Man mag es aufgrund der Reisebeschränkungen kaum glauben, aber ein staatliches Reisebüro mit Filialen in den großen Städten hatte die DDR doch vorzuweisen. Büros, ob privat oder einer Kette, wie sie auf dem heutigen Stadtbild nicht mehr wegzudenken gibt, waren damals aber nicht vorhanden. Reiseziele, abgesehen von denen in der DDR selbst, gab es zwar auch im sozialistischen Ausland im Grunde genügend, nur hinreisen durfte man nicht so ohne Weiteres. Ziele in der Sowjetunion waren noch bezahlbar, ein Urlaubsplatz in Ungarn war schon kaum zu bekommen, Reisen ans Schwarze Meer, nach Jalta oder auf die Krim wurden nur unter der Hand an den Mann gebracht.
Als im November 1989 die Mauer fiel und der Eiserne Vorhang durchbrochen war, standen die Menschen in der DDR vor etwas völlig Neuem: Sie durften reisen, wohin sie wollten – ohne die Gefahr von Repressalien oder gar ausgebürgert zu werden. Wie schwer, sich vorzustellen, dass Städte und Länder, die man vom Hörensagen oder mal von einer Postkarte von der Westverwandtschaft kannte, im besten Fall in bewegten Bildern im Westfernsehen gesehen hatte, plötzlich zur erreichbaren Ferne wurden. Die 100 Mark Begrüßungsgeld waren bei vielen das Reisekapital im ersten Halbjahr 1990. Doch wohin mit dem einen blauen Schein?
Viele Tausend Reisende aus dem späteren Sachsen-Anhalt haben zwischen Januar und Juni 1990 59 ihrer 100 D-Mark Begrüßungsgeld in eine Fahrt nach Paris investiert. Die Infrastruktur Richtung Westen ließ mehr als zu wünschen übrig, Reisebusse standen nicht zur Verfügung. Abhilfe leisteten niedersächsische Busreiseunternehmen, die ihre Fahrzeuge kurzerhand zur Verfügung stellten. Auf dem Fahrplan – vielleicht der ersten Reise ins Ausland – stand ein Tag Paris, ein ganzer Tag in dieser europäischen Metropole mit dem Eiffelturm, Montmartre, der Mona Lisa.
Am Abend 20 Uhr startete der Reisebus in Magdeburg, um bestenfalls acht Stunden später, also in den frühen Morgenstunden, in Paris einzutreffen. Während man heute ohne Grenzkontrollen nach Frankreich fahren kann, war die Einreise für DDR-Bürger in jenen aufwühlenden Zeiten erheblich schwieriger, denn sie wären an der Grenze schlichtweg nicht durchgewunken worden. Zuerst wurden für die DDR-Reisenden noch vorläufige Ausweise der Bundesrepublik ausgestellt, später dann haben die Franzosen mitgespielt und die Leute die Grenze auch mit den DDR-Pässen passieren lassen.
Bis zum Mittag wurde damals eine Stadtrundfahrt absolviert, bis 19 Uhr hatten die Leute dann Freizeit und konnten die Stadt auf eigene Faust erkunden. Als es dunkel wurde, ging’s auf eine Lichterfahrt durch Paris – die Stadt der Liebe bei Nacht in einer solchen Zeit des Aufbruchs, das brennt sich tief in die Erinnerung ein. Kein Wunder also, dass die Menschen ihren Emotionen freien Lauf ließen und beim Anblick der Stadt, ja in dem Bewusstsein, tatsächlich in der Ferne zu sein, einfach in Tränen ausbrachen. Um 21 Uhr startete die Rückfahrt – man konnte zurück, man wollte auch zurück. Wiederum acht Stunden später hielt der Bus wieder in Magdeburg – die Leute stiegen aus – vollkommen erschlagen von den gesammelten Eindrücken, todmüde, denn es war eine Fahrt ohne Übernachtung, aber vor allem eines: Glücklich!
Die erste große Reisewelle war bestimmt durch Busfahrten. Als die D-Mark kam, ging es mit dem Bus hauptsächlich nach Spanien an die Costa Brava zum Badeurlaub. Am 3. April 1990 startete das DDR-Unternehmen Interflug zum ersten Flug nach Mallorca. In den folgenden Monaten intensivierten sich die Flugreisen, neben Mallorca ging es vor allem nach Tunesien.
Die Reisetrends haben sich in den vergangenen 25 Jahren immer wieder mal verändert. Die Dominikanische Republik war der Renner vor 15 Jahren, Spanien hält sich jedoch unangefochten an der Spitze. Der Busreiseboom wurde schnell durch Flugreisen, dann durch die Pauschalreise, dann durch die Schiffsreise, zuletzt von der Baukastenreise abgelöst. Heute nimmt man nicht mehr das erste Beste, das sich einem bietet, sondern man wählt genau aus, wo die eigenen Interessen liegen, was man sich leisten kann und vor allem, was man vom Reiseziel erwartet.
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist der Vorhang zur Welt gefallen. Aus den engen Grenzen der DDR heraus konnten die Menschen sich auf den Weg machen, neue Länder, neue Menschen, neue Bräuche kennen- und schätzen zu lernen. Die Bürgerinnen und Bürger haben sich ihre Freiheit erkämpft und sie haben sich danach nicht etwa wieder in ihr Schneckenhaus zurückgezogen, sondern sind – im wahrsten Sinne des Wortes – ausgeflogen. Die Heimat im Herzen habend, kann man das Ferne, das Unbekannte, das aufregende Andere genießen und frohen Herzens zurückkehren – in ein Land, das seine Grenzen nicht verschließt, das dich gehen lässt und jederzeit wieder willkommen heißt – das bedeutet Heimat.
Der Text stammt aus unserem Archiv vom Oktober 2015.