Olaf Meister (GRÜNE): 

Danke, Herr Präsident. - Sehr geehrte Damen und Herren! Was die Menschen vor 35 Jahren hier auf dem Domplatz vor allem hatten, war Mut. Den brauchte man auch. Es waren keine Demonstrationen im heutigen Sinne: nett, laut, kreativ. Es waren Demonstrationen in einer Diktatur gegen die Diktatur. Wenn man dorthin ging, überlegte man sich das vorher ganz genau. Leben in einer Diktatur heißt auch, einen Weg zu suchen. Der eigene Alltag, das eigene Glück erforderte ein Umgehen mit den Bedingungen oder gar der Repression der Diktatur. Welche Kompromisse ist man bereit zu gehen? Wo arrangiert man sich, auch wenn man es anders will? Der Gang auf eine solche Demonstration war die Aufkündigung aller solcher Entscheidungen. 

(Zustimmung von Detlef Gürth, CDU)

Das glückliche Ende war kaum erwartbar. Das Problem war nicht nur die Staatsmacht in ihren Fahrzeugen hinter dem Domplatz, sondern der nächste Tag auf der Arbeit, in der Schule. Was heißt das für die eigenen Familienmitglieder, den Partner oder die Partnerin?

Mein emotionaler Moment waren damals die Bilder aus Dresden. Da fuhren große Fahrzeuge mit Schiebern auf Demonstranten zu. Ich sah das im Westfernsehen. Mir war klar, dass das jetzt der Moment war, an dem ich mich entscheiden musste, auf welcher Seite des Fahrzeugs mit dem Schieber ich stehe. Es gab kein Dazwischen. Ich musste jetzt tatsächlich mit dem Staat brechen, weil das nicht mehr mein Staat war. Ich sagte mir: Wenn das so geht, dann ist das nicht dein Staat. 

Zum Glück gab es aber auch die Unangepassten, die Unbequemen, die andere mitrissen und eine solche Bewegung erst möglich machten, wie Hans-Jochen Tschiche oder der jüngst verstorbene Lothar König. 

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der Linken)

Die Demonstranten auf dem Domplatz im Oktober 1989 hätten sich, wenn sie die heutige Aktuelle Debatte gesehen und vor allem den Ankündigungstext, der unhistorisch ist, gelesen hätten, an zwei Punkten gewundert: zum einen über die Formulierung „deutsche Einheit“. Sie war im Oktober 1989 schlicht kein Thema. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es ging um die Veränderung der DDR hin zu einem Rechtsstaat. 

(Cornelia Lüddemann, GRÜNE: Ja, genau!)

Die deutsche Einheit war das Ergebnis der möglich gewordenen freien Entscheidung. Wieso ist mir das so wichtig?

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Mir ist das so wichtig, weil immer der Eindruck entsteht, die Freiheit wäre in irgendeiner Form ein Geschenk des Westens gewesen. - Nein, nein! 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Umgekehrt: Die deutsche Einheit war die Folge der ostdeutschen Freiheit. Das ist die richtige Reihenfolge.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Der zweite Punkt: Die CDU-Fraktion beantragte diese Debatte. Ich finde das sehr gut und es hat mich gefreut. Wie ernst es euch ist, hat man Guido Heuer angemerkt. Aber es gehört natürlich auch dazu: Die CDU in der DDR stand im Oktober 1989 wirklich auf der anderen Seite.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sie war Teil dieser Regierung, die kritisiert wurde. Die CDU stellte den Postminister; sie, also die Bauernpartei, stellte den Umweltminister. Die LDPD stellte - das fand sich ich besonders bitter - den Justizminister, weil das natürlich Teil des Apparats war. Das muss doch eine Erwähnung wert sein, wenn man eine solche Debatte beantragt und hierzu spricht. 

Ich betrachte die Entwicklung der fünf DDR-Blockparteien im Nachhinein deutlich positiver, als ich es damals getan habe. Alle fünf Blockparteien gingen einen glaubwürdigen demokratischen Weg, besonders die SED. Die PDS und später Die Linke führten ihre Mitglieder von der allmächtigen diktatorischen Staatspartei in eine Demokratisierung, boten Platz in einem neuen Land und haben die Menschen eingebunden. Das ist eine selten betrachtete beachtliche Leistung für unsere Demokratie. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Mit anderer Rolle gilt das auch für die CDU und die Bauernpartei als CDU sowie die LDPD und die NDPD als FDP, deren damalige Mitglieder quasi über Nacht auf einen demokratischen Kurs einschwenkten. Man kann dies belächeln, weil man damals Plakate mit dem Wort „Wendehälse“ sah. Man kann es aber auch als Ausdruck des eigentlich gewünschten und nun wieder möglichen Weges sehen. Das, meine ich, ist tatsächlich die Betrachtung, die angemessen ist. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich würde mir einen reflektierteren und kritischeren Umgang mit der eigenen Geschichte wünschen. Die Linke wurde dazu fortlaufend gezwungen, klar. Die CDU und die FPD schoben das eher immer weg. Das ist mir verständlich; für die Parteien von Kohl und Genscher wirkt DDR-Geschichte irgendwie abseitig und verzichtbar. Kohl und Genscher hatten in der DDR nichts Böses    , klar. Das ist natürlich eine sehr westdeutsche Sicht. Ich meine, aus einer ostdeutschen Perspektive muss man das anders sehen. 

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der Linken)

Haben wir haben unsere Ziele von damals erreicht? - Ja, wir haben freie Wahlen und damit den demokratischen Rechtsstaat erkämpft. Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit - ein breiter Kanon von Menschen- und Bürgerrechte schützt uns. 

Wir leben in einem der freiesten Länder der Welt. Leicht war der Weg nach der friedlichen Revolution trotzdem nicht. Für uns Ostdeutsche änderte sich praktisch jeder Lebensbereich. Kaum jemand machte 1992 noch das, was er 1988 tat; wenn man denn noch Arbeit hatte. Ganze Industrien verschwanden. Mit dem Arbeitsplatz verschwanden auch soziale Beziehungen, bisheriges Wissen und Erarbeitetes war über Nacht entwertet. Vorgesetzte kamen plötzlich aus dem Westen. Verwaltungs- und Gebietsreformen gaben sich die Klinke in die Hand. Junge Menschen verließen die Regionen in Scharen und, und, und. Das macht natürlich etwas mit den Menschen und der Gesellschaft. 

Die Frage, die sich heute stellt, ist: Wie sicher ist unsere erkämpfte freiheitliche demokratische Grundordnung? Anfang der 1990er-Jahre hätte ich gesagt, dass wir Ostdeutsche mit unserer Geschichte unbedingt zur Demokratie stehen. Schon mit dem Aufkommen der DVU, Baseballschlägerjahre war klar, dass diese Einschätzung zumindest nicht für alle gilt. 

Aktuell wird im Osten mit der AfD eine Partei zum Teil stärkste Kraft, 

(Ulrich Siegmund, AfD: Überall! Nicht zum Teil!)

die als gesichert rechtsextrem gilt und die die freiheitliche demokratische Grundordnung ablehnt. Das jüngst auch starke BSW ist noch schwer einzuschätzen, folgt aber vermutlich eher einem autoritären als einem liberalen Politikverständnis. 

Wieso ist das bei uns im Osten so? Ist das - das ist immer der Vorwurf - ein Versagen der Systemparteien, der Altparteien oder von „denen da oben“? - Angesichts annähernder Vollbeschäftigung und eines großen Freiheitsgrades in einem der reichsten Länder der Welt finde ich diesen Vorwurf ziemlich abwegig. Ja, wir sind natürlich nicht das Land, in dem Milch und Honig fließen. Wir haben viele Probleme. Aus der Sicht von 1989 haben wir aber enorme Fortschritte gemacht, sowohl sozial als auch wirtschaftlich und ökologisch. 

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der SPD und von Anne Marie Keding, CDU)

Ich meine, es kommen wohl zumindest zwei Dinge zusammen: zum einen die besonders ausgeprägte Ablehnung von Veränderungen vor dem Hintergrund der bereits üppig erlittenen Transformationen und, vermutlich wichtiger, zum anderen ein bei uns im Osten weit verbreitetes autoritäres Staatsverständnis. Probleme hat der ungeliebte Staat zu lösen, und zwar sofort, aber ohne mit Veränderungen zu nerven. Kann er das nicht, versagt er, versagen die ihn Tragenden. Dann wendet man sich denen zu, die das vermeintliche Versagen kritisieren. 

Natürlich ist diese Heilserwartung an einen Staat illusorisch. Es gibt eine Vielzahl von Problemen: demografischer Wandel, Klimawandel, Globalisierung, Digitalisierung, Migration, Strukturwandel im ländlichen Raum, Krieg und vieles mehr, die nur über lange Zeiträume hinweg und unter Inkaufnahme von Veränderungen lösbar sind. Das übliche Geschäft in einer Demokratie, der Streit über den Weg, der missglückende Versuch und die berechtigte Kritik daran, der dann neue, erfolgreichere Weg, der aber Fragen öffnen lässt - das wird von Teilen als offenkundiges Scheitern, als Inkompetenz dargestellt und auch verstanden. Dabei ist es eigentlich nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung. 

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der SPD und von Anne Marie Keding, CDU)

Früher erreichten Verhetzung, der falsche oder auch falsch gewichtete Fakt, die bösartige Schuldzuweisung an eine abgrenzbare Gruppe   Ausländer; neulich hatten wir ukrainische Flüchtlinge; Politiker   

(Oliver Kirchner, AfD: GRÜNE!)

jeweils nur einen kleinen Kreis. Halbwegs seriöse Presse, egal ob privat oder öffentlich-rechtlich, brachte so etwas nicht als ernst zu nehmende Meinung. Mit dem Aufkommen sozialer Medien hat sich das geändert - weltweit. Das verleiht der Hetze eine völlig neue destruktive Kraft mit Folgen für die Gesellschaft. 

(Ulrich Siegmund, AfD: Wer schreibt denn so etwas auf? - Lachen bei der AfD)

Daher sehen wir ähnliche Entwicklungen in allen Teilen der Welt. Ostdeutschland ist davon wohl, bedingt durch seine Geschichte, anders betroffen als der Westen. Der Mechanismus läuft aber ganz ähnlich. 

Was tun? Wie können wir das Erbe von 1989 bewahren? - Die Menschen müssen, zumindest in ihrer großen Mehrheit, den Schatz von Demokratie und von Freiheit wertschätzen, durchaus in einer eigenen ostdeutschen Prägung. Wir müssen begreifen, dass die ständige Unvollkommenheit, aber auch das ständige Suchen nach der besseren Lösung notwendiger Teil des Ganzen ist. 

(Zustimmung bei den GRÜNEN und von Kathrin Tarricone, FDP)

Politische Strömungen, die das verächtlich machen, abschaffen wollen, sind, wenn sie die Macht erlangen, der sichere Weg in dunkle Zeiten. Wir müssen als Gesellschaft lernen, mit der destruktiven Seite der veränderten Medienlandschaft, der veränderten Kommunikation umzugehen. 

(Zuruf von Oliver Kirchner, AfD)

Letztlich hilft wie 1989 nur: Engagement für das Gemeinwesen; Achtung und Akzeptanz für andere Ideen und politische Strömungen, solange sie dem gemeinsamen Ziel einer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft verbunden sind. - Vielen Dank.