Tagesordnungspunkt 20
Beratung
Wir müssen reden - und handeln: Jugendhilfegipfel 2025
Antrag Fraktion Die Linke - Drs. 8/4800
Alternativantrag Fraktionen CDU, SPD, FDP - Drs. 8/4827
Einbringerin für die Fraktion Die Linke ist Frau Anger. - Frau Anger, Sie haben das Wort. Bitte sehr.
(Zustimmung bei der Linken)
Nicole Anger (Die Linke):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes wurde am 20. November 1989, also vor ziemlich genau 35 Jahren, verabschiedet. Die Kinderrechtskonvention fordert grundlegende Prinzipien ein: den Schutz vor Diskriminierung, das Recht auf persönliche Entwicklung, den Vorrang des Kindeswohls und das Recht auf Beteiligung. Diese Prinzipien sind universell; sie sind nicht verhandelbar.
(Beifall bei der Linken)
Dieses Dokument ist für uns alle verbindlich. Gerade deshalb müssen wir uns immer wieder fragen, ob wir diesem Anspruch gerecht werden. Wir müssen uns fragen: Wird diesen diese Rechten der Kinder in unserem Land tatsächlich Rechnung getragen? Haben wir die notwendigen Strukturen geschaffen, um Kindern und Jugendlichen all dies zu ermöglichen?
Meine Damen und Herren! Die Antwort ist ernüchternd. Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Teilnahme und Teilhabe an der Gesellschaft. Armut und soziale Ungleichheit stehen dem jedoch vielfach entgegen. Die gesellschaftlichen und ökonomischen Krisen unserer Zeit hinterlassen deutliche Spuren und treffen Kinder besonders hart.
Die aktuelle gesellschaftliche Lage ist geprägt von einer dramatischen Verschärfung sozialer Ungleichheit, welche sich auch auf die Kinder- und Jugendhilfe auswirkt. Seit Jahren verzeichnen wir steigende Zahlen von Kindeswohlgefährdungen und in deren Folge steigende Zahlen von Inobhutnahmen. Die Einrichtungen der ambulanten und stationären Jugendhilfe sind überbelegt, und das alles trotz sinkender Kinderzahlen.
Die Mitarbeiter*innen stellen fest, dass sie personell und finanziell an ihre Grenzen gelangen. Dies gilt für alle Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe, von der offenen Kinder- und Jugendarbeit über die pädagogische Betreuung in Kindertageseinrichtungen, die Familienförderung, den Kinder- und Jugendnotdienst bis hin zum Allgemeinen Sozialen Dienst.
Die Budgets für Jugendhilfe, für Bildung und für Soziales stehen unter dem Druck von Schuldenbremse, Inflation und klammen Haushalten. Die Folge: Das Jugendhilfesystem agiert nur noch als Feuerwehr. Sieht man genauer hin, wird das derzeitige Dilemma am Beispiel des ASD, also des Allgemeinen Sozialen Dienstes, sehr deutlich.
Durch die Zunahme von Belastungen in Familien, unter anderem verursacht durch die Individualisierung von sozialen und psychischen Problemen, durch gesellschaftliche Krisen, durch mehr und mehr Armut, steigt die Zahl der Kinderschutzfälle im ASD deutlich an. Präventionsangebote sind bei steigenden Fallzahlen kaum noch leistbar. Mitarbeitende im ASD sollte im Durchschnitt 35 Fälle betreuen. In der Realität ist es oft das Dreifache. Die Folge sind oftmals Inobhutnahmen. Die steigende Zahl an Inobhutnahmen führt zu überlasteten Kinder- und Jugendnotdiensten. Diese nehmen dann nicht mehr kurzfristig auf, bis die Klärung der Hilfen eingesetzt hat, sondern die Kinder verbleiben dort über Wochen, gar Monate, die Plätze sind belegt, weitere Inobhutnahmen kaum möglich.
Auch die Problemlagen der Kinder und Jugendlichen nehmen zu. Kinder mit schwierigen Lebensläufen, traumatischen Erfahrungen und multiplen Herausforderungen werden nicht selten als Systemsprenger abgestempelt, anstatt sich ihrer anzunehmen. Sie werden von Einrichtung zu Einrichtung, von Klinik zu Klinik verschoben, ohne die dringend nötige Beziehungsarbeit, die ihnen Halt geben kann; Drehtüreffekte eingeschlossen.
Die Kommunen sind mehr und mehr überfordert. Das sehen wir aktuell am Beispiel Magdeburg. Hier wird unter dem Deckmantel des § 42 SGB VIII - Inobhutnahme - eine Einrichtung geplant, die in ihrer Konzeption eher dem Charakter des § 1631b BGB, also geschlossener Unterbringung, dient. Warum? - Weil die Stadt keine andere Idee mehr hat, was sie im Fall von besonders herausforderndem Verhalten von Kindern und Jugendlichen machen soll, weil sie sich alleingelassen fühlt.
Wir sehen es an den drastischen Maßnahmen wie geplanten geschlossenen Einrichtungen, die nichts anderes als ein Zeichen von Ratlosigkeit sind. Hiermit wird versucht, Herausforderungen mit Repression zu begegnen, weil das System keine andere Antwort hat. Doch Kinder, die in schwierigen Lebenslagen verharren, sind kein Problem, das man „wegsperren“ kann.
(Beifall bei der Linken)
Sie sind ein Alarmsignal, und sie zeigen uns deutlich, wo die Jugendhilfe Reformen braucht. Und Reformen braucht diese Jugendhilfe ohne Frage.
Meine Damen und Herren! Das sind keine abstrakten Situationsbeschreibungen. Das sind konkrete Signale eines Systems, das vor dem Kollaps steht. Das Problem sind nicht die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien, es sind die dringenden Herausforderungen, die die Lebensrealität von jungen Menschen und ihren Familien bestimmen.
Es ist untragbar, dass diejenigen, die am meisten Unterstützung benötigen, im System verloren gehen, weil dieses selbst am Limit ist. Dennoch leisten die Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe Unglaubliches.
(Beifall bei der Linken)
Sie kämpfen jeden Tag darum, den Kindern und Jugendlichen ein Stück Sicherheit und Perspektive zu geben. Aber sie leiden auch unter einem System, das zu oft gegen sie arbeitet.
Die Kinder- und Jugendhilfe, meine Damen und Herren, hat eine klare Aufgabe. Sie soll jedem jungen Menschen die Unterstützung bieten, die er für ein gutes Aufwachsen braucht. Das Kindeswohl ist nicht verhandelbar, es ist die Basis all unseres Handelns. Und diese Aufgabe muss erfüllt werden. Dazu braucht die Jugendhilfe mehr als gute Absichten und engagierte Mitarbeiter*innen.
Aufgabe von Jugendhilfe ist es, jedwede Unterstützungsleistung den jungen Menschen und ihren Familien zukommen zu lassen, die es für eben dieses gute Aufwachsen braucht. Doch dies gelingt nur, wenn das System selbst stark genug ist. Die Beziehungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen muss im Vordergrund jedes pädagogischen und jugendamtlichen Handelns stehen.
Was wir sehen, ist das Gegenteil: Fachkräfte, die unter einer erdrückenden Falllast und überbordender Bürokratie leiden. Statt Beziehungsarbeit mit den Kindern und Jugendlichen zu leisten, verbringen sie einen Großteil der Zeit mit Dokumentation und Berichten. Die Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und anderen relevanten Bereichen, wie der Kinder- und Jugendpsychiatrie, ist oft deutlich unzureichend.
Hinzu kommt, dass ab 2028 ein inklusives SGB VIII gelten soll. Ich gehe davon aus, dass dieses kommen wird. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, doch auch hierfür fehlt es an den nötigen Voraussetzungen. Die Gesamtverantwortung für die Kinder und Jugendlichen, ob nun mit oder ohne Behinderung, liegt dann bei der Kinder- und Jugendhilfe. Dafür braucht es klare Strukturen und Ressourcen.
Kinder- und Jugendhilfe kann ihrem Auftrag weder nachkommen, wenn sie nach Kassenlage gestaltet wird, noch wenn sie den Kriterien des Marktes unterworfen ist. Sie ist Daseinsvorsorge und zeigt ihre Effizienz ausschließlich in der Unterstützung der jungen Menschen und allein daran ist sie zu messen.
Daher ist es notwendig, über das Kinder- und Jugendhilfesystem im Land zu reden, zu analysieren, wo es wirkt, wo es eben auch nicht wirkt und wo es besser wirken kann und besser wirken muss. Dabei gilt es, die aktuellen Entwicklungen zu beachten und ebenso neue pädagogische Konzepte zu entwickeln. Und all das muss jetzt passieren und zwar gemeinsam mit den Kommunen und mit den Trägern, den freien und öffentlichen zusammen.
(Beifall bei der Linken)
Meine Damen und Herren! Klar ist auch, dass die Kommunen diese Herausforderung nicht allein stemmen können. Es braucht eine gemeinsame Kraftanstrengung von Land, Kommunen und Trägern, um ein zukunftsfähiges und inklusives Jugendhilfesystem zu schaffen. Deshalb fordern meine Fraktion und ich, dass es im ersten Halbjahr 2025 einen Jugendhilfegipfel geben soll. Gemeinsam müssen wir die Konzepte entwickeln, die den Bedürfnissen der Kinder und ihrer Familien gerecht werden. In diese gehören für mich eindeutig Punkte wie die Entlastung der Fachkräfte, die Stärkung der Prävention, die Verbesserung von Kooperationen, Inklusion, aber auch das Stärken der Kinderrechte. Lassen Sie uns die Kinder- und Jugendhilfe noch viel mehr vom Kind aus denken.
(Beifall bei der Linken)
Denn die Kinderrechtskonvention ist nicht nur ein moralisches Bekenntnis, sie ist eine Verpflichtung. Mit ihrer Unterzeichnung haben wir uns dazu bekannt, jedes Kind zu schützen, zu fördern und zu beteiligen. Das erfordert mehr als schöne Worte. Es ist Zeit, dass wir als Gesellschaft diese Verpflichtung noch viel ernster nehmen. Es ist Zeit, dass wir den Mut aufbringen, unsere Systeme zu hinterfragen und zu verbessern, und es ist Zeit, dass wir die Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellen, nicht nur in den Reden, sondern in unserem Handeln.
Meine Damen und Herren! Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass jedes Kind in unserem Land bestmöglich aufwachsen kann. Lassen Sie uns die Kinder- und Jugendhilfe so stärken, dass sie ihrem Auftrag gerecht werden kann. Denn die Kinder von heute sind nicht nur die Erwachsenen von morgen, sie sind unsere Zukunft und vor allem das Wertvollste, das wir haben. - Vielen Dank.