. Mai wegen der schlechten wirtschaftlichen und politischen Lage auf den 18. März vorgezogen wurden, ist auch Gürth in bester Erinnerung. Der damals 28-jährige Lehrfacharbeiter hatte im Frühjahr 1989 eine Stelle in der CDU-Geschäftsstelle Aschersleben angetreten und hielt seine ersten öffentlichen Reden „mit schlotternden Knien“ auf Treffen der Bürgerrechtler im Herbst in der Stephanikirche. „Damals habe ich die Leute aufgefordert, hier zu bleiben und für Veränderungen zu sorgen.“

Landtagspräsident Detlef Gürth war Mitglied der ersten freigewählten Volkskammer und ist seit Oktober 1990 Mitglied im Landtag von Sachsen-Anhalt. Foto: Stefan Müller

Nur wenige Wochen später eine ganz andere Situation. „Der Wahlkampf erfasste uns und nötigte uns alles ab.“ Größte Unterstützung habe es von der CDU aus Peine und Pforzheim gegeben. „Wir erhielten Büroartikel, Wahlplakate, Broschüren, Kugelschreiber und haben alles verteilt, wo CDU draufstand“, so Gürth heute. Der Lohn: Die CDU erhielt in Aschersleben 50,2 Prozent.

Prominente Politiker gaben sich Klinke in die Hand

Der Wahlkampf war von zahlreichen Auftritten westdeutscher Politiker begleitet. Helmut Kohl (CDU), Willy Brandt und Oskar Lafontaine (beide SPD) sowie Hans-Dietrich Genscher gaben sich die Klinken in die Hand und gewannen zunehmend Einfluss. Insgesamt wurden 7,5 Millionen DM für den Wahlkampf in der DDR eingesetzt. Über die Hälfte davon stammte von der CDU/CSU, die 4,5 Millionen für den Wahlkampf der Schwesterpartei zur Verfügung stellte.

Wahlentscheidend war letztlich der Wunsch der Bevölkerung nach einer schnellen wirtschaftlichen und politischen Wiedervereinigung. Die Zusammensetzung der Volkskammer trug entscheidend zur Beschleunigung des Einigungsprozesses bei. „Trotz des Wahlausganges für die SPD war ich glücklich, einem frei gewählten Parlament angehören zu dürfen“, so Fikentscher. Es seien „ungeheure Aufgaben“ gewesen, die die Abgeordneten bewältigen mussten.

Während Fikentscher im Bildungsausschuss mitarbeitete, engagierte sich Gürth im Auswärtigen Ausschuss und im Ausschuss Deutsche Einheit. Gemeinsam beschlossen sie mit die letzte Kommunalverfassung der DDR, das Verfassungsgrundsätzegesetz, den Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und den Einigungsvertrag. 144 der 400 Volkskammerabgeordneten wurden vom 3. Oktober bis zum 2. Dezember 1990 Bundestagsabgeordnete. Detlef Gürth und Rüdiger Fikentscher wurden am 14. Oktober 1990 in den ersten Landtag von Sachsen-Anhalt gewählt.

Autor: Wolfgang Schulz