Wenn vom Fall der Mauer vor 25 Jahren gesprochen wird, verbinden die meisten Menschen damit das Bild der Mauer, die einst Berlin trennte. Jedoch fiel 1989 nicht nur eine Mauer, sondern der Eiserne Vorhang – quer durch Deutschland. Was geschah auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt?
Gleich an drei Stellen tauchten am 24. August 1989 in Coswig im Bezirk Halle Flugblätter auf. „Viele Jahre haben wir Euch geholfen. Ihr habt uns verkauft. Jetzt können wir Euch nicht mehr halten. Erich und Kumpane, dankt ab!“, hieß es auf dem einen. „Hunderte jede Nacht, Erich, wann wirst Du endlich wach?“ und „Ungarn, Polen und SU Reformen, Erich, was sagst Du dazu?“ auf den anderen beiden (mit Erich ist SED-Generalsekretär Erich Honecker gemeint gewesen, d. A.). Stasi und Polizei gerieten in helle Aufregung und meldeten den Fund der „Hetzschriften“ nach Berlin. „Täterhinweise liegen nicht vor“, mussten sie eingestehen, dabei hätten sie wissen müssen, dass eine große Mehrheit der DDR-Bevölkerung nicht hinter der „Führung von Partei und Regierung“ stand und immer offener für demokratische Reformen eintrat.
Undichte Dächer und fehlende Beatmungsgeräte
Die politische und wirtschaftliche Lage in allen Bezirken der DDR hatte sich 1988/89 zugespitzt. Die „sozialistische Planwirtschaft“ war längst an ihre Grenzen gestoßen. Überall herrschte Mangel. 34 Betriebe im Bezirk Magdeburg konnten im Januar 1988 keine Jahresendprämien zahlen, da sie die notwendigen Finanzmittel nicht erwirtschaftet hatten. Im größten Kaufhaus des Bezirkes, im CENTRUM-Warenhaus Magdeburg, gab es bei Damen- und Herrenoberbekleidung sowie bei Waren des täglichen Bedarfs große Sortimentslücken.
Verheerend auch die Lage auf dem Wohnungssektor. Neben dem fehlenden Wohnraum wurde wie in vielen Teilen der Wirtschaft der Mangel an Material beklagt. Verschlissene Badewannen, kaputte WC-Becken und defekte Spülkästen konnten in Magdeburg in zahlreichen kommunalen Wohnungen nicht ausgetauscht werden, weil es einfach keine Ersatzteile gab.
Dächer waren zuhauf undicht, und Busse mussten stillgelegt werden, weil Teile fehlten. Selbst im Gesundheitswesen, jahrelang Vorzeigebereich der SED, häuften sich die Mängellisten. Es fehlten zum Beispiel in der Kinder- und Frauenklinik der Medizinischen Akademie Magdeburg Inkubatoren, Wärmebetten und Beatmungsgeräte. Eine Folge: Die Säuglingssterblichkeit stieg rapide an. Der Bezirk Magdeburg lag mit zehn pro tausend Geburten im Bezirksvergleich an letzter Stelle, der DDR-Durchschnitt betrug 8,7.
Mehr als 10 000 Menschen stellten Ausreiseanträge
Die Aufzählung könnte aus allen Bereichen des Lebens fortgesetzt werden. Überall mehrte sich besonders ab 1988 die Unzufriedenheit der Bürger. Wurde in den Jahren zuvor meist hinter vorgehaltener Hand aus Angst vor der Geheimpolizei über die Unzulänglichkeiten des Systems geschimpft, kam es nun immer häufiger zu offenen Protesten. SED und Staat reagierten mit verstärktem Druck auf die Opposition, die sich mehr und mehr zu formieren begann. Die Wahlfälschung bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 brachte das Fass schon fast zum Überlaufen. 3 500 Bürger stellten danach allein im Bezirk Magdeburg Ausreiseanträge. Im Bezirk Halle war die Zahl der Ausreiseanträge schon 1988 auf 7 500 gestiegen.
Alle Reformversuche scheiterten am Starrsinn der SED-Funktionäre. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit bis zum endgültigen Zusammenbruch des sozialistischen Partei- und Staatssystems in der DDR.In den Bezirken Magdeburg und Halle, dem heutigen Sachsen-Anhalt, waren wie in anderen Teilen der DDR die Kirchen der wichtigste Anlaufpunkt für die oppositionellen Gruppierungen. Sie waren zugleich Gastgeber für Veranstaltungen der neuen Bewegung als auch aktive Mitgestalter des Umbruchs. In Halle beispielsweise fand das erste der späteren regelmäßigen „Nachtgebete“ bereits am 29. Januar 1988 in der Christusgemeinde als Reaktion auf die Ereignisse um die Liebknecht-Luxemburg-Demonstration kurz zuvor in Berlin statt.
Tausende Magdeburger versammelten sich im Dom
Während der „Nachtgebete“ wurden Probleme der Friedens-, Menschen- und Bürgerrechtsbewegung sowie der Ausreiseproblematik besprochen. In Magdeburg fanden Ausreisewillige und Andersdenkende Schutz und Unterkunft vor allem im evangelischen Dom. Im August 1988 beklagten staatliche Stellen, dass sich die regelmäßigen Friedensgebete mit Domprediger Giselher Quast zunehmend gegen die Politik des Staates wenden würden. Ein gutes Jahr später, im Wendeherbst 1989, gingen den Demonstrationen Tausender Magdeburger die Montagsgebete für gesellschaftliche Erneuerung im Dom voraus.
Der Herbst 1989 war kein Zufall, sondern das logische Ende eines Systems, das keine andere Meinung zuließ. Mehr als zwei Millionen Menschen sind vor 25 Jahren für die friedliche Revolution auf die Straßen gegangen. Sie brachten damit nicht nur die unsägliche innerdeutsche Grenze zum Einsturz, sondern ebneten zugleich den Weg zur deutschen Einheit. Im März 1990 war eines der bedeutendsten Ziele erreicht: freie und geheime Wahlen. „Der Mauerfall ist das wichtigste Ereignis unserer jüngsten deutschen Geschichte, und die Erinnerungen daran müssen für die nachfolgenden Generationen gewahrt werden“, sagte der Vorstandsvorsitzende der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Rainer Eppelmann, Anfang September vor Landtagsabgeordneten in Magdeburg.