Selbstschussanlagen, Stacheldraht und Minen – das alles gab es fast 40 Jahre lang an der Grenze zwischen der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Die 1400 Kilometer lange Grenze durchzog Orte und Landschaften von der Ostsee über den Harz bis zum Thüringer Wald. Der kleine Ort Harbke in der Börde lag mittendrin im Grenzgebiet und wurde besonders streng bewacht. Denn ganz in der Nähe gab es seit 1976 ein „Loch“ im Grenzzaun, das – aus Angst vor Fluchtversuchen von DDR-Bürgern – natürlich möglichst geheim bleiben sollte. Erst viele Jahre nach der Wende wurde das „Geheimnis von Harbke“ bekannt.
In der Gegend um Harbke (Sachsen-Anhalt) und Helmstedt (Niedersachsen) wurde bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts auf industrielle Weise Braunkohle gefördert. Offiziell gehörte das Abbaugebiet zum „Helmstedter Revier“, allerdings reichten die Vorkommen weit nach Sachsen-Anhalt hinein. So kam es, dass sich die Tagebaue Wulfersorf und Victoria zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 direkt auf der Zonengrenze zwischen britischer und sowjetischer Besatzung befanden.
Besatzungsmächte einigen sich 1945
Die Spaltung der Tagebaue führte dazu, dass die eigentlich zusammengehörenden Betriebsteile getrennt wurden: Kraftwerke, Brikettfabriken, Verladestationen und Verwaltungsgebäude waren teilweise in verschiedenen Besatzungszonen. Darum haben die Besatzungsmächte im Oktober 1945 eine Zusammenarbeit beschlossen.
Das Kraftwerk Harbke lieferte seinen Strom auch nach Niedersachen und im Gegenzug sollten Kohle, Wasser und Reparaturleistungen für das Kraftwerke aus dem Westen kommen. Auf diese Weise war es möglich, dass Werkszüge und Angestellte aus beiden Zonen die Demarkationslinie überqueren konnten. Nach der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 manifestierte sich die Teilung Deutschlands und der „Kalte Krieg“ begann auch im Tagebau.
DDR-Volkspolizei schafft über Nacht neue Tatsachen
Im Mai 1952 besetzte die Volkspolizei der DDR – quasi über Nacht – die östlichen Teile der Tagebaue Wulfersdorf und Victoria und beschlagnahmte alle sich darauf befindlichen Großgeräte und Werkbahnen. Offiziell in Volkseigentum umgewandelt, bildeten sie die Grundlage für das neu gegründete Braunkohlewerk Harbke. Im Gegenzug bauten die Braunschweigischen Kohlebergwerke – die einen Großteil ihres Eigentums abschreiben mussten – innerhalb von zwei Jahren das Kraftwerk Offleben als Ersatz für das Kraftwerk Harbke. In den nächsten zwei Jahrzehnten förderten Ost und West getrennt voneinander ihre eigene Braunkohle
1976 Vertrag über „Grenzpfeilerkohle“
Anfang der 1970er Jahre merkten jedoch beide Seiten, dass die Braunkohle langsam knapp wird. Insbesondere in der DDR war klar, spätestens 1976 ist die Kohle alle, gleichzeitig wurde der Strom dringend gebraucht. Einzige Chance war ein Kohleflöz westlich von Harbke direkt unter der Grenze. Diese Vorkommen waren aber auch für die Bundesrepublik interessant.
Vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Entspannungspolitik einigten sich beide Seiten 1976 darauf, die sogenannte „Grenzpfeilerkohle“ gemeinsam abzubauen. In einem bis dato einzigartigen Vertrag zwischen beiden deutschen Staaten wurde geregelt, dass Ost-Bagger in den Westen fahren und West-Bagger Flächen im östlichen Teil nutzen dürfen.
Anmerkung :Die Verträge über den Abbau des Grenzkohlepfeilers und die Nutzung der Kohle waren die ersten innerdeutschen Verträge über die gemeinsame Nutzung von grenzüberschreitenden Rohstoffen und somit für beide Seiten ein Präzedenzfall.
Historikerin Christiane Rudolph in: „Grenzkohle – Die Stasi im deutsch-deutschen Tagebau von Helmstedt und Harbke".
Die Verhandlungen hatten ergeben, erläutert Historikerin Christiane Rudolph, dass die territorialen Hoheitsrechte bestehen bleiben sollten und die jeweiligen Gebiete nach dem Ende der Kohleförderung wieder zurückgegeben werden. Die jeweiligen Nutzungsgebiete seien präzise beschrieben worden und durch Drahtzäune voneinander getrennt. Außerdem beschlossen die Verantwortlichen, dass die Kohleabbaugebiete waffenfrei sein sollten.
Tagebau wird waffenfreie Zone, Grenze abgebaut
Das bedeutete die DDR-Grenztruppen hatten keinen Zutritt zum Tagebau. Außerdem rückten Soldaten der Nationalen Volksarmee an und befreiten rund zwei Kilometer des Eisernen Vorhangs von Minen. An die Stelle des ehemaligen Todesstreifens trat bis 1986 lediglich ein zwei Meter hoher Maschendrahtzaun, in dem es auch noch vier Türen gegeben haben soll. Mit dem Vertragsabschluss von 1976 stellte die rohstoffarme DDR „wirtschaftliche Interessen vor die Interessen der Grenzsicherung“, betont Historikerin Rudolph.
Allerdings baute die Staatssicherheit natürlich nach und nach ein dichtes Netzwerk an inoffiziellen Mitarbeitern im Werksschutz des Tagebaus auf. Dies gelang jedoch erst mit einem vermehrten Zuzug von Menschen aus anderen Teilen der DDR, da viele der bis dato im Tagebau tätigen Kumpel über Beziehungen in den Westen verfügten und daher als Spitzel „untauglich“ schienen. Um den Tagebau Wulfersdorf trotz „offener Grenze“ kontrollieren zu können, wurde er in drei Sicherheitszonen eingeteilt und die heikelste durfte nur mit einem besonderen Passierschein betreten werden. „Politisch auffällige“ Personen, Unverheiratete und Männer unter 40 Jahren erhielten diesen Passierschein gar nicht erst.
Das hohe Sicherheitskonzept und die ständigen Kontrollen hätten den Produktionsablauf zweifellos verlangsamt, erinnert sich Reiner Orlowski, damaliger Betriebsleiter des Tagebaus Wulfersdorf in der MDR Dokumentation „Das Geheimnis von Harbke – Operation Grenzkohle“. Allerdings hätte es während der zehn Jahre des gemeinsamen Abbaus der Grenzkohle nicht eine einzige Flucht aus der Belegschaft des Kohlekombinats gegeben.
30 Jahre später entsteht Lappwaldsee
Als 1986 auf ostdeutscher Seite die vereinbarten 1,5 Millionen Tonnen Kohle unter der Grenze abgebaut waren, beschlossen die Verantwortlichen auf DDR-Seite den Tagebau Wulfersdorf aufzugeben. An seine Stelle sollte ein riesiger Damm aufgeschüttet und die ehemalige Grenzanlage wieder aufgebaut werden. Der Mauerfall im November 1989 durchkreuzte dann jedoch die Pläne der SED. 1990 wurde das Kraftwerk Harbke stillgelegt. Etwa zehn Jahre später gingen auch in Helmstedt die Lichter für den Braunkohlebergbau aus.
Heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall, entsteht in den Restlöchern der ehemaligen Tagebaue der Lappwaldsee – ein Freizeit- und Naherholungsgebiet für die gesamte Region.
Quellen:
- „Wandlungen und Perspektiven“ Nr. 14, Wulfersdorf, Hrsg.: Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau- Verwaltungsgesellschaft mbH
- Christiane String (verheiratete Rudolph): „Grenzkohle - Die Stasi im deutsch-deutschen Tagebau von Helmstedt und Harbke“, in: horch und guck, Heft 64, 2/2009, S. 36-39
- MDR Dokumentation „Das Geheimnis von Harbke – Operation Grenzkohle“