Cookies helfen uns bei der Weiterentwicklung und Bereitstellung der Webseite. Durch die Bestätigung erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies gesetzt werden.

Plenarsitzung

Sommer/Herbst 1989 – Ein Gesprächsforum

Sommer und Herbst 1989 markieren ein außergewöhnliches und bewegendes Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte. Es ist geprägt von Demonstrationen in zahlreichen Städten der DDR, die immer mehr Menschen anzogen, die friedlich gegen die SED‐Diktatur protestieren. Neben dem Ruf nach Freiheit und Demokratie entschieden sich Tausende Bürgerinnen und Bürger im Sommer 1989 zur Flucht und verließen über die ungarisch-österreichische Grenze und später vor allem über die Botschaft in Prag ihr Heimatland.

In einem Gesprächsforum im Landtag von Sachsen-Anhalt trafen am Dienstag, 3. September 2024, Zeitzeugen jener Ereignisse in Prag aufeinander und berichteten gemeinsam mit Johannes Beleites, dem Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, von ihren Erfahrungen von Flucht und Ankommen.

Video-Mitschnitt zum Gesprächsforum "Fluchtpunkt Botschaft Prag" im Landtag von Sachsen-Anhalt.


Ohne die Geflüchteten wäre die Friedliche Revolution womöglich anders verlaufen, mutmaßte Johannes Beleites, denn sie hätten einen besonderen Druck auf die DDR-Führung ausgeübt. Die ganze Welt schaute beispielsweise auf die Geschehnisse in der Prager Botschaft, wo Tausende DDR-Bürger/innen auf eine Ausreise in die Bundesrepublik hofften. Vier dieser Zeitzeugen begrüßte Beleites in dem Gesprächsforum im Landtag.

Dr. Rolf Mahlke berichtete von seiner Flucht über die Botschaft in Prag.

Dr. Rolf Mahlke berichtet von seiner Flucht über die Botschaft in Prag.

„Dann fährt man eben nach Prag“

„Unsere kleine Familie ist 1989 aus Osterburg, damals Kreisstadt im Bezirk Magdeburg, über Prag in die BRD geflohen“, berichtete Dr. Rolf Mahlke. Viele im Umfeld hätten erst nicht verstanden, warum sie „abgehauen“ waren, ihnen sei es doch gutgegangen?! Zwar sei die eigene Ausbildung zum Zahnarzt kostenlos gewesen, „aber dann waren wir einfach über, und wir haben keine Perspektive gesehen, dass es besser wird“. Und nur hundert Kilometer weiter westlich sei alles möglich gewesen ‒ „und dann fährt man eben nach Prag“. Mahlkes reisten über die Deutsche Botschaft in Prag in die Bundesrepublik aus. Angesprochen auf die Einfahrt im westdeutschen Hof, sagte Rolf Mahlke: „Da weinte man vor Glück.“

Zeitzeugen-Ehepaar auf dem Podium

Das Ehepaar Ulrike und Jens Schlicht erzählte seine Geschichte zur Flucht über die deutsche Botschaft in Prag im Herbst 1989.

„Etwas andere für unsere Kinder“

Dr. Jens Schlicht wurde in Magdeburg geboren und wuchs dort auch auf. Er und seine Frau Ulrike entschieden sich für die Flucht in den Westen. Bei beiden war der Unmut über die Unfreiheit und Indoktrination der Menschen in der DDR, insbesondere schon der (eigenen) Kinder, ins Unerträgliche ausgewachsen. „Wir wollten etwas anderes für unsere Kinder“, erinnerte sich Ulrike Schlicht. Sie selbst war bereits im Januar 1989 in den Westen gereist, hatte die Möglichkeit, ihre Eltern zu besuchen und blieb dann dort, Ehemann Jens und die beiden Kinder folgten ihnen später ‒ über Prag ‒ nach. Eine Tour de Force über mehrere Monate, die oft in Ungewissheit über das, was kommen würde, habe überstanden werden müssen.

Zeitzeuge hält Fahne vom DRK mit Unterschriften in die Kamera

Zeitzeuge Gunter Raecke präsentierte ein Erinnerungsstück an seine Flucht über die Prager Botschaft: Eine Fahne des Deutschen Roten Kreuzes mit zahlreichen Unterschriften wichtiger Politiker und Weggefährten.

„Keine Perspektive mehr gesehen“

Gunter Raecke war einst ein erfolgreicher Gaststättenleiter, bis die politische Führung ihn schasste und ihm und seiner Frau das Leben schwermachte. „Ich war immer sehr offen und direkt, das hat nicht jedem gefallen, und auf einmal kam die fristlose Kündigung.“ Sie seien dagegen gerichtlich vorgegangen, hätten aber zunächst kein Recht bekommen. Als ein Berliner Gericht die vorherigen Urteile aufhob, hätten Raeckes wieder als Gaststättenleiter arbeiten dürfen, die Politik vor Ort habe sich allerdings nicht um das Urteil geschert. Man hätte dann unlängst andere Arbeiten angenommen, „aber eine Perspektive haben wir nicht mehr gesehen, also dachten wir: jetzt oder nie!“ So hätten sie sich auf den Weg nach Prag gemacht.

Tausende DDR-Bürger/innen konnten auf Bestreben des damaligen Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher (selbst in Halle [Saale] geboren) die Prager Botschafter in Richtung Bundesrepublik verlassen. Seinen berühmt gewordenen Besuch in der Botschaft machte er am 30. September 1989, am Abend sprach er hier auf dem Balkon die unvergesslichen Worte „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“ (Jubel) ‒ der Rest ist Geschichte.