Als Landesbeauftragter von Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur kümmert sich Johannes Beleites mit seinem Team und die Bewältigung vor allem des traurigen Erbes der DDR. Im Interview zieht er Bilanz zu den Veränderungen im Sommer und Herbst 1989.
Im Sommer 1989 haben Sie in Leipzig Ihr Abitur abgelegt, welche Erinnerungen haben Sie an die damalige Stimmung?
Persönlich war es ein bescheidenes Glück: Nach vier vergeblichen Anläufen und politisch bedingter Nichtzulassung zum Abitur hatte ich es jetzt endlich erreicht – mit vier Jahren Verspätung. Doch gleichzeitig wurde mir der Zugang zum Jurastudium verweigert. Aus damaliger Perspektive war es eine bleierne Zeit. Niemand wusste ja, welch ungeheure Veränderungen uns unmittelbar bevorstanden. Dennoch war es eine Hochzeit der politischen Witze, die Zeitungen überboten sich unfreiwillig mit Realsatire. Man hätte ahnen können, dass das so nicht endlos weitergehen konnte. Und viele fuhren nach Ungarn – und redeten vorher mit niemandem darüber.
Was war im Sommer 1989 anders als in den Sommern 1987 oder 1988? Was brachte das Fass zum Überlaufen?
Das mit dem Fass muss man ja umgekehrt betrachten. Der Tropfen in Form oppositioneller oder bürgerrechtlicher Gruppen war schon lange drin. Aber plötzlich kam ein großer Schwall hinzu: Die Ausreiseantragsteller. Sie hatten nichts mehr zu verlieren, ihnen waren Neubauwohnung, Farbfernseher oder Trabi-Bestellung egal, sie waren sogar bereit, den Jobverlust, soziale Ausgrenzung und schlimmstenfalls sogar Verhaftung und Gefängnis zu riskieren und gingen mit den Oppositionsgruppen auf die Straße und stellten die bisher fehlende kritische Masse.
Und die tatsächliche Situation hatte sich ja spürbar verschlechtert: Während Gorbatschow in der Sowjetunion Liberalisierung praktizierte, verboten die SED-Betonköpfe die sowjetische Zeitschrift Sputnik, praktizierten offene Wahlfälschung bei den letzten realsozialistischen Kommunalwahlen und jubelten gar dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking zu.
Johannes Beleites im Video-Interview
Als Montagsdemo-Hotspot ist vor allem Leipzig im kollektiven Gedächtnis. Große Kundgebungen gab es auch in Magdeburg. Doch wie sah es im restlichen Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalts aus, gab es auch kleine Proteste in Städten und Dörfern?
Natürlich wurde fast überall demonstriert. Die Leute fuhren montags nach Leipzig und probierten es anschließend an ihren Wohnorten aus. Und fast überall gab es im Oktober 1989 echte Bedrohungssituationen. In Leipzig war es der 9. Oktober, der letztlich friedlich ausging und den eigentlichen Sieg der Friedlichen Revolution markiert; in Halle und in Magdeburg war am 9. Oktober alles noch sehr angespannt. Im Oktober und November fanden Friedensgebete und Demonstration auch in Dessau, Naumburg, Halberstadt, Wolfen, Wittenberg, Stendal, Genthin, Salzwedel, Zeitz und an vielen anderen Orten statt. In Quedlinburg ist man heute noch stolz darauf, dass bezogen auf die Einwohnerzahl im Herbst 1989 mehr Demonstranten auf der Straße waren als in Leipzig.
Heute klingt es beinah unglaublich, dass es im Überwachungsstaat DDR wieder und wieder zu solchen Demonstrationen gekommen ist. Wie haben die Menschen die Proteste organisiert?
Klingt aus heutiger Perspektive unglaublich, aber auch ohne WhatsApp, Signal oder Telegram kann man sich verabreden. Es waren Termine, die lange vor dem Herbst 1989 standen: In Leipzig gab es immer montags 17 Uhr Friedensgebete in der Nikolaikirche – schon seit Anfang der 1980er Jahre. In Magdeburg traf man sich regelmäßig zum Friedensgebet vorm Barlach-Mahnmal im Dom, in Halle in der Marktkirche, in Halberstadt in der Martinikirche, an anderen Orten zu anderen Zeiten. In den kleineren Orten etablierten sich ebenfalls feste Demonstrationszeiten, nicht selten ausdrücklich nicht montags, damit man dann nach Leipzig fahren konnte.
Anmerkung :„Anfangs demonstrierte man gegen etwas, später demonstrierte man für etwas.“
Johannes Beleites
Was waren die Ziele der Demonstrierenden 1989?
Zunächst wollten die Protestanten ihren Unmut mit dem von ihnen erlebten Staat ausdrücken: Fehlende Meinungs-, Versammlungs- und Reisefreiheit, der Mangel an Demokratie, freien Wahlen, Pressefreiheit und gesellschaftlichem Diskurs nahm ihnen die Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft. Anfangs demonstrierte man gegen etwas, gegen die Diktatur eines greisen Politbüros, gegen Repression durch Stasi und Volkspolizei, später demonstrierte man für etwas: Für Demokratie, für die Reisefreiheit, für die deutsche Einheit. Jede Veränderung verstärkte die Euphorie: Die Ausreise der Botschaftsbesetzer aus Prag, Budapest und Warschau, der Sturz Honeckers, der Rücktritt des Politbüros, die Grenzöffnung gen Westen, die Einsetzung der Runden Tische als Nebenregierungen auf allen Ebenen, die Aussicht auf freie Wahlen.
Seit dem Ende der DDR, also seit gut 35 Jahren, werden DDR- und Wendezeit kontinuierlich aufgearbeitet. Seit April 2024 sind Sie selbst nun Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur speziell in Sachsen-Anhalt. Welchen noch immer offenen Fragen stehen Sie hier gegenüber? Wie kann die Aufarbeitung dazu beitragen, die Demokratie von heute zu schützen?
Die vollständige Beantwortung dieser Frage würde den Rahmen sprengen. Wir haben in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten unterschiedliche Phasen der Aufarbeitung der SED-Diktatur erlebt. Heute sind wir in einer Phase, in der es vor allem darum geht, warum sich in einer Gesellschaft eine Diktatur so lange halten kann. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit sich viele Menschen unterordnen, aber auch damit sich eine ausreichend große Zahl an der Diktatur beteiligt? Und diese Fragen passen ja gut in unsere Zeit, in der auf unterschiedlichen Seiten Menschen befürchten, dass die Demokratie angreifbar ist. Warum halten Menschen die Diktaturen der Vergangenheit für das geringere Übel im Vergleich zur Demokratie der Gegenwart? Warum wollen Menschen die Demokratie schützen mit Mitteln, die dieser widersprechen?
Doch es geht mir bei meiner Arbeit als Landesbeauftragter vor allem auch um die Betroffenen und die Opfer der SED-Diktatur. Das sind ehemalige politische Häftlinge und Menschen, die Opfer sogenannter Zersetzungsmaßnahmen der Stasi waren. Und solche, die schon als Schüler politisch verfolgt und ihrer Bildungschancen beraubt wurden. Das sind auch Doping-Opfer oder Opfer einer mit Hepatitis-C-Viren-verseuchten Impfung, der Anti-D-Immunprophylaxe. Und Menschen, die ihre Kindheit und Jugend in Jugendwerkhöfen und Spezialkinderheimen verbringen mussten, Frauen in den geschlossenen venerologischen Stationen, Opfer sexueller Gewalt in staatlichen Einrichtungen und Opfer von Zwangsumsiedlungen. Viele haben bis heute mit vielfältigen gesundheitlichen und sozialen Folgen zu kämpfen. Und nicht selten müssen sie jetzt als Bittsteller selbst die Kausalität ihrer Folgeschäden nachweisen und ihre Anerkennung mühsam und langwierig von Gericht erstreiten.
Wenn sich der Rechtsstaat hier großherzig erweisen, Verantwortung übernehmen und die Opfer in ihrer Würde ernstnehmen und bestärken würde, zeigte sich ihnen die Demokratie mit lächelndem Gesicht.