Kerstin Eisenreich (DIE LINKE):

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich muss hier gerade ein bisschen um Fassung ringen, wenn ich daran denke, was hier gerade abgeht. Das Thema der Debatte lautet Ernährungssicherstellung. Der Anlass ist natürlich die Situation infolge des Krieges in der Ukraine. Was hier gerade abgezogen wurde, Entschuldigung, das gehört nicht in dieses Gremium.

(Zustimmung)

Ich möchte vorab - jetzt ist auch sie leider nicht im Raum - Frau Heide Richter-Airijoki für ihre Intervention, die sie vorhin vorgetragen hat, danken. Sie hat auch noch einen ganz anderen Blick auf die Problematik Ernährungssicherstellung

(Zustimmung)

aus Ihrem Erfahrungsbereich hineingeworfen. Darüber müssen wir hier heute diskutieren. Das habe ich leider bei einigen Vorrednern hier komplett vermisst.

Das Thema der Aktuellen Debatte, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist eigentlich überhaupt nicht neu und müsste uns auch hier im Landtag eigentlich viel stärker umtreiben. Dass ein Krieg wie der aktuelle in der Ukraine Anlass dafür ist, ist umso furchtbarer.

(Zuruf: Oh, oh!)

Dabei wäre es so wichtig, gerade in vermeintlich krisenarmen Zeiten über das Thema der Ernährungssicherung grundsätzlich zu diskutieren und längst notwendige Veränderungen in der Landwirtschaft endlich voranzutreiben. Und verschließen wir doch auch mal nicht die Augen davor, dass uns die Klimakrise dazu eigentlich längst zwingt; denn bereits vor diesem unsäglichen Krieg litten 800 Millionen Menschen - es sind also ein paar mehr als die, die der Herr Minister vorhin angedeutet hat - an Hunger. Weitere 100 Millionen Menschen könnten infolge des Krieges dazu kommen.

Die Ärmsten müssen auch heute schon bis zu 90 % ihres gesamten Einkommens für die eigene Ernährung ausgeben, weil die Preise bisher schon enorm gestiegen sind. Die Gefahr, dass sich diese Entwicklungen infolge des Krieges verschärfen, ist enorm groß, da Ukraine und Russland zu den zehn größten Getreideexporteuren weltweit gehören und rund 30 % des Exportvolumens bei Weizen bereitstellten. Das wurde hier schon gesagt.

Doch, meine sehr geehrten Damen und Herren, die aktuellen Preisexplosionen von ca. 25 % an der Getreidebörse sind gegenwärtig rein auf Spekulation zurückzuführen. Das trifft jene Länder im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika besonders, die von den Getreideexporten aus Ukraine und Russland auch besonders stark abhängen.

Auch die Lieferungen der Welthungerhilfe, die im Rahmen des Welternährungsprogrammes zur Sicherstellung der Ernährung von armen Menschen unter anderem im Norden Afrikas durchgeführt werden und zu mehr als 50 % auf Weizen aus der Ukraine zurückgreifen, werden davon massiv betroffen sein. Für diese Regionen werden die kriegsbedingten Ernteausfälle zu einer Verknappung führen und die Preise weiter nach oben katapultieren. Aber - das wurde auch schon gesagt - es geht natürlich nicht nur allein um Getreide, sondern auch um Soja, Sonnenblumenöl, Tierfutter und Düngemittel.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Europa dürfte wohl glimpflich davonkommen. Ja, möglicherweise wird es Lieferengpässe an der einen oder anderen Stelle geben. Und ja, die Preise werden steigen. Aber bei der Verwendung von 70 % des europäischen Getreides als Tierfutter sollten wir uns einmal ehrlich in die Augen schauen und uns fragen, welches Potenzial hier noch auszuschöpfen ist,

(Zustimmung)

und das übrigens nicht nur bei Getreide. So hat der Bundesverband Deutscher Milchviehhalter in einer Stellungnahme, die er kürzlich veröffentlicht hat, darauf verwiesen, dass wir bei Kartoffeln, Fleisch, Zucker, Milch und Getreide einen hohen Selbstversorgungsgrad von mehr als 100 % haben. Zugleich haben wir noch riesige Reserven bei Obst und Gemüse. So ist es doch immer noch unsägliche Praxis, dass in Deutschland Lebensmittel vernichtet werden. Wir verschwenden eines der wertvollsten Güter. Da wird Gemüse vor der Ernte untergepflügt, weil es angeblich nicht verkauft werden kann. Oder Obst bleibt am Baum und vergammelt dort, weil wir es billiger aus anderen Ländern importieren.

Ein längst notwendiges Wegwerfverbot für Landesmittel, auch im Bereich der Verarbeitung und insbesondere im Handel, muss nun endlich einmal umgesetzt werden.

(Zustimmung)

Das haben wir hier in der Legislaturperiode bereits gefordert, leider ohne Ergebnis. Da stehen wir wieder vor einer der grundsätzlichen Fragen. Wir müssen unsere Ressourcen, die begrenzt sind, schonend behandeln und gerecht verteilen.

Ja, die Landwirtschaft muss viel nachhaltiger werden. Wir brauchen eine Agrarwende zum Schutz von Mensch und Natur. Ansonsten werden die Folgen auch ohne Kriege katastrophal sein und unsere eigene Zukunft und insbesondere die der nachfolgenden Generationen gefährden. Wenn wir die weltweite Ernährungssicherheit garantieren wollen und Hunger, Landvertreibung und Wasserverknappung verhindern wollen, dann müssen wir die Landwirtschaft unter agrarökologischen und damit auch Klimaaspekten umbauen. Das regelt im Übrigen kein Markt.

(Zustimmung)

Dazu gehört auch die Wahrheit, dass die Landwirtschaft, die weltweit ein Viertel der klimaschädlichen Gase emittiert, diese Emissionen endlich drastisch reduziert. Die Verunreinigung der Gemeingüter Wasser, Boden und Luft muss endlich beendet werden. Auch Monokulturen müssen der Vergangenheit angehören, weil infolge des Verlusts der biologischen Vielfalt Ernteeinbußen vorprogrammiert werden.

(Zustimmung)

Außerdem - das muss man auch noch mal ganz ehrlich sagen - sind diese Monokulturen, die überwiegend der Bedürfnisbefriedigung der Menschen in den Industriestaaten dienen, die Ursache für Vertreibung, Bodendegradation, Privatisierung sowie Verknappung von Wasser und damit für Armut, Hunger sowie die Beschneidung von Menschenrechten und Flucht.

(Zustimmung)

Hinzu kommt natürlich noch ein weiterer wichtiger Aspekt. Im Gegensatz zum Bereich Energie ist die Forschung im Ernährungsbereich mit einer großen Lücke versehen. Wie schaffen wir es nämlich, eine klimagerechte und vor allem zukunftsfähige Landwirtschaft zu schaffen? Diese Forschungslücke muss endlich und dringend geschlossen werden.

(Zustimmung)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die aktuelle Kriegs- und Krisensituation erfordert daher natürlich kurzfristige Lösungen für jene, die bisher sehr stark von den Getreideimporten aus der Ukraine und aus Russland abhingen. Dabei hat Europa eine besondere Verantwortung. Einerseits benötigen die betroffenen Länder Hilfslieferungen, andererseits benötigen sie auch Finanzhilfen. Sie benötigen logistische Hilfe, weil Transportwege zerstört sind und weil auch die Transportkosten aufgrund der Preissteigerungen im Energiesektor durch die Decke gehen.

Aber wir müssen neben der akuten Krisenbewältigung mittel- und langfristig dafür sorgen, dass die Importabhängigkeit weltweit reduziert wird. In allen Ländern muss der Selbstversorgungsgrad mit Nahrungsmitteln erhöht werden, indem Ackerbau und Viehzucht vor Ort nachhaltig, standortgerecht und klimaangepasst mit Sortenvielfalt aufgebaut werden, und muss die Rodung von Wäldern gestoppt werden.

(Zustimmung)

Hierfür liegt wiederum eine besondere Verantwortung bei den Industrienationen, die ja wesentliche Profiteure des bisherigen Systems mit billigen Importen, teuren Exporten, Verlagerung von Teilen der Wertschöpfungskette usw. sind. Diese Entwicklungen werden nur dann möglich, wenn Industrienationen und Schwellenländer endlich die im Rahmen der Weltklimakonferenzen zugesagte Klimafinanzierung von 100 Milliarden Dollar pro Jahr für die Betroffenen sowie die notwendigen Anpassungsmaßnahmen bereitstellen. Davon, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind wir meilenweit entfernt.

(Zustimmung)

An dieser Stelle wird auch etwas anderes deutlich: Wir brauchen viel, viel mehr Entwicklungshilfe statt Rüstungsexporte. Natürlich müssen wir zur Sicherstellung der Ernährung auch die Emission von klimaschädlichen Gasen drastisch reduzieren und beim Klimaschutz alle Anstrengungen unternehmen, um die Klimaschutzziele von Paris zu erfüllen. Ansonsten werden unsere Lebensgrundlagen tatsächlich in Gefahr geraten.

Insofern zeigen uns die für heute angekündigten Klimastreiks richtigerweise, dass wir bisher auf keinem guten Weg sind. Sie fordern zu Recht konsequentes Handeln zum Klimaschutz ein. Die Sicherstellung der Ernährung für die Milliarden Menschen auf der Erde unter den zugespitzten Bedingungen des Ukrainekrieges sollten dabei für uns dringliche Mahnung und Aufforderung sein, endlich aktiver zu werden. - Vielen Dank.

(Zustimmung)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Vielen Dank, Frau Eisenreich. Es gibt eine Frage von Frau Frederking. Wollen Sie diese zulassen? - Frau Frederking, bitte.


Dorothea Frederking (GRÜNE):

Frau Eisenreich, Sie haben die Potenziale bei der Reduzierung der Lebensmittelverschwendung und auch bei dem Einsatz von Getreide für die menschliche Ernährung statt für die Tierfütterung dargestellt. Meine Frage an Sie lautet: Wann sollen wir damit beginnen?


Kerstin Eisenreich (DIE LINKE):

Das muss sofort passieren.

(Zustimmung - Unruhe)