Tagesordnungspunkt 5

Erste Beratung

Betroffene nicht allein lassen - Long-Covid und Post-Covid-Informations- und Behandlungsangebote im Land schaffen!

Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/758


Einbringen wird den Antrag die Abg. Frau Anger.


Nicole Anger (DIE LINKE):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen Sie sich einmal vor, die Straßenbahn oder der Bus fährt an der Haltestelle ein und es trennt Sie nur ein paar schnelle Schritte, doch Sie müssen resignierend stehen bleiben. Sie schaffen es nicht, schnell hinzulaufen. Die Bahn oder der Bus fährt ab und Ihnen bleibt die Luft weg.

Der kürzeste Weg fühlt sich an wie ein Marathon. Man kann sich kaum auf den Beinen halten; denn alles um einen herum dreht sich. Der Weg zurück nach Hause - ein fast unmöglicher Kraftakt.

Oder: Stellen Sie sich vor, mal eben zu Hause nach dem Staubsauger zu greifen und schnell durchzusaugen, oder die Spülmaschine auszuräumen - nahezu unmöglich. Danach braucht es mindestens zwei Stunden Erholungszeit.

Dann doch besser das neue Buch lesen. Aber irgendwie kommen die Wörter im Kopf nicht richtig an

(Unruhe)

und nach kurzer Zeit setzt auch bei dieser vermeintlich ruhigen Tätigkeit die Erschöpfung ein.

Hinzu kommen noch Ausfallmomente im Alltag. Man bewegt sich, als würde das Gehirn komplett unklar sein, fast schon wie im Nebel. So beschreiben es die von Post-Covid Betroffenen.

Meine Damen und Herren! Das sind nur wenige Situationen von zahlreichen, unter denen die Betroffenen infolge einer Infektion mit Covid an Long- und Post-Covid leiden. Das sind Situationen, die sie jeden Tag erleben müssen. Es geht um alltägliche Dinge, die für die Betroffenen eine riesige Hürde darstellen.

Und stellen Sie sich einmal vor, Sie würden unter dauerhaften Erschöpfungszuständen leiden, unter Kraftlosigkeit und unter fehlender Konzentration, und jede noch so leichte Tätigkeit wird zu einer Herausforderung. Aber auch Erkrankungen an Herz und Lunge sind die Folgen einer Coronainfektion.

Meine Damen und Herren! Ich habe mit Betroffenen gesprochen. Sie alle haben mir dies so oder ähnlich geschildert. Sie alle schafften auch die Gespräche nur mit viel Anstrengung und auch nur für gut 30 min. Ich bin sehr dankbar für diese Gespräche, für die Ehrlichkeit, die mir die Menschen an dieser Stelle entgegengebracht haben, und für die Offenheit. Sie alle fühlen sich aber weitestgehend allein gelassen. Sie vermissen eine echte Unterstützung. Ihnen fehlen eindeutige Informationen zu Ansprechpartnerinnen und  partnern zu Long- und Post-Covid im Land.

Jetzt stellen Sie sich vor, Sie sind kraftlos und können sich maximal eine halbe Stunde lang konzentrieren. Dann sollen Sie sich allein auf die Suche nach Informationen machen, auf die Suche nach Hilfe und Unterstützung. In der Situation der Erschöpfung, die nicht nachlässt, sollen Sie selbst rausfinden, wie Sie gegen diese Symptome ankämpfen können. Sie müssen vor allen Dingen herausfinden, wer Ihnen dabei hilft.

Vor der Erkrankung an Covid war die Suche nach Ansprechpartnerinnen und  partnern für die Betroffenen, die Kontaktaufnahme und das Ausfüllen von Anträgen unproblematisch. Heute ist es eine Mammutaufgabe, die ohne Hilfe und Unterstützung kaum zu leisten ist. Und das Schlimmste ist Folgendes: Sie finden in Sachsen-Anhalt nicht einmal Informationen darüber, an wen sie sich wirklich wenden können, also wer ihnen hilft.

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich an der Stelle noch einmal Folgendes betonen: Long- und Post-Covid ist nichts, was nur Menschen mit schweren Verläufen bekommen können. Auch bei milden Verläufen und auch bei symptomfreien Corona-Infektionen können das Folgen sein. Menschen jeden Alters sind betroffen, mit und ohne Vorerkrankungen. Und auch etwa 1 % der Kinder sind betroffen. Wenn die ursprüngliche, also die eigentliche Infektion mit Corona vorbei ist und man meint, genesen zu sein, dann scheint das Virus bei einigen erst zum großen Schlag auszuholen: Long- und Post-Covid. Von Long-Covid spricht man bei Symptomen über 28 Tage hinaus bis zu zwölf Wochen nach einer Infektion. Mit Post-Covid ist alles gemeint, was darüber hinaus geht.

Und ja, es gibt Fälle, in denen die Betroffenen seit mehr als eineinhalb Jahren an diesen Folgen leiden. Diese Menschen leiden unter den Symptomen und sie leiden unter Erschöpfung. Sie leiden aber auch darunter, dass sie sich allein und alleingelassen fühlen. Sie leiden zusätzlich, weil sie keine Informationen finden, von Ärztin zu Arzt laufen müssen und keine schnellen Rehamaßnahmen erhalten, die spezialisiert sind.

Auch Selbsthilfegruppen gehören dazu, die es kaum gibt. Sie sind ein Ort, wo Betroffene ihre Erfahrungen austauschen können und so einander wichtige Stützen sind; denn sie wissen, dass sie nicht allein sind. Und ganz wichtig ist Folgendes: Alle Betroffenen wollen mit ihren Symptomen wie Müdigkeit und Erschöpfung ernst genommen werden.

Meine Damen und Herren! Die Expertinnen und Experten reden hierbei von dem sogenannten Chronischen Fatigue Syndrom, abgekürzt auch ME/CFS. Dieses ist noch relativ unbekannt, weil dazu auch erst seit wenigen Jahren international geforscht wird.

Wir haben deutschlandweit eine darauf spezialisierte Ambulanz, die Charité in Berlin. Jetzt könnte man meinen, sie ist ja nicht so weit weg. Doch Vorsicht: Dort können nur Patientinnen und Patienten aus Berlin und Brandenburg vorstellig werden. Behandelt werden diese dort aber auch nicht.

Alle anderen Erkrankten sind komplett auf sich allein gestellt. Es hängt quasi vom Zufall ab, ob der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin sich mit dem Krankheitsbild auskennt. Genau dieses Problem haben an Covid-19 erkrankte Menschen, die unter chronischen Spätfolgen leiden. Das kann dazu führen, dass sie entweder gar nicht oder falsch behandelt werden, mit möglicherweise noch schwerwiegenderen Folgen. Bei vielen Medizinerinnen und Medizinern ist in der vergangenen Zeit aber auch ein Bewusstsein für die Langzeitfolgen von Covid-19 entstanden. Das hilft aber nur dann, wenn eben auch die Behandlungen spezifisch erfolgen können.

Den Aussagen der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin zufolge wird der Anteil derer, bei denen solche Situationen im Alltag präsent sind, auf etwa 10 bis 15 % der Infizierten geschätzt. Für Sachsen-Anhalt heißt das, dass es etwa 35 000 bis 53 000 aktuell betroffene Personen gibt.

Meine Damen und Herren! Sollten Sie jetzt proklamieren wollen, dass bisher keine Langzeitstudien und keine repräsentativen validen Studienergebnisse vorliegen, möchte ich Sie nur darauf hinweisen, dass wir als Politik diesen Wert ernst nehmen müssen. Er wird bereits jetzt von vielen Expertinnen genannt. Wir reden hier also über eine nicht unerhebliche Anzahl an Menschen. Ich begründe Ihnen auch gern, weshalb das so dringend notwendig ist.

Das deutsche Pandemiemanagement, sowohl im Bund als auch im Land, ist geprägt von einem Dauerzustand des Reagierens. Entscheidungen kommen oft zu spät und werden den Menschen generell zu wenig erklärt. Sie werden festgelegt.

Doch das, was wir jetzt an dieser Stelle machen müssen, um das Vertrauen in der Bevölkerung wieder zurückgewinnen zu können, liegt auf der Hand. Wir brauchen jetzt eine klar ersichtliche Strategie. Ich meine eine Strategie, die langfristig ansetzt und die insbesondere eben auch klärt, wie wir mit den Folgeproblematiken von Covid-19 umgehen werden. Es braucht eine klare Kommunikation zu Long- und Post-Covid. Wir haben schon viele Betroffene. Leider ist davon auszugehen, dass deren Anzahl noch steigen wird.

Genau das ist das Anliegen, das meine Fraktion und ich mit diesem Antrag verfolgen. Wir zeigen zum einen dringend benötigte Initiativen zum Handeln beim Themenfeld „Long- und Post-Covid“ auf. Zum anderen wollen wir Betroffenen klare Unterstützungsangebote ermöglichen, die für sie so wichtig sind. Dies tun wir vor allen Dingen auf der Basis der Gespräche, die ich mit den Betroffenen geführt habe.

Unsere Anträge beinhalten ihre Bedarfe und ihre Forderungen, die unerlässlich sind, um den von Post-Covid Betroffenen entsprechende Unterstützung zu bieten. Ganz konkret nenne ich an dieser Stelle schon einmal Folgendes: Wir brauchen in diesem Land ein Angebot für Kur- und Rehamaßnahmen, und zwar eines, bei dem man nicht mindestens sechs Monate warten muss, wie es aktuell der Fall ist. Es ist doch klar: Je länger man krank ist, desto mehr chronifiziert es sich. Und dem muss vorzeitig entgegengewirkt werden. Aber nicht nur das.

Es geht auch darum, Sensibilität bei den Medizinerinnen und Medizinern für die Erkrankung zu erhöhen und ihnen bei den Behandlungen bestmöglich zur Seite zu stehen. Es geht um das Schaffen bestmöglicher Rahmenbedingung für alle.

Das größte Problem bei diesem Sachverhalt ist, dass Long- und Post-Covid nach wie vor Ausschlussdiagnosen sind. Das heißt im Klartext, dass diese Erkrankung den Betroffenen erst nach dem Ausschluss aller übrigen Optionen attestiert werden kann. Dahinter stehen viele und teils anstrengende Untersuchungen. Ich erinnere nur an die Erschöpfungszustände und an die Kraftlosigkeit.

Aber vor allem sind sie dem Umstand geschuldet, dass es kein eindeutiges Diagnoseverfahren gibt. Das ist im Übrigen für alle schlecht, in erster Linie für die Betroffenen, aber mindestens genauso für die Medizinerinnen und Mediziner, die vor der Frage stehen, was sie jetzt tun sollen.

Meine Damen und Herren! Ich sage Ihnen noch etwas: Die vielen von Post-Covid Betroffenen - sie alle wollen nur eines: Sie wollen in ihr altes Leben zurück. Sie wollen ihren Alltag zurück, sie wollen mit ihren Kindern auf dem Spielplatz klettern, sie wollen spazieren gehen - außer montags  , Sport machen und hinter der Bahn herlaufen. Und sie wollen wieder arbeiten. Stattdessen aber haben sie Frustrationserlebnisse, eines nach dem anderen. Sie leiden unter Leistungsabfall, Arbeitsunfähigkeit und psychischen Problemen bis hin zur Depression und Angsterkrankungen.

Besonders wichtig war es meiner Fraktion und mir deshalb gerade auch, die ergänzende unabhängige Teilhabeberatung - kurz EUTB - in diesem Antrag mitzudenken. Sie ist nämlich oftmals die erste Anlaufstelle für Betroffene, wenn es um Hilfsangebote geht. Und Sie leistet Wertvolles. Doch auch diese Stellen können dies nur bedingt leisten. Deswegen sollte es eine vordringliche Aufgabe des Landes sein, eben diese Beratungsstrukturen aufzuwerten und auszubauen, eben weil mit Long- und Post-Covid ein neues Themenfeld hinzugekommen ist, bei dem Bedarfe vorhanden sind, die nur schwer mit den gegenwärtigen Strukturen abgedeckt werden können.

Meine Damen und Herren! Die Realität ist, dass Sachsen-Anhalt extrem schlecht auf die Endemie, die nach der Pandemie kommt, vorbereitet ist. Die Bereitschaft, das anzugehen, fehlt in meinen Augen bis dato noch. An Long- und Post-Covid Leidende brauchen bei der Behandlung dringend Unterstützung. Wir brauchen spezialisierte Post-Covid-Ambulanzen im Land.

Das Klinikum Bergmannstrost in Halle wird es allein nicht schaffen, die Bedarfe abzudecken und zeitnahe Behandlungen für alle anzubieten. Der lange Weg über die Unfallkasse oder über die Berufsgenossenschaft trägt nicht dazu bei, dass schnell Klarheit für die Betroffenen hergestellt wird. Aber je länger die Menschen nicht entsprechend dem Bedarf therapiert werden, desto geringer ist der Behandlungserfolg. Die Gefahr des Ausbildens chronischer Erkrankungen steigt erheblich.

Schauen Sie sich die Zahl der potenziell Erkrankten an, die da auf uns zukommen könnten, und auch deren soziodemografische Zusammensetzung. Frauen sind häufiger von Long-Covid betroffen als Männer. Zwar spielt steigendes Alter eine Rolle. Doch dies ist dann obsolet, wenn Patientinnen und Patienten während ihrer Covid-19 Infektion intensivmedizinisch behandelt werden mussten. Das gilt im Übrigen ganz besonders für Kinder und Jugendliche.

Und bringen wir jetzt noch das potenzielle Entstehen von ME/CFS mit ins Spiel, dann skizziert sich ein noch düstereres Bild.

Die Leiterin der Immundefektambulanz der Charité Carmen S. geht davon aus, dass 1 % der Betroffenen ein Vollbild von ME/CFS entwickeln werden. Das würde allein in Sachsen-Anhalt knapp 4 000 Menschen betreffen, für die wohlgemerkt kein spezielles Behandlungsangebot existiert, die faktisch alleingelassen werden.

Meine Damen und Herren! Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Lehnen Sie diesen Antrag heute ab, dann sagen Sie den Betroffenen de facto: Ihr seid uns egal. - Lassen Sie uns hier und heute beginnen, etwas für die von Post-Covid Betroffenen zu tun. Geben Sie den Menschen die erforderliche Unterstützung, die sie sich wünschen. Ich werbe namens meiner Fraktion ausdrücklich um Zustimmung für unseren Antrag. Um noch einmal RKI-Chef Wieler zu sagen: Es ist fünf nach zwölf. - Vielen Dank.

(Beifall)