Tagesordnungspunkt 24

Beratung

a)    Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung im Land Sachsen-Anhalt sicherstellen

Antrag Fraktion Die Linke - Drs. 8/5014

b)    Eine Gesellschaft für Alle. Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention mit neuem Landesrahmenvertrag voranbringen.

Antrag Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drs. 8/5025


Die Einbringung des Antrags der Fraktion Die Linke erfolgt jetzt durch Frau Anger. Danach wird Frau Sziborra-Seidlitz für die GRÜNE-Fraktion sprechen. - Frau Anger, bitte schön, Sie können den Antrag jetzt einbringen. 


Nicole Anger (Die Linke): 

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Nichts über uns ohne uns“, dieser zentrale Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention ist auch ein Versprechen, das sich das Land Sachsen-Anhalt zu eigen gemacht hat. Dieses Prinzip bedeutet nicht weniger, als dass Menschen mit Behinderungen an allen Entscheidungen beteiligt werden müssen, die sie betreffen. Es ist zugleich ein Aufruf und eine Ermutigung zur aktiven Teilhabe für alle. Wir alle sind gefragt. Gemeinsam müssen wir dafür sorgen, dass Teilhabe nicht nur eine Floskel bleibt. Das gilt, meine Damen und Herren, zuvorderst auch für die Landesregierung.

Doch die Realität sieht anders aus. Die nach wie vor ungelöste Situation um den Landesrahmenvertrag spricht eine deutliche Sprache. Menschen mit Behinderungen wurden weder gefragt, noch gehört, noch einbezogen, an keiner Stelle. Das, meine Damen und Herren, ist ein Skandal.

(Zustimmung bei der Linken)

Sie alle wissen, die Landesregierung hat den Landesrahmenvertrag im März vorigen Jahres überraschend und einseitig zum 31. Dezember 2024 gekündigt, immer mit der Betonung, man wolle das Ziel des Bundesteilhabegesetzes und der UN-Behindertenrechtskonvention besser umsetzen, man wolle mehr personenzentrierte Leistungen, Ambulantisierung und Deinstitutionalisierung. Doch was geschah danach? - Bereits im Oktober vorigen Jahres   das war die klare Zusicherung sowohl hier im Plenum als auch im Sozialausschuss   sollte ein neuer Landesrahmenvertrag vorliegen, und zwar ein geeinter Vertrag, ein Vertrag, bei dem alle Beteiligten den inhaltlichen Punkten zustimmen müssen, und zwar einstimmig.

Und jetzt? - Heute ist der 23. Januar 2025. Es gibt keinen neuen Landesrahmenvertrag. Aber es kommt noch schlimmer: Auch die angekündigte Rechtsverordnung gibt es nicht. Es gibt keine rechtsgültige Verordnung bis zum heutigen Tag. Ich habe vorhin extra noch einmal in mein Postfach geguckt. Es war leer.

Noch in der vergangenen Woche wurde im Sozialausschuss darauf hingewiesen, dass die Verordnung auf der Webseite des Ministeriums einsehbar sei. Doch auf Nachfrage hin, ob diese Verordnung ohne Unterschrift und Datum überhaupt rechtsgültig sei, wurde klar gesagt, nein, sie sei es nicht. Eine rechtswirksame Verordnung, so hieß es, sollte am 20. Januar 2025 im Gesetzesblatt veröffentlicht werden. Aber, meine Damen und Herren, gesehen habe ich davon bis heute nichts, und heute ist der 23. Januar. Die Zeit läuft weg. Das ist nicht nur inakzeptabel, das ist zudem unverantwortlich. Das ist auch symbolisch eine Antwort auf die Frage, warum kein neuer Landesrahmenvertrag geeint werden konnte. 

Meine Damen und Herren! Bereits im Vorfeld gab es erhebliche Kritik an der geplanten Verordnung, berechtigte Kritik. Bis heute reißt diese nicht ab. Es gibt nicht nur Kritik, es gab auch Protestmärsche. Es gab tagelange Mahnwachen im Dezember vor dem Landtag. Es gab die Bitte in einem offenen Brief an den Ministerpräsidenten um ein Krisengespräch, ein Hilferuf von den Leistungsberechtigten und den Leistungserbringern. Was wurde daraus? Wann fand dieses Krisengespräch statt? - Es gab keinen Termin für ein Gespräch.

Die Verhandlungen über den Landesrahmenvertrag zur Eingliederungshilfe hätten in der zuständigen GK 131 einvernehmlich erfolgen müssen. Das bedeutet: Einstimmigkeit, nicht eine bloße Mehrheitsentscheidung, sondern die Zustimmung aller Mitglieder der GK. Doch nun zeigt sich, wesentliche Punkte in der Rechtsverordnung sind gar nicht einvernehmlich beschlossen worden, obwohl das Ministerium diesen Eindruck erweckt. Diskussionsstände in der GK 131 haben an keiner Stelle zu einer Einigung geführt. Ungeachtet dessen sind sie in die noch nicht rechtsgültige Rechtsverordnung eingeflossen. 

Ein besonders gravierendes Beispiel sind die Personalrichtwerte. Leistungserbringer haben immer wieder klargestellt, eine Reduzierung des Personals ist keine Option. 

(Unruhe)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding: 

Frau Anger, einen Augenblick, bitte. - Es wird langsam so laut, dass man sehr viel Mühe hat, die Rednerin zu verstehen, selbst wenn man scharf zuhört. Ich bitte doch darum, den Geräuschpegel deutlich zu dämpfen und Gespräche, die notwendig sind, und auch nicht notwendige Gespräche vielleicht nach außerhalb zu verlagern. - Bitte schön, Frau Anger.


Nicole Anger (Die Linke): 

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Personal ist das Herzstück von Assistenzleistungen, sei es bei der Unterstützung, sei es bei der Begleitung oder sei es bei der Förderung von Menschen mit Behinderung. Trotzdem enthält die nicht rechtsgültige Verordnung Regelungen, die faktisch zu einer Verschlechterung der Personalsituation führen werden. Das ist nicht nur nicht geeint in der GK, das ist auch ein klarer Verstoß gegen die Ziele des Bundesteilhabegesetzes und der UN-Behindertenrechtskonvention. 

(Ulrich Siegmund, AfD: Na ja!)

Es ist nicht plausibel, wie die erklärten Ziele des Landes mit weniger Personal umgesetzt werden sollen. Ja, das steht sogar völlig im Widerspruch zu dieser Zielstellung. Das ist weder Teilhabe noch Inklusion. Es ist das genaue Gegenteil davon, meine Damen und Herren; denn, wenn ich mehr Ambulantisierung will, wenn ich die Teilhabe und Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung stärken will, dann muss ich ihnen die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung stellen und diese ihnen nicht nehmen. Personenzentrierte Leistung heißt Personalbedarf bei den Leistungserbringern.

Richtig absurd wird es, wenn das zuständige Ministerium ernsthaft versucht zu erklären, dass die von ihm geforderte Deinstitutionalisierung ausgerechnet innerhalb der Einrichtungen stattfinden soll.

Meine Damen und Herren! Jetzt fragen Sie sich einmal: Was antwortet das zuständige Ministerium, wenn Sie nachfragen, ob und, wenn ja, wie Menschen mit Behinderung an diesem Prozess beteiligt wurden? - Die Antwort ist genauso klar wie erschütternd: gar nicht. Es gab nicht einmal die angekündigte Information in leichter Sprache. Ganz im Gegenteil: Die Beteiligung wurde schlichtweg ignoriert. Lediglich die LIGA und der Landesbehindertenbeauftragte erhielten den Entwurf der Rechtsverordnung, ein Dokument in einem Umfang von 378 Seiten. Was tat das Ministerium? - Es setzte eine Frist für die Stellungnahme von exakt fünf Werktagen. Meine Damen und Herren! Das ist nicht nur unangemessen, es ist auch inakzeptabel und erklärt einiges. Sichtbar ist, an wem es liegt, dass kein Rahmenvertrag zustande gekommen ist.

Allerdings, man könnte fast meinen, es wäre ein Lichtblick, dass die LIGA und der Landesbehindertenbeauftragte überhaupt angeschrieben wurden; denn das Ministerium hat es nicht einmal für nötig gehalten, den Landesbehindertenbeirat einzubinden, und das obwohl im Behindertengleichstellungsgesetz klar geregelt ist: 

„Der [Landesbehindertenbeirat] berät die Landesregierung in allen Angelegenheiten, die […] die Belange von Menschen mit Behinderungen [betreffen].“ 

Noch eindeutiger: 

„[Er] wird bei Gesetzgebungs- und Verordnungsvorhaben angehört, soweit diese für Menschen mit Behinderungen von besonderer Bedeutung sind.“

Meine Frage: Was, wenn nicht die Rechtsverordnung zur Eingliederungshilfe oder auch der Landesrahmenvertrag, ist von besonderer Bedeutung für Menschen mit Behinderungen? Sie betreffen das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen und damit ihre eigene Entscheidung darüber, wie und wo sie leben möchten. 

Meine Damen und Herren! Es ist ein absoluter Skandal, wie das Ministerium die Menschen mit Behinderung ignoriert und ihre Rechte beschneidet. Statt endlich überfällige Teilhabeprozesse zu gestalten, wird wieder einmal über Menschen mit Behinderung entschieden statt mit ihnen. Die Landesregierung verletzt damit nicht nur den Grundsatz „Nichts über uns ohne uns“, sondern verhindert auch jegliche echte Teilhabe und Selbstbestimmung in diesem Prozess.

Lassen Sie uns auch einmal ganz formal auf den Ablauf gucken, wenn auch mit einer nicht rechtsgültigen Rechtsverordnung. In der Eingliederungshilfe stellen Leistungserbringer in der Regel für das Folgejahr bis zum 30. September einen Antrag auf Verhandlungen. Dazu reichen sie alle erforderlichen Kalkulationen ein. Danach bleiben genau zwölf Wochen Zeit, um sich mit der Sozialagentur   normalerweise immer vor dem 1. Januar   zu einigen. Das ist aber bereits in den letzten Jahren nicht mehr gelungen, wie man an den vielen Schiedsstellenverfahren sieht. Allein in den Jahren 2023 und 2024 wurden mehr als 900 Verfahren bei der Schiedsstelle eingereicht, mehr als 760 davon sind noch offen. Das macht den Systemfehler mehr als deutlich. 

Jetzt gibt es die Ankündigung der Rechtsverordnung. Wenn sie tatsächlich noch heute veröffentlicht werden würde   ein paar Stunden sind ja noch übrig vom Tag  , dann könnten Leistungserbringer auch ab heute zu Verhandlungen auf Grundlage dieser aufrufen. Nehmen wir entgegen unseren Erfahrungen einmal optimistisch an, die Leistungserbringer und die Sozialagentur erzielen bis zum Ablauf von zwölf Wochen eine Einigung, Sie merken schon, dann sind wir bereits bei Ende April.

Gleichzeitig hat die Landesregierung bereits angekündigt, einen neuen Landesrahmenvertrag bis Ende März vorlegen zu wollen. Sie sehen das Problem, oder? Mit dieser Rechtsverordnung, so spät sie auch kommt, werden Fristen geschaffen, die bereits bei ihrer Veröffentlichung nicht mehr einzuhalten sind; denn mit dem angekündigten Landesrahmenvertrag werden diese Fristen hinfällig - obsolet von Anfang an. Man fragt sich: Welchen Sinn macht dann noch eine Rechtsverordnung? Ich bleibe dabei, es drängt sich der Verdacht auf, mit dieser Rechtsverordnung sollen Fakten geschaffen werden, Fakten, die auf vielen in der GK nicht geeinten Punkten basieren wie der Reduzierung des Personals, nur um diese anschließend durch den neuen Landesrahmenvertrag einseitig zu verstetigen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Fakt ist, dieser Prozess ist weder zielführend noch seriös. Vor allem ist er nicht im Sinne der Menschen mit Behinderung. „Nichts über uns ohne uns“ darf keine Worthülse auf der Webseite des Sozialministeriums bleiben. - Vielen Dank.