Rüdiger Erben (SPD): 

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Manchmal geschieht es schneller als gedacht und gehofft: Dann fallen jahrzehntelang währende Diktaturen und Terrorregime innerhalb weniger Tage in sich zusammen wie ein wackeliges Kartenhaus.

(Zuruf von Oliver Kirchner, AfD)

Was ist in Syrien in den letzten Tagen und Wochen passiert? Das mörderische Assad-Regime, das mehr als 54 Jahre lang das Land terrorisierte, mehr als 600 000 Menschen ermordete, rund 7 Millionen Syrerinnen und Syrer vertrieb und seit 2011 einen brutalen Bürgerkrieg führte, gibt es nicht mehr. Der Diktator Assad ist weg, geflohen nach Moskau zu einem anderen Diktator.

(Oliver Kirchner, AfD: Und wer ist jetzt da?)

In den letzten Tagen wird auch das Ausmaß des Terrors in Syrien sichtbar, als die Türen und Tore des berüchtigten Gefängnisses - von den Syrern auch „Schlachthof“ genannt - geöffnet wurde und Tausende Häftlinge befreit wurden. Viele Menschen waren dort seit vielen Jahren ohne Prozess in Haft. Sehr viele, wahrscheinlich Zehntausende Häftlinge haben Folter nicht überlebt, wurden hingerichtet. Viele Syrer suchen jetzt nach seit Jahren vermissten Angehörigen, die in den Gefängnissen verschwanden. Sie sind unsicher, ob sie überhaupt noch leben. 

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass dieses Terrorregime sein Ende gefunden hat, ist ein Grund zur Freude.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung von Cornelia Lüddemann, GRÜNE)

Wir freuen uns mit den vielen Syrerinnen und Syrern, dass es so gekommen ist und dass sie nun eine Chance auf ein sicheres, freies und vielleicht auch demokratisches Syrien haben, in dem alle Ethnien und Religionen friedlich zusammenleben können. 

Der Weg, den Syrien nun vor sich hat, wird nicht einfach sein. Bei vielen Geflüchteten mischt sich neben der großen Freude, dass die Assad-Diktatur zu Ende ist, auch große Sorge und Unsicherheit angesichts der Zukunft. Was wir nicht brauchen, sind überstürzte populistische Forderungen. Besonders perfide ist das, was     Herr Tillschneider scheint heute nicht hier zu sein.

(Dr. Hans-Thomas Tillschneider, AfD, betritt den Plenarsaal - Zurufe von der AfD: Doch! - Olaf Meister, GRÜNE: Doch, da ist er wieder! - Susan Sziborra-Seidlitz, GRÜNE: Doch!)

- Wo ist er? - Ach, dort ist er; er kommt gerade herein.

Sie, Herr Tillschneider, fordern offen Solidarität mit dem syrischen Diktator Assad und meinen, die Befreiung Syriens sei ein - ich zitiere - orchestrierter Staatsstreich des Westens gewesen.

(Dr. Hans-Thomas Tillschneider, AfD: Ja!)

Also, einen solchen Nonsens können wahrscheinlich nur Sie sich ausdenken. 

(Zustimmung von Dr. Katja Pähle, SPD)

Die Berichte über Folter und Hinrichtungen, über den Chemiewaffeneinsatz gegen das eigene Volk blenden Sie dabei konsequent aus. Aber wir wissen, dass Sie Diktatoren gern bewundern. Die AfD steht ja auch in einer gewissen Denktradition: Waren es doch deutsche Nazis, die die Familie Assad beim Aufbau ihres Überwachungs- und Folterapparats tatkräftig unterstützt haben.

(Zuruf von der AfD - Olaf Meister, GRÜNE: Darüber sollte man nachdenken!)

Denken Sie bspw. an Alois Brunner, der für viele Jahre in Syrien Zuflucht gefunden hat.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung von Stefan Gebhardt, Die Linke)

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Lage in Syrien ist wenige Tage nach dem Sturz des Assad-Regimes weiterhin unübersichtlich, noch immer sehr gefährlich und entwickelt sich dynamisch. Daher war es richtig, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beschlossen hat, die Entscheidung über Asylanträge zunächst zurückzustellen und dann zu bewerten, wenn sich die Lage im Land stabilisiert hat. 

Aber wer jetzt, wenige Tage nach dem Ende einer Diktatur, nichts Besseres zu tun hat, als eine schnelle Rückkehr in ein Bürgerkriegsland zu fordern, der sollte einmal sein Menschenbild - sein christliches Menschenbild - überprüfen und darüber nachdenken, welche Signale man mit solchen Forderungen an die hier lebenden Menschen aussendet, die bei uns Schutz gefunden haben.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung von Andreas Silbersack, FDP, und von Kathrin Tarricone, FDP)

Denn, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, über wen reden wir eigentlich? - Laut Statistischem Bundesamt leben derzeit 974 136 Syrerinnen und Syrer bei uns. Frau Ministerin hat es gestern und auch heute betont: In Sachsen-Anhalt sind es knapp 30 000, darunter 11 000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Viele der Geflüchteten sind seit vielen Jahren bei uns, haben die deutsche Sprache gelernt, eine Ausbildung absolviert, verdienen ihren Lebensunterhalt durch Arbeit. Sie sind angekommen und Sachsen-Anhalt ist ihr zweites Zuhause geworden. Sie haben Familien gegründet. Ihre Kinder besuchen Kindergärten und Schulen in unserem Land. 

Seit 2015 wurde rund 4 000 Syrerinnen und Syrer die deutsche Staatsangehörigkeit verliehen. Sie sind nun Deutsche mit syrischen Wurzeln. Die Entscheidung darüber, ob sie irgendwann nach Syrien zurückkehren oder nicht, sollten wir ihnen überlassen. 

(Beifall bei der SPD)

Doch die Syrerinnen und Syrer in Sachsen-Anhalt sind nicht nur statistische Zahlen. Wie der Zufall es so wollte, bin ich am letzten Dienstag, weil ich es zu Hause nicht geschafft habe, zu einer Magdeburger Friseurkette gegangen. Ich wurde dort von einem jungen Syrer frisiert, der aus Aleppo stammt und - bevor es jetzt zu einer Diskussion kommt: es handelte sich nicht um einen Barbierladen,

(Guido Kosmehl, FDP: Ah! - Jörg Bernstein, FDP: Es gibt auch andere!)

sondern um eine Friseurkette - hier in Deutschland als junger Mann eine Ausbildung zum Friseur absolviert hat.

(Felix Zietmann, AfD: Ich bin begeistert! - Daniel Wald, AfD: Toll! - Zurufe von der AfD: Wow!)

Ich fürchte, es würde ein Loch reißen, würde er sich entscheiden     Er hat mir seine Lebensgeschichte erzählt. Die möchte ich Ihnen eigentlich überhaupt nicht vorenthalten. 

Ich denke auch an die Inhaberin einer Hohenmölsener Apotheke, die froh ist, dass sie endlich einen approbierten Apotheker für ihre Apotheke gefunden hat - im Übrigen ein Syrer, der sein Studium in Deutschland abgeschlossen und sich hier selbst Deutsch beigebracht hat. Und wer die heutige Berichterstattung verfolgt, der stellt fest: Bei der HAVAG in Halle könnten viele Straßenbahnen und Busse die Depots nicht mehr verlassen, würden nicht syrischen Fahrer hinter dem Steuer sitzen.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der Linken, bei der SPD und bei der FDP - Eva von Angern, Die Linke: Ja!)

Lassen Sie mich deutlich sagen: Unser Arbeitsmarkt braucht diese Menschen. Mehr als 5 000 Syrerinnen und Syrer sind auf dem Arbeitsmarkt hier in Sachsen-Anhalt angekommen, mehr als die Hälfte davon als Fachkräfte.

(Zuruf von der AfD: Na klar!)

Die Betriebe und vor allem das Gesundheitswesen und die Pflegeeinrichtungen sind auf diese Arbeitskräfte angewiesen. Laut der Deutschen Krankenhausgesellschaft sind von den Ärztinnen und Ärzten, die in Deutschland tätig sind, mehr als 6 000 syrischer Herkunft.

(Felix Zietmann, AfD: Von einer Million!)

Wenn wir Ihnen jetzt das Signal senden, „Ihr seid nicht mehr willkommen, wir wollen euch so schnell wie möglich loswerden“, dann ist das menschlich unanständig und für Deutschland nachteilig. 

(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie uns die weitere Entwicklung abwarten und das Land auf dem Weg in die Freiheit und in stabile Verhältnisse unterstützen.

(Zuruf von Nadine Koppehel, AfD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das zuvor Gesagte ist überhaupt kein Grund, die Augen vor Gefahren zu verschließen. Erstens. Die Gefahr, dass Schergen des Assad-Regimes nach Europa, insbesondere nach Deutschland gelangen, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Sicherheitsbehörden und die Nachrichtendienste sind gemeinsam mit ihren internationalen Partnern deshalb vor eine große Aufgabe gestellt worden. Doch an dieser Stelle muss man auch darauf hinweisen, dass die Schergen des Terrorregimes von Assad, die versuchen wollen, nach Deutschland zu fliehen, wissen müssen, dass kaum ein anderer Staat ihre Verbrechen so hart verfolgt wie Deutschland. Das sollte davor abschrecken, diesen Versuch zu wagen. Insbesondere verweise ich auf das Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz, das im Jahr 2022 das weltweit erste Urteil gegen Staatsfolter in Syrien gesprochen hat und einen früheren syrischen Geheimdienstmitarbeiter wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt hat. 

(Guido Kosmehl, FDP: Und wer hat‘s gemacht?)

Im Juli wurden in Deutschland zudem mutmaßliche syrische Kriegsverbrecher festgenommen, die an der gewaltsamen Niederschlagung einer Demonstration beteiligt gewesen sein sollen. 

(Zuruf von Felix Zietmann, AfD)

Niemand, der sich an Gräueltaten beteiligt hat, ist hier in Deutschland vor Strafverfolgung sicher.

(Zustimmung bei der SPD, bei der FDP und von Christian Albrecht, CDU)

Zweitens. In deutschen Gefängnissen sitzen ausreisepflichtige syrische Straftäter ein. Kriminelle, die ihre Strafe verbüßt haben und lange ausreisepflichtig sind, konnten bislang nicht abgeschoben werden. Aus Syrien stammende Gefährder werden mit hohem Aufwand überwacht und hätten Deutschland längst verlassen müssen. Die neue Lage in Syrien wird es zumindest erleichtern, diese gegen ihren Willen in ihre Heimat zurückzubringen - so die Hoffnung.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Noch vor 14 Tagen hat niemand hier im Saal die Entwicklung in Syrien vorhergesehen. - Frau Ministerin, Sie werden sich wahrscheinlich genauso erinnern wie ich: Vor etwa zwei Wochen war in Rheinsberg eher die Angst, dass die jüngere Entwicklung darin besteht, dass Erdoğan syrische Flüchtlinge nach Kos reißen lässt - in Richtung EU  , als dass er über die Frage nachdenkt, wie schnell die Menschen zurück nach Syrien geführt werden können.

Niemand, der seriöse Politik betreibt, sollte so tun, als könne er die Entwicklung heute hier vorhersehen. Deswegen mahne ich dazu, die Dinge aufmerksam zu beobachten und die entsprechenden Schritte einzuleiten. - Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der SPD)


Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:

Herr Erben, es gibt eine Intervention von Herrn Tillschneider. - Bitte.


Dr. Hans-Thomas Tillschneider (AfD): 

Herr Erben, Sie haben keinen blassen Schimmer. 

(Lachen)

Sie wissen nicht, wovon Sie sprechen. 

Sie haben meine Analyse, die ich im „Freilich“-Magazin veröffentlicht habe, als Quatsch abgetan. Die Frage, die zu beantworten war, war, weshalb jetzt auf einmal etwas in wenigen Tagen gelungen ist, das in elf Jahren nicht gelungen ist. 

(Zuruf von Sebastian Striegel, GRÜNE)

Ich habe dann die arabischen Medien studiert: „Al Jazeera“, „al-Arabiya“, aber auch „al-Manar“, der Hisbollahsender aus dem Libanon, der manchmal sehr informativ ist. Ich habe interessante Hinweise darauf gefunden, dass wichtige Offiziere einfach verschwunden sind, ausgeschaltet wurden. 

(Guido Kosmehl, FDP: Aha!)

Daraus habe ich abgeleitet, dass das kein Kräftemessen in der kriegerischen Auseinandersetzung war, sondern dass der syrische Militärapparat infiltriert worden sein muss - eine Analyse, die jetzt übrigens vielfach Bestätigung findet; denn man findet jetzt auf einmal erschossene Offiziere in ihren Büros und niemand weiß, wer sie erschossen hat. 

(Olaf Meister, GRÜNE: Das Terrorregime!)

Das ist auch schon international honoriert worden. Diese Urteile sind mir wichtig. Ihr Urteil ist mir eigentlich gar nicht wichtig. Ich will es an dieser Stelle nur klarstellen.

Ich finde es absolut unerträglich - unerträglich!  , von welch hohem Ross Sie Baschar al-Assad und die Regierung der Assads verurteilen. 

(Rüdiger Erben, SPD: Ha! - Unruhe)

Hafiz al-Assad und Baschar al-Assad mussten in Syrien die Islamisten in Schach halten, um Frieden und Freiheit zu gewährleisten. 

(Olaf Meister, GRÜNE: Hunderttausende Tote! - Sebastian Striegel, GRÜNE: Ein Menschenschlechter! - Unruhe)

Die Christen in Bab Tuma haben jetzt Angst; denn das ist jetzt das traurigste Weihnachten für die Christen in der syrischen Geschichte. 

(Zuruf von Olaf Meister, GRÜNE)

Man hat ihnen bedeutet, sie mögen bitte keine Kirchenglocken läuten; denn Muslime könnten sich davon beleidigt fühlen. So fängt es an. Wir werden sehen, was jetzt kommt. Das wird viel schlimmer sein, als das, was vorher war. 

(Nadine Koppehel, AfD: Genau!)

Ich war nicht eine halbe Stunde lang beim Barbier. Das ist doch lächerlich, was Sie erzählen. Ich habe ein Jahr lang bei einer christlichen Familie in Bab Tuma in Syrien gelebt. Ich habe erlebt, wie es dort ist. Unter Baschar al-Assad herrschten Frieden, Freiheit und Wohlstand.

(Zurufe von Olaf Meister, GRÜNE, und von Sebastian Striegel, GRÜNE - Weitere Zurufe- Unruhe)

Das ist doch wirklich die pure Arroganz. Sicherlich, es war keine Demokratie nach westlichem Zuschnitt. Aber es war auch kein westliches Land. Es war ein nahöstliches Land mit ganz anderen Verhältnissen. 


Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:

Herr Tillschneider!

(Sebastian Striegel, GRÜNE: Menschenrechte sind universell! - Zuruf von Olaf Meister, GRÜNE - Weitere Zurufe - Unruhe)


Dr. Hans-Thomas Tillschneider (AfD):

Woher wissen Sie denn, wie man so ein Land regieren darf?

(Beifall bei der AfD - Zuruf von der AfD: Jawohl!)


Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:

Herr Tillschneider, Ihre zwei Minuten sind vorbei. - Herr Erben, Sie können darauf reagieren. 


Rüdiger Erben (SPD): 

Ich kann nur sagen: Herr Dr. Tillschneider, vielen Dank für Ihre Intervention.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Denn sie hat sehr deutlich gemacht, dass ich mit all dem, was ich darüber gesagt habe, ins Schwarze getroffen habe. Der Jubel Ihrer Fraktionäre ist ein deutliches Zeichen dafür. 

(Frank Otto Lizureck, AfD: Nur Arroganz! - Zuruf von der AfD: Keinen blassen Schimmer!)

Ich maße mir tatsächlich nicht an   das habe ich auch mehrmals in der Rede betont  , alle Vorgänge in Syrien beurteilen zu können. Ich glaube, niemand kann das. Auch Sie können das nicht. 

Ich will Ihnen das Beispiel nennen. Ich wollte die Geschichte mit dem Friseur vorhin nicht ausführlich erzählen, aber Sie fordern mich geradezu dazu heraus. Dieser junge Friseur, hier in Magdeburg lebend, stammt aus Aleppo. 

(Lothar Waehler, AfD: Das haben Sie schon gesagt!)

Er berichtete mir, 

(Felix Zietmann, AfD: Die sind alle aus Aleppo!)

  darf ich jetzt einmal zu Ende sprechen?   

(Unruhe)

dass der Anführer der Rebellen, so will ich ihn einmal bezeichnen, von dem die Christen in Aleppo große Angst hatten, an dem darauffolgenden Wochenende, nachdem man Aleppo übernommen hatte, zum örtlichen Bischof oder Erzbischof, ich weiß es nicht so genau, gegangen ist und sagte: Ich möchte, dass ihr am Sonntag zu euren Gottesdiensten geht und dass die Kirchenglocken läuten. Das mag nicht die generelle Linie sein, aber das ist auch das, was Syrerinnen und Syrer hier in Deutschland erfahren und was sie natürlich zu den Zuständen in Syrien weitergeben. - Herzlichen Dank. 

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN - Zuruf von Lothar Waehler, AfD)