Tagesordnungspunkt 19

Aktuelle Debatte

Das unterschätzte Risiko der Pandemie - Mentale Gesundheit junger Erwachsener

Antrag Fraktion FDP - Drs. 8/648


Wie in jeder Aktuellen Debatte beträgt die Redezeit je Fraktion zehn Minuten. - Herr Pott, Sie haben das Wort.


Konstantin Pott (FDP):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Krankheit, über die wir uns in den letzten zwei Jahren am meisten unterhalten haben, ist allen bestens bekannt. Doch während wir das Thema des Coronavirus diskutiert haben, sind uns Krankheiten entgangen, die sich aktuell rasanter denn je ausbreiten und noch viel zu wenig Beachtung finden, nämlich die psychischen Erkrankungen.

Sicherlich fallen die Schlagzeilen zwischen den ganzen Artikel zur Coronapandemie zunächst nicht auf. Doch schauen wir einmal etwas genauer hin, dann lesen wir Folgendes: „Studie in Essen - Coronalockdown fördert Suizidgedanken“, „Zahl der Suizidversuche von Kindern steigt um 400 %“, „Jeder fünfte junge Erwachsene fühlt sich depressiv“, „40 % der Studenten berichten von depressiven Symptomen“. Mit der letzten Schlagzeile möchte ich diese Aufzählung einmal unterbrechen.

„40 % der Studenten berichten von depressiven Symptomen“ hieß es erst am letzten Freitag in einem Beitrag des Deutschlandfunks, der sich auf eine aktuelle Forsa-Studie bezieht. Das bedeutet, fast jeder zweite Student verliert an Lebensfreude, weil er an einer Depression leidet. Um die Dringlichkeit dieser Problematik noch einmal deutlich zu machen: Die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu sterben, ist genauso hoch wie die, an Corona zu sterben.

Dabei ist die Depression noch die psychische Erkrankung mit der geringsten Sterberate. Am häufigsten verstirbt ein psychisch kranker Mensch, wenn er an einer Magersucht leidet. Die Wahrscheinlichkeit, daran zu versterben, liegt bei dem Einhundertfachen der Coronasterblichkeit. Das bedeutet, mehr als jeder sechste betroffene Mensch verstirbt an dieser Krankheit. Das sind unfassbare Zahlen.

Mir scheint, dass wir aktuell den Umfang der Probleme nicht einmal erfassen können. Viele Studien drücken mehr als deutlich aus, dass die Coronapandemie enorme Auswirkungen auf die Psyche der Menschen hat. Es gab eine signifikante Zunahme der Häufigkeit und auch der Schwere von Depressionen, Ängsten und Essstörungen. Aktuell ist mehr als jeder vierte Erwachsene von einer psychischen Erkrankung betroffen. Eine Gruppe trifft es besonders schwer: die jungen Erwachsenen.

(Zustimmung)

Wahrscheinlich kann ich in diesem Rahmen nicht einmal ansatzweise spiegeln, was bereits zwei Jahre Pandemie und entsprechende Einschränkungen für die jungen Erwachsenen bedeuten. Ich möchte aber versuchen zu zeigen, wie vielschichtig diese Problematik ist. Der Weg eines jungen Erwachsenen beginnt bereits mit dem Ende der Schulzeit. Erinnern Sie sich doch bitte einmal, wie Sie das Ende der Schulzeit erlebt haben oder wie diese für Sie aussah: Abschlussfahrt, Abschlussball oder eine feierliche Zeugnisübergabe. Die allermeisten Absolventinnen und Absolventen der letzten zwei Jahre hatten diesen fast schon Luxus, der eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist, nicht. Diesen rituellen Übergang von der Schulzeit zum Erwachsenenleben gab es nicht.

Für manche mit 19 Jahren, für einige aber schon mit 15 oder 16 Jahren stellt sich dann die Frage: Wohin will ich? Was will ich machen? Uns muss klar sein: Diese Entscheidung legt ganze Lebensbahnen fest. Dazu werden Freunde gebraucht, die spiegeln und reflektieren. Man braucht Austausch und vor allem Erfahrungen, Erfolgserlebnisse.

(Zustimmung)

Diese Erfolgserlebnisse müssen in der Realität stattfinden, und nicht nur vor dem Laptopbildschirm.

(Zustimmung)

Wenn sich ein junger Erwachsener nach der Schule für eine Ausbildung entscheidet, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er einem geregelten Tagesablauf nachgeht. Trotzdem befindet sich dieser junge Erwachsene in einer so enorm wichtigen Entwicklungsphase, die durch die Einschränkungen aufgrund der Maßnahmen stark gehemmt wird. Er muss einen eigenen Lebensweg entwickeln, sich in ein soziales Umfeld einleben, dieses stärken und sich eine sichere finanzielle Grundlage schaffen. Das passiert nicht in Tagen, nicht in Wochen, manchmal auch nicht in Jahren. Die Maßnahmen der Coronapandemie haben erhebliche Auswirkungen auf genau diese genannten Lebensaufgaben, die ein junger Erwachsener zu meistern hat.

Stellen Sie sich nun vor, Sie wären Student. Vor der Coronapandemie lebten 75 % der Studenten nicht mehr bei ihrer Familie. Ein Viertel von ihnen wohnte sogar allein. Selbst wenn sie finanzielle Unterstützung von den Eltern bekamen, beantragten sie doch häufiger Bafög oder gingen neben ihrem Studium arbeiten. Sie fanden in ihren Freunden eine zweite Familie und arrangierten sich mit hohen Lebensanforderungen, um ihrem Karrierewunsch nachzugehen. Häufig gingen sie aus, um schöne Momente zu erleben und zu teilen - ein ganz normales Studentenleben eben.

Das Leben eines Studenten ist aber aktuell zu einer echten Herausforderung geworden. Bereits während des ersten Lockdowns, aber auch darüber hinaus brachen viele Studentenjobs weg. Die Folge ist: Die Studenten sind in eine echte finanzielle Notlage geraten. Sie zogen teilweise zurück zu ihren Eltern. Ab Sommer 2022 beginnt ihr fünftes Onlinesemester in Folge. Die Wahrscheinlichkeit für einen Studenten, der im Sommer 2020 begann, ist groß, dass er an einer Hand abzählen kann, wie oft er die Hochschule von innen gesehen hat. Immer mehr von ihnen vereinsamen. Entweder durften sie die Freunde, die sie hatten, kaum sehen oder sie haben erst gar keine neuen Freunde gefunden, Freunde, die Menschen, die jungen Erwachsenen den größten Halt geben.

(Beifall)

All das trägt unmittelbar dazu bei, dass es unseren jungen Erwachsenen so schlecht geht wie lange nicht mehr.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich selbst war vor einem Jahr als betroffener Student in der Situation, im Homeoffice zu sein, Vorlesungen zu verfolgen, zu lernen usw. Ich hatte und habe nach meiner Auffassung ein gefestigtes Umfeld, und trotzdem gab es auch für mich im Winter Phasen, die nicht spurlos an mir vorbeigegangen sind. Denn es macht etwas mit einem, wenn man seine Freunde fast ein halbes Jahr lang kaum noch sieht. Es macht etwas mit einem, wenn man fast ein halbes Jahr lang nicht feiern gehen kann, und es macht etwas mit einem, wenn man fast ein halbes Jahr lang nicht oder nur kaum die Möglichkeit hat, seine Jugend auszuleben. Denn das sind Zeiten, die kann man nicht nachholen.

(Zustimmung)

Aber gerade Äußerungen wie die des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, man solle doch nur einmal seine Situation mit der von anderen vergleichen, dann habe man keinen Grund, sich eine Depression einzureden, führen dazu, dass die Hürde, sich in dieser Situation, wenn es einem schlecht geht, Hilfe zu holen, noch höher wird.

(Zustimmung)

Depressionen sind real, Angststörungen sind real. Wenn wir das Ganze jetzt nicht ernst nehmen, dann verlieren wir eine ganze Generation.

(Zustimmung)

Doch sucht ein junger Erwachsener aktuell Hilfe, dann stößt er auf enormen Widerstand. Psychotherapeuten führen keine Wartelisten mehr, da sie es selbst als unmoralisch empfinden, über Wartezeiten von ein bis zwei Jahren zu informieren. Wenn aber doch Wartelisten geführt werden und ein Patient nach so langer Zeit einen Platz bekommt, dann kann es sein, dass sich das Problem von selbst erledigt hat - im besten Fall, weil er sich selbst helfen konnte. Den schlimmsten Fall möchte ich an dieser Stelle gar nicht ausführen.

Durch diese Wartezeiten chronifiziert sich der Zustand oft. Die Betroffenen leiden immer schlimmer. Wenn sie dann eine etwas intensivere Behandlung in Anspruch nehmen wollen und in eine Tagesklinik möchten, dann ist diese in Coronazeiten sehr wahrscheinlich geschlossen. Der nächste Schritt wäre dann eine vollstationäre Behandlung und auch diese geht mit hohen Einbußen und vielen strukturellen Problemen einher.

Daher möchte ich hier deutlich machen, dass die schwere seelische Not der jungen Erwachsenen nicht in Vergessenheit geraten darf.

(Beifall)

Es müssen Möglichkeiten dafür geschaffen werden, dass sich mehr Psychotherapeuten niederlassen. Es muss eine gesicherte Öffnung für Tageskliniken möglich sein. Hochschulen und Universitäten müssen eine dauerhafte Öffnungsperspektive haben, und Anlaufstellen müssen für Schüler und Auszubildende genauso geschaffen werden, wie es sie bereits für Studenten gibt.

(Zustimmung)

Ich selbst kann für mich nur sagen, dass ich dankbar bin, wie mich in diesen schweren Momenten meine Familie, meine Freunde und mein Umfeld aufgefangen haben; denn ohne mein Umfeld hätte ich in dieser Situation häufig nicht gewusst, wie es weitergeht. Ich kann mir zwar nicht komplett, aber seit dem letzten Jahr doch ziemlich gut vorstellen, wie sich junge Menschen fühlen müssen, die in der Pandemie ihren Schulabschluss gemacht und mit ihrer Ausbildung oder ihrem Studium begonnen haben. Ich möchte euch, die jetzt vielleicht auch gerade zuschauen, versichern: Ihr seid nicht allein und wir werden euch nicht vergessen. - Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.

(Beifall)


Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:

Danke, Herr Pott. - Für die Landesregierung spricht Frau Ministerin Grimm-Benne.

(Zuruf: Es gibt eine Frage!)

- Wo?

(Zuruf: Hier!)

- Wer? - Ach so. Das haben wir nicht gesehen. - Dann noch einmal zurück. Es gibt eine Frage. Bitte.

Dr. Anja Schneider (CDU):

Herr Pott, ganz kurz. Zum Ersten möchte ich Sie bitten, nicht nach außen zu geben, dass jeder zweite Student eine Depression hat. Depression ist eine ICD-Diagnose. Es geht um depressive Verstimmung. Seien Sie damit ein bisschen vorsichtig.

(Zustimmung)

Das Zweite ist: Haben Sie eine zahlenmäßige Übersicht darüber, wie viele Studenten einen Ansprechpartner an der Uni bei Problemen in Anspruch genommen haben?


Konstantin Pott (FDP):

Es gibt Anlaufstellen für Studenten von den Studentenwerken. Teilweise sind diese aber auch eingeschränkt. Zum einen konnten die Behandlungen nur digital stattfinden, was natürlich nicht das Gleiche ist wie in Präsenz. Zum anderen sind diese manchmal personell nicht so gut ausgestattet, wie man das gern hätte, um wirklich eine gute Behandlung sicherzustellen und dauerhaft eine Anlaufstelle zu haben, gerade in der Coronazeit, wo die Nachfrage noch einmal höher war.

(Zustimmung)