Elrid Pasbrig (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Frau Frederking, wir haben ein großes Problem ausgelotet, weswegen Sie auch die Aktuelle Debatte beantragt haben. Das ist die drohende Hungersnot. Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie gesagt haben: Lassen Sie uns die Debatte ohne Scheuklappen führen! Lassen Sie uns alle einmal die Scheuklappen abnehmen! Ich möchte in meinem Debattenbeitrag gern noch ein paar Bausteine hinzugeben, um deutlich zu machen, wie wir eventuell vorübergehend vom eingetretenen Pfad abweichen könnten.
Bei all den Horrormeldungen, die uns tagtäglich seit dem Angriff Putins auf die Ukraine erreichen, ist es zuweilen schwer, den Überblick zu behalten. Die zu bewältigenden Probleme umfassen dabei unter anderem die Aufnahme der ukrainischen Menschen, die zu uns aus den Kriegsgebieten flüchten, die Hilfe der ukrainischen Menschen, die noch in ihrer Heimat bleiben, die Beantwortung der Fragen, wie sicher unser Strom ist oder wie teuer Strom und Benzin eigentlich noch werden, und - last, but noch least - wie wir ausfallende Getreide-, Sonnenblumenkerne-, Futter- oder Düngemittellieferungen aus der Ukraine und aus Russland verkraften werden.
Dabei fällt auf, dass in der Aktuellen Debatte die eintretenden Entwicklungen und die zu erwartenden Auswirkungen zum Teil arg verkürzt und wild vermengt werden. Wir müssen ganz genau hinsehen, an welchen Stellen konkret die größten Probleme bestehen bzw. bestehen werden, und wir müssen, vor allem, was die Diskussion zur Ernährungssicherheit anbelangt, ehrlich und mit Augenmaß unsere Lösungsansätze formulieren.
Wenn wir uns den Agrarwelthandel anschauen, dann stellen wir fest: Bis vor Kurzem bestand die Situation, dass die Ukraine und Russland vor allem als Produzenten und Exporteure von Getreide und Ölsaaten eine wichtige Rolle spielten. Die Mengen sind hier bereits genannt worden. Darüber hinaus ist die Ukraine Europas wichtigster Lieferant von gentechnikfreiem Soja. Nun kann die Ukraine nicht mehr liefern und Russland will nicht mehr liefern. Seit Mitte März hat Russland die Ausfuhr von Weizen, Gerste, Roggen und anderem Getreide gedrosselt, was zu enormen Problemen in den Ländern führt, die auf russisches oder ukrainisches Getreide angewiesen sind.
Deutschland oder die EU sind es nicht. Unser Selbstversorgungsgrad liegt in vielen Bereichen bei mehr als 100 %. Zum Beispiel bei Getreide liegen wir bei etwas mehr als 100 %. Außer im Dürresommer darin gebe ich Ihnen recht, Frau Frederking , damals lag der Selbstversorgungsgrad bei knapp über 90 %. Aber wenn wir uns unsere Fleischproduktion anschauen, so liegt unser Selbstversorgungsgrad bei 130 %, bei Rindfleisch bei 109 %, bei Geflügelfleisch bei 106 % und bei Schweinefleisch sogar bei 130 %.
Betroffen vom Ausfall der Lieferungen landwirtschaftlicher Produkte sind vor allem Entwicklungs- und Schwellenländer. Es sind die Länder im Nahen Osten, die Maghrebstaaten oder Staaten in Ostafrika und Asien. Diese Länder haben schon jetzt enorm mit den gestiegenen Preisen für Lebensmittel zu kämpfen.
Das heißt für uns: Wir müssen Lösungsansätze für folgende Missstände finden: Wie helfen wir den Menschen in der Ukraine, für die aktuell keine Lebensmittel verfügbar sind? Was können wir für die Menschen tun, für die aufgrund der ausbleibenden Getreidelieferungen die Nahrungsmittel zunächst unerschwinglich werden und bald ganz ausbleiben könnten? Wie steigern wir hier kurzfristig den Selbstversorgungsgrad bei Eiweißpflanzen, die wir nämlich netto importieren? Und wie federn wir die steigenden Kosten für unsere Landwirtinnen und Landwirte ab?
Wir können zum einen politische Weichenstellungen vornehmen und zum anderen kann jede und jeder Einzelne von uns einen Beitrag leisten.
Wir haben es bereits gehört, die Europäische Kommission hat in dieser Woche ihren Aktionsplan zur Lebensmittelsicherheit veröffentlicht. Dieser beinhaltet ein 330-Millionen-€-Soforthilfeprogramm für die Ukraine. Die EU will damit sicherstellen, dass grundlegende Güter und Dienstleistungen in der Ukraine sichergestellt werden können und die ukrainische Bevölkerung geschützt werden kann.
Darüber hinaus verweist die Europäische Kommission darauf, dass die EU im Rahmen des Programms für internationale Zusammenarbeit im Zeitraum von 2021 bis 2027 mit etwa 70 Partnerländern an der Entwicklung nachhaltiger Lebensmittelsysteme arbeiten werde und sich dazu verpflichtet habe, Unterernährung im Zeitraum 2021 bis 2024 mit Mitteln in Höhe von 4,3 Milliarden € zu bekämpfen. Das wäre zumindest schon einmal die monetäre Seite der Krisenbewältigung. Aber was konkret müssen wir denn tun mit dem Geld?
Als die Diskussionen zu möglichen Strategien in unserer heimischen Landwirtschaft nach Kriegsausbruch Fahrt aufnahmen, die z. B. beinhalteten, die europäische Farm-to-Fork-Strategie infrage zu stellen, hatte auch ich einen ersten Beißreflex und habe spontan formuliert, dass die Krise in der Ukraine nicht vorschnell zur Aufweichung von ökologischen Standards in der Landwirtschaft führen dürfe. Ich stehe auch dazu, dass wir Lebensmittelsicherheit nicht gegen Klima- und Umweltschutz ausspielen dürfen. Aber auch an dieser Stelle gilt: Lassen Sie uns genau hinsehen!
In Anbetracht der aktuellen Lage bedarf es neuer Wege, ohne aus den Augen zu verlieren, dass wir unseren Kindern eine gesündere Umwelt hinterlassen wollen. Aber ist der Weg, den wir bislang beschreiten, der einzig richtige? Fakt ist, dass die ausfallenden Rohstofflieferungen irgendwo auf dieser Welt durch erhöhte Anbaukapazitäten kompensiert werden müssen. Ich denke, dass es wichtig ist, dass auch Deutschland auslotet, wie und wo mehr Getreide, Öl- und Eiweißpflanzen angebaut werden können, um unseren Beitrag zu leisten.
Landwirtschaftsexperten der Universität Göttingen und des Leibniz-Instituts für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien in Halle empfehlen bereits, dass es sinnvoll sein könnte, darüber nachzudenken, die konventionelle Landwirtschaft nachhaltiger zu gestalten, als etwa an festen Quoten für den Biolandbau festzuhalten.
(Beifall)
Sie betonen aber auch, dass Vorschriften für weniger Pestizide und Dünger dennoch Bestand haben sollten, da der Grundwasserschutz ja nicht deswegen unwichtiger wird, nur weil wir mehr Lebensmittel brauchen.
(Zustimmung)
Aber der konventionelle Getreideanbau ist im Moment zur Bewältigung der Krise im Vergleich zum ökologischen Getreideanbau das Mittel der Wahl, da es einfach zu große Ertragsunterschiede zwischen beiden verschiedenen Produktionsweisen gibt.
(Zustimmung)
Die vorübergehende Bestellung brachliegender oder ökologischer Vorrangflächen bzw. die vorübergehende Aussetzung des Stilllegungserfordernisses ist dabei ein gangbarer Weg.
(Zustimmung)
Worauf ich an dieser Stelle aber ebenfalls hinweisen möchte, ist die Verteilung von Anbauflächen für Viehfutter, Nahrungsmittel, Rohstoffe für die Bekleidungsindustrie und Biomasse. So werden z. B. weltweit 71 % der Ackerflächen für den Anbau von Tierfutter genutzt, weil wir zu viel Fleisch essen. 18 % entfallen auf Flächen für den Anbau von Nahrungsmitteln, 7 % auf Rohstoffe für Bekleidungsindustrie und 4 % für Energiepflanzen.
Wenn wir also auf der Suche nach zusätzlichen Anbauflächen sind, nehmen wir doch auch die Flächen in den Blick, die für den Anbau von Futtermitteln genutzt werden.
(Zustimmung)
Der Konsum von Fleisch steigt in der Regel mit zunehmendem Wohlstand. Im Jahr 2018 nahm jede bzw. jeder Deutsche durchschnittlich 60 kg Fleisch zu sich.
(Zuruf)
Genau. - Einige von uns müssen mehr essen, weil 2018 schon die veganen und vegetarischen Lebensweisen total en vogue waren. Also, wir sind hierbei im Durchschnitt.
(Zurufe)
Die Nachfrage nach Fleisch steigt andernorts stetig weiter, weil sich z. B. Brasilien, China oder Korea ebenfalls zu großen Fleischkonsumenten entwickeln.
Es ist nicht nur so, dass wir für die Produktion von Futtermitteln fast drei Viertel der weltweiten Ackerflächen nutzen müssen, sondern es entfallen auch ca. 30 % der für die landwirtschaftliche Produktion genutzten Süßwasserressourcen auf die Herstellung tierischer Produkte.
Das heißt, die Verringerung unseres Fleischkonsums auf der einen Seite würde auf der anderen Seite für mehr Menschen eine pflanzliche Ernährung möglich machen. Außerdem könnten mehr Menschen mit gleichbleibenden Wasserressourcen ernährt werden.
(Zustimmung)
Da meine Redezeit schnell zu Ende geht, möchte ich zwei Beiträge nennen, die jeder bzw. jede Einzelne von uns leisten könnte: der erste Punkt ist, nicht zu hamstern, und der zweite Punkt ist, Lebensmittel nicht in den Abfalleimer zu schmeißen.
(Beifall)
Ein Drittel aller produzierten Lebensmittel in Deutschland wird jährlich in den Abfalleimer geschmissen. Auch an dieser Stelle könnten wir etwas zur Korrektur unseres Lebensmittelmarktes beitragen und hätten mehr, was wir den Ärmsten weiterleiten bzw. an sie abgeben könnten.
Etwas, das mir noch am Herzen liegt, ist, etwas zu dem Aspekt „4 % Ackerflächen für Biomasse“ zu sagen. Lassen Sie uns demnächst einmal darüber diskutieren, ob wir Holz in die Biomasse mit einbeziehen, sodass wir eventuell Raum für eine wirtschaftliche Aufforstung unserer Wälder bekommen und Freiflächen auf Ackerflächen schaffen. - Vielen Dank.
(Beifall - Zurufe)
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Frau Pasbrig, Sie haben die Chance, weiter auszuführen, wenn das zu der Frage passt, die jetzt Frau Frederking stellen will, wenn Sie diese Nachfrage zulassen.
Elrid Pasbrig (SPD):
Na klar.
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Frau Frederking, bitte.
Dorothea Frederking (GRÜNE):
Ja, Frau Pasbrig, ich glaube, wir gehen gedanklich und konzeptionell genau in die gleiche Richtung.
(Zurufe - Unruhe)
An zwei Stellen möchte ich nachfragen. Erstens. Sie haben gesagt: Lebensmittelsicherheit nicht gegen Klima- und Umweltschutz ausspielen. Das war Ihr Zitat. Das hört sich für mich so an, als wäre Klima- und Umweltschutz ein Selbstzweck. Aber Klima- und Umweltschutz ist dafür da, damit stabile Ökosysteme bestehen. Klima- und Umweltschutz stellt die Grundlage für die Ernährungssicherheit dar. Können Sie bitte erklären, warum Sie an dieser Stelle den Widerspruch aufmachen? Es ist für mich ein Widerspruch.
Zweitens. Sie haben die Zahl genannt. Viel Getreide geht nicht in den Magen der Menschen, sondern in den Magen der Tiere. Wir haben ein großes Potenzial, um umzuswitchen. Haben Sie das schon einmal bilanziert, diese 70 % Getreide, die in den Futtertrog gehen, zu den 4 % Stilllegungsflächen. Ich habe gesagt, wir müssen das bilanzieren. Die ersten Bilanzen, die ich gesehen habe, besagen: Es bringt mehr, das Getreide jetzt weniger für Futterzwecke vorzusehen, statt für die menschliche Ernährung.
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Vielen Dank, Frau Frederking. Ich glaube, die Frage ist klar geworden. - Bitte, Frau Pasbrig.
Elrid Pasbrig (SPD):
Ich beantworte zuerst Ihre zweite Frage. Das Problem sind die Zeitabläufe. Wir hatten die Debatte schon einmal zum Ökolandbauziel von 30 %, wobei ich die Position vertreten habe, dass wir zunächst bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern den sozusagen veränderten Konsumprozess begleiten müssen. Das Verzichten auf Fleischprodukte passiert nicht von heute auf morgen. Das heißt, wir kriegen die Ackerflächen nicht sofort leer, dass wir das Getreide nicht an unsere Tiere verfüttern müssten. Das ist also, würde ich sagen, eher ein mittelfristiger Prozess.
Zur ersten Frage. Das Ausspielen von Lebensmittelsicherheit und Agrarwende bezieht sich darauf, dass wir in einer ersten Diskussion gehört haben, dass der Green Deal infrage gestellt werden soll. Dazu habe ich gesagt, es kann nicht sein, wir können nicht von unseren ökologischen Standards zurücktreten, um mehr produzieren zu können. - Jetzt habe ich den Faden verloren.
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Gut. Sonst
Elrid Pasbrig (SPD):
Ich denke aber, was ich in meiner Rede heute angeboten habe, war, lassen Sie uns einen Blick auf die konventionell wirtschaftenden Landwirte werfen und schauen, dass dort zunehmend nachhaltiger produziert wird.
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Frau Frederking signalisiert, dass sie noch eine sehr kurze Nachfrage hat.
Dorothea Frederking (GRÜNE):
Ja, weil Sie die Frage auch nicht mehr ganz wussten. Meine Frage ist, wie Sie dazu stehen, die Nachhaltigkeit ist ja die Grundlage für die Ernährungssicherheit. Ohne die Ökosysteme haben wir gar keinen dauerhaften Bestand der Landwirtschaft. Ansonsten haben wir ja Ernteeinbußen. Wir brauchen sie ja.
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Frau Pasbrig, bitte.
Elrid Pasbrig (SPD):
Sie setzen es immer in Verbindung mit einer gesunden Umwelt und wie sie uns die Grundlage dafür bietet, weiter wirtschaften zu können. Aber im Moment, in der Krise, in der Diskussion darüber, wie wir Lebensmittelsicherheit gewährleisten können, müssen wir leider auf Ertragszahlen gucken und für andere Länder mit produzieren.
Ich fürchte, dass wir in der Tat für ein Jahr oder für zwei Jahre auf unsere ökologischen Standards verzichten müssen bzw. wir sollten einfach die Stilllegungsflächen heranziehen, die jetzt im Gespräch sind. Ansonsten würde ich auch nicht sagen, dass wir darauf verzichten sollten.
(Beifall)