Tagesordnungspunkt 1

Befragung der Landesregierung gemäß § 45a GO.LT


Wir starten heute mit dem Vizepräsidenten in Vertretung für Die Linke. - Herr Gallert, bitte.


Wulf Gallert (Die Linke): 

Danke, Herr Präsident! - Werte Kollegen und werte Kolleginnen! Werte Vertreter der Landesregierung! Wir waren in den letzten Wochen Zeuge, dass sich viele Menschen, mehrere Tausend, zwei Mal auf dem Domplatz versammelt und protestiert haben. Sie haben nicht nur protestiert, weil sie um ihre Arbeitsplätze fürchten, was an sich schon ein legitimes Motiv gewesen wäre, sondern weil sie vor allen Dingen darum fürchten, dass die Schwächsten unserer Gesellschaft, nämlich Menschen mit Behinderungen und Menschen, die in besonderen Wohnformen und in besonderen Werkstätten sind, mit einer sich deutlich verschlechternden Umgebung und mit einer sich deutlich verschlechternden Situation in ihrem Leben und bei den Möglichkeiten der Teilhabe zu tun haben werden.

Der Grund für diese absolut realistischen Befürchtungen ist eine Rechtsverordnung, die diese Landesregierung vorgelegt hat. Es ist eine Rechtsverordnung, die einen massiven Einschnitt bei der Betreuung und bei der Begleitung von Menschen mit Behinderungen vorsieht, sodass sie deren Lebensumstände radikal verschlechtern würden. Allein schon bei solchen Zielen wie der Ambulantisierung von Menschen mit Behinderungen in einer selbstständigen Wohnform würde diese Rechtsverordnung bedeuten, dass die Betreuungsleistung um sage und schreibe 17 % gesenkt wird. 

Wir haben alle Einrichtungen in unseren Wahlkreisen, die ganz deutlich gesagt haben, was das für sie bedeuten würde. Der Julianenhof in Havelberg, in dem 46 Menschen mit vielen schweren Behinderungen leben, hat z. B. gesagt, sie müssten ihr Personal, das für die Betreuung zur Verfügung steht, um 10 % reduzieren, was bei der Betreuung dieser Menschen gewaltige Auswirkungen hätte. All das ist bei der Landesregierung angekommen. 

Ich frage die Landesregierung: Wie reagiert sie auf diese Proteste? Welche Lehren sind aus der Tatsache, dass diese Menschen auf die Straße gegangen sind, um für ihre Rechte zu kämpfen, gezogen worden? - Danke.

(Zustimmung bei der Linken)


Präsident Dr. Gunnar Schellenberger: 

Frau Ministerin Grimm-Benne, bitte.


Petra Grimm-Benne (Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung): 

Sehr geehrter Herr Abg. Gallert, ich habe schon bei der ersten Demo meine Punkte genannt und ich habe auch sehr anschaulich die Befürchtung widerlegt, die die Träger dort genannt haben. Wir haben die Rechtsverordnung heute Morgen im Kabinett beschlossen. Wir haben alle Punkte diskutiert und darin aufgenommen, die eine Rolle gespielt haben in dem Forderungskatalog der Verbände.

Wir haben aus den Stellungnahmen, die wir auch schriftlich bekommen haben, noch einmal die Punkte herausgenommen, die den Trägern besonders wichtig waren, und haben gesagt, dass die auf dem Wege der Verhandlungen ab 1. Januar 2025 weiter umgesetzt werden sollen. Das war insbesondere die Abwesenheitsregelung, die wir aus der Rechtsverordnung wieder herausgenommen haben.

Wir haben auch hinsichtlich der Werkstätten schon auf dem Verhandlungswege Zielvereinbarungen mit den jeweiligen Träger gemacht. Wir haben aber insbesondere die Diskussion über die Zweitkräfte auch wieder aus der Rechtsverordnung herausgenommen. 

Anhand dieser zwei Beispiele sehen Sie schon, dass wir sehr wohl noch einmal diskutiert und geguckt haben, was man denn tatsächlich braucht, um diese Rechtsverordnung umsetzen zu können.

Ich will noch einmal deutlich machen - das haben wir schon mehrfach gemacht  , dass es hierbei nicht um die Trägerinteressen, sondern um die Menschen mit Behinderungen geht. 

(Zustimmung bei der SPD) 

Wir wollen insbesondere das Bundesteilhabegesetz jetzt tatsächlich umsetzen, weil wir es in der Vergangenheit, also seit sieben Jahren, in unserem Land nicht richtig umsetzen können. 

(Guido Kosmehl, FDP: Genau!)

Wir wollen weiterhin eine Modularisierung und hinsichtlich der ambulanten Möglichkeiten das Wunsch- und Wahlrecht derjenigen, die uns anvertraut sind, fördern. 

Wir wollen insbesondere auch das, was uns die UN-Behindertenrechtskonvention ins Stammbuch geschrieben hat, in diesem Land tatsächlich umsetzen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir dabei einen ganz großen Punkt weitergekommen sind.

(Zustimmung bei der SPD)


Wulf Gallert (Die Linke): 

Nun kennen wir die Rechtsverordnung, die Sie heute Morgen beschlossen haben, natürlich nicht. Aber wir kennen die Rechtsverordnung, die ursprünglich vorgelegt worden ist. Ich sage noch einmal ausdrücklich Folgendes: Das Ziel der Deinstitutionalisierung, das Sie auch im Zusammenhang mit der Behindertenrechtskonvention hier angeführt haben, kann man nicht erreichen, indem man die Personalstärken streicht, die bisher vorhanden waren. 

Bei dem einen Beispiel, nämlich der Ambulantisierung, habe ich gesagt, dass das ursprünglich mal das Ziel war. Aber wenn ich gerade für ambulante Wohnformen vorschlage, 17 % der Betreuungszeit zu streichen, dann ist das kein Beitrag zur Ambulantisierung und auch nicht zur Deinstitutionalisierung. 

Wenn das aber so ist, wie Sie es sagen, dass die Dinge zurückgenommen werden, was wir nicht wissen, weil wir es erst erfahren werden, frage ich einmal: Welche Konsequenzen hat das denn jetzt für die Haushaltsberatungen? Für die Haushaltsberatungen haben wir jetzt die Situation, dass Sie für das Jahr 2025 genau die Summe eingestellt haben, nämlich 711 Millionen €, die das Ist 2024 bedeuten. Es sind keine Tarifsteigerungen enthalten. Wir wissen auch, dass wir es mit einer permanenten Erhöhung der Fallzahlen aufgrund der demografischen Situation zu tun haben.

Wie sehen Sie diese Geschichte? Welche Konsequenzen hat das jetzt für die Haushaltsberatungen? Denn wir können nun nicht davon ausgehen, dass es bei gleichbleibender Qualität weder Tariferhöhungen noch sonst irgendwelche Kostensteigerungen gibt. Was soll jetzt daraus resultieren?


Petra Grimm-Benne (Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung):

Erst einmal haben wir gesagt, dass alle bestehenden Leistungsvereinbarungen weiterhin Bestand haben und dass über sie tatsächlich erst bei der Umstellung neu zu verhandeln ist. Wir haben Übergangsregelungen in der Rechtsverordnung. Und ich sage jetzt einmal: Ich bin schon sehr lange im Parlament.

(Oliver Kirchner, AfD: Ja, das ist das Problem!)

Der Entwurf der Rechtsverordnung ist seit mehr als einer Woche sowohl in den Systemen des Kabinetts als auch in der Fachöffentlichkeit sehr wohl schon vorhanden. Alle wissen im Grunde genommen schon, was auf sie zukommt.

Der Personalabbau, den Sie hier darstellen, ist mitnichten vorhanden, weil ich gesagt habe, die Vereinbarungen, die abgeschlossen worden sind, laufen weiter. Das war ein ganz wichtiger Bereich. Und zu den 66 Millionen €, die wir als überplanmäßige Ausgabe schon im Jahr 2024 gehabt haben, muss gesagt werden, das das erst mal eine sehr stolze Summe ist. 

Ich möchte Ihnen widersprechen, wenn Sie sagen, dass die Behindertenzahlen zunehmen. Das tun sie nämlich nicht. In dem gleichen Bereich nehmen wir irgendwie seit den Jahren 2023 und 2024 im 100-Millionen-€-Schritt Steigerungen vor. Und sehr wohl sind schon Tarife abgebildet worden.

Außerdem habe ich schon bei der ersten Demo die folgende Sicherheit gegeben: Wenn die Tarife ab 1. Januar 2025 verhandelt sind und umgesetzt werden, dann wird die Sozialagentur mit den jeweiligen Trägern das Personal, was dort vorhanden ist, tatsächlich auch hinsichtlich des Tarifes umstellen. Wir werden auch gleich dafür sorgen, dass wir eine Umstellungsvereinbarung bekommen, damit wir tatsächlich zügiger mit den jeweiligen Trägern in die Umstellung kommen und nicht das mühevolle Verfahren über die Anrufung der Schiedsstellen wählen müssen.


Wulf Gallert (Die Linke): 

Noch eine letzte Nachfrage: Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie gesagt haben, dass die jetzt beschlossene Rechtsverordnung gegenüber dem Ist-Zustand 2024 keine Verschlechterung des Personalschlüssels beinhaltet?


Petra Grimm-Benne (Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung):

Doch. Der Personalschlüssel - das haben wir immer gesagt - wird sich in den leichteren Fällen durch die Modularisierung verändern, weil wir insbesondere sagen, dass wir z. B. in einer Wohngruppe nicht alle gleich mit Komplexleistungen behandeln können, sondern dass wir die Betroffenen nach dem Wunsch- und Wahlrecht und dem, was die Menschen mit Behinderungen wählen und brauchen, bedienen müssen; denn sie haben alle selbst einen Bedarf, der abgedeckt werden muss, der sehr unterschiedlich ist. Da wird es natürlich schon zu Veränderungen kommen. 

Das muss aber der jeweilige Träger tatsächlich so umstellen. Wir gehen nach wie vor davon aus, dass keine Kündigungen notwendig sein werden.