Cornelia Lüddemann (GRÜNE): 

Sehr geehrte Damen und Herren! Wer am 8. Dezember dieses Jahres die herzzerreißenden Videos aus Syrien gesehen hat,

(Dr. Hans-Thomas Tillschneider, AfD: Herzzerreißend!)

wer wahrgenommen hat, wie die Menschen förmlich vor Freude und Zuversicht aufgeblüht sind, wer gesehen hat, wie zutiefst erschüttert die Berichte der Überlebenden aus den Foltergefängnissen waren, wer gehört hat, wie Menschen dort jahrzehntelang zusammengepfercht dem Tod durch Hunger und Durst überlassen waren, der konnte nicht anders, um es mit Erich Fromm zu sagen, als darauf mit offenem Herzen zu reagieren. 

Es war wirklich erschütternd, was ich aus den Gräuelgefängnissen Assads wahrnehmen musste. Dass die AfD heute sich und ihr perfides menschenverachtendes Narrativ bestätigt hat, das ist für mich nichts Neues, das hatte ich tatsächlich so erwartet.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Es spottet jeder Gerechtigkeit, dass sich Assad wohl nie vor dem Internationalen Strafgerichtshof wird verantworten müssen.

(Dr. Hans-Thomas Tillschneider, AfD: Hoffentlich nicht!)

Seine Aufnahme in Russland aus humanitären Gründen, wie es formuliert wurde, 

(Dr. Hans-Thomas Tillschneider, AfD: Ja!)

belegt einzig, wie nah Putin Diktatoren ist. Es ist klar, man umgibt sich immer gern mit seinesgleichen.

Was mich aber ob der intrinsischen Schnelligkeit doch überrascht hat, ist, wie ein Kanzlerkandidat dieser Bundesrepublik Deutschland angesichts dieser auf der einen Seite wirklich erschütternden und auf der anderen Seite erfreulichen Bilder sofort affektiv reagiert hat, nämlich als Erstes zu rufen: Die müssen weg, die müssen weg, die müssen weg!

Ich erinnere mich an die ersten Reaktionen von Jens Spahn und Friedrich Merz. In dieser historischen Stunde des Glücks und dramatischer Schicksale

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

als Erstes zu sagen: Oh, super, Assad ist weg, jetzt können all die Syrer wieder nach Hause, 

(Zustimmung bei der AfD)

das ist für eine christliche Partei absolut unangemessen. Mir macht es Angst, wenn das der Kanzlerkandidat der Bundesrepublik Deutschland sagt.

(Zustimmung bei den GRÜNEN - Guido Kosmehl, FDP: Der Kanzlerkandidat der CDU/CSU!)

Es tritt etwas nach außen, was offensichtlich permanent in den Köpfen dieser Männer passieren muss. Ich stelle mir das als einen politischen Tinnitus vor, bei dem immer wieder ein enervierender Monolog gehalten wird: Die Fremden stören, die Fremden stören, die Fremden stören. Bei der allerersten Gelegenheit fällt ihnen nichts anderes ein als: Die Fremden müssen weg!

Auf der nach oben offenen Messskala für menschenverachtenden Rechtspopulismus erreichen diese Einlassungen, die nach Abschiebung lechzen, luftige Höhen. Es ist absolut schäbig, den Bundeskanzler Olaf Scholz sofort dazu aufzufordern, jetzt alles zu tun, damit alle Syrer wegkommen und Terroranschläge in Deutschland verhindert werden.

(Guido Kosmehl, FDP: Das hat er aber selber gemacht!)

Das ist keine Willkommenskultur, das ist kein menschlicher Anstand, das ist Fremdenfeindlichkeit.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Auch wenn es nicht justiziabel ist, ist es genau das und muss man es so klar benennen: Das ist gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und eines Kanzlerkandidaten unwürdig.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Aber nicht nur der Anstand sollte einen vor allzu schnellen migrationspolitischen Kurzschlüssen bewahren, sondern auch eine schlichte, nüchterne Situationsanalyse. Es mag sein, dass sich der Schutzstatus der Menschen verändert hat, aber es verändert sich nicht die Schutznotwendigkeit.

(Guido Kosmehl, FDP: Na ja!)

Es enthebt uns nicht der Aufgabe, im Einzelfall zu prüfen 

(Guido Kosmehl, FDP: Im Einzelfall!)

- im Einzelfall  , ob diese Menschen Asyl in Deutschland bekommen. Ich sage ganz klar, ich traue es mir nicht zu, die Lage in Syrien zu beurteilen. Ich kenne auch niemanden, der die Lage in Syrien beurteilen kann. Es gilt, erst einmal Strukturen zu schaffen, in denen sich dann ein demokratisches System entwickeln kann. Wir brauchen Garantien für die Einhaltung der Grundrechte für alle Bürgerinnen und Bürger.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Wir brauchen Garantien für religiöse Freiheiten, geschützte Minderheitenrechte und Frauenrechte im neuen Syrien. Ich hoffe sehr, dass das passieren wird, aber der dschihadistische Hintergrund bspw. der HTS-Rebellenmilizen lässt mich skeptisch sein.

Die Lage ist unübersichtlich und die Lageeinschätzung auch für die Kolleginnen und Kollegen im Auswärtigen Amt im Moment nicht einfach. Ich bin sehr froh darüber, dass sowohl das Auswärtige Amt als auch die EU insgesamt vorsichtig sind, dass sie vor Ort sind mit den ersten Menschen, um sich vor Ort ein Bild von der Lage zu machen und um dann, wie es auch Kolleginnen und Kollegen schon sehr richtig gesagt haben, gemeinsam als EU zu reagieren.

Man sollte bei der Debatte auch bedenken   auch das ist schon gesagt worden  , dass 160 000 Syrerinnen und Syrer inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft haben, rund 3 000 davon in Sachsen-Anhalt. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, mich macht es stolz, dass sich allein im vorigen Jahr 75 000 Menschen aus Syrien für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden haben; 

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

denn diese Menschen glauben an das Freiheitsversprechen des deutschen Grundgesetzes, und das finde ich echt stark.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ansonsten sollten wir mit diesen ganzen abseitigen Bullshit-Debatten aufhören. Wir sollten uns ernsthaft mit der Lage in Syrien auseinandersetzen und lieber überlegen, was könnten wir dazu beitragen, um ein demokratisches Syrien wiederaufzubauen; denn das wird eine Mammutaufgabe.

(Zuruf von Daniel Rausch, AfD)

Ich bin sehr froh darüber, dass Außenministerin Annalena Baerbock einen Achtpunkteplan in diese Richtung vorgelegt hat. In zwei Punkten werden direkte Aufträge für die Bundesrepublik formuliert.

(Oliver Kirchner, AfD: Fahren Sie doch runter! Dann wird das was!)

Es geht auf der einen Seite um humanitäre Hilfe und Wiederaufbau, begleitet von möglichen Aufhebungen von Sanktionen. Aber auch das kann man zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesichert tun. Auf der anderen Seite geht es bezogen auf die hier lebenden Menschen aus Syrien um die Schaffung von Bedingungen für eine freiwillige, sichere und würdevolle Rückkehr syrischer Flüchtlinge. Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist verantwortungsbewusste, wertegeleitete und sachorientierte Politik.

(Nadine Koppehel, AfD: Das merkt man!)

Man kann sich derart produktiv in die politische Debatte einbringen, man kann aber auch den Tweet von Friedrich Merz liken. Diese Aussage ist nicht nur inhuman, sie ist auch auf sträfliche Weise kurzsichtig. Viele Menschen aus Syrien sind hier bestens integriert. Sie stehen früh auf, sie schneiden anderen die Haare, sie kümmern sich um die Gesundheit anderer Menschen. Die Kinder gehen zur Schule, sie besuchen hier die Moschee, sie zahlen Steuern.

(Nadine Koppehel, AfD: Was hätten wir nur ohne die Syrer gemacht!)

Sie leben in Freiheit und Würde. Sie stehen auf eigenen Füßen und tragen zu unserer aller Gemeinwohl bei.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Allein in Sachsen-Anhalt sind 5 041 Menschen in Lohn und Brot. Ich glaube, diese Menschen, Ärzte, Logistiker   wir haben alle gelesen, wie schwierig die Situation werden würde, wenn wirklich alle auf einen Schlag unser Land verlassen würden  , sollte man nicht aus ihrem Leben reißen. Zu wessen Nutzen wäre das denn bitte schön? Also sollten wir nicht nach schneller Abschiebung rufen.

(Oliver Kirchner, AfD: Doch!)

Wir haben die politische Aufgabe zu überlegen, wie können wir die syrischen Menschen und auch andere Menschen mit migrantischem Hintergrund schneller in den Arbeitsmarkt integrieren. Ich glaube, es rächt sich, was Gott sei Dank inzwischen geändert wurde, dass lange Zeit das Primat der deutschen Politik war, erst Spracherwerb, dann Arbeit. Das war falsch, das hat sich gezeigt. Deswegen heißt es jetzt zu recht, Spracherwerb bei der Arbeit.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Es ist für unsere Gesellschaft fahrlässig zu glauben, dass irgendetwas besser würde, wenn 140 000 Menschen aus Sachsen-Anhalt morgen abgeschoben würden. Wenn diese Menschen allerdings nach Syrien zurückwollen   auch das ist mir wichtig  , wenn sie sich dafür entscheiden, zu einem Zeitpunkt, den sie für richtig halten, ihr Heimatland wiederaufzubauen, dann müssen wir sie darin unterstützen; denn es ist ihre Entscheidung. Wer aber eine Zukunft hier sieht, wer sich hier integriert hat, wer sich hier einbringt, der sollte auch hierbleiben dürfen.

Ein Punkt, der noch nicht in der heutigen Debatte genannt wurde, der aber ein konstruktiver Beitrag gerade von uns Ostdeutschen sein könnte, wäre ein Angebot an Syrien, es bei der Sicherung der Beweise der syrischen Geheimdienste zu unterstützen. In dem Gefängnis Saidnaya oder in anderen Foltergefängnissen gibt es eine Unzahl an Dokumenten. Ein Übermaß an Dokumenten ist dort sichtbar geworden. Im Prinzip treten jeden Tag neue Dokumente zutage.

Manches erinnert mich tatsächlich ein bisschen an das, was wir vor 35 Jahren erlebt haben. Es erinnert mich an ein Regime, das wirklich dokumentiert hat bis zum Get-no, um das einmal so zu sagen. Ich glaube, gerade wir mit unserer Erfahrung wissen, wie wichtig Aufarbeitung ist, Aufarbeitung für die Menschen in Syrien, um in Zukunft gut miteinander leben zu können, aber auch um eine demokratische Basis im Land zu schaffen. Hierfür ein Hilfsangebot zu machen, um diese Aufarbeitung leisten zu können, das wäre ein konstruktiver Part, den wir übernehmen könnten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten nicht alle Menschlichkeit vergessen mit der paradoxen Merz’schen Haltung, Fremdenfeindlichkeit bis zur Selbstbeschäftigung und populistische Affektpolitik wider deutsche Interessen zu machen. Es geht hier nicht zuvörderst um uns, es geht zuvörderst um die Menschen in Syrien. Das dürfen wir nie vergessen. - Vielen Dank. 

(Zustimmung bei den GRÜNEN)


Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:

Danke, Frau Lüddemann.