Cornelia Lüddemann (GRÜNE):

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich heute zu dieser Aktuellen Debatte sagen möchte. Es fällt mir nicht leicht, Gedanken und Gefühle, die mich gerade in dieser Zeit bewegen, in Worte zu fassen - vor allem vor diesem Auditorium. 

Der rassistische, antisemitische und frauenfeindliche Anschlag in Halle und in Wiedersdorf, der Jana L. und Kevin S. das Leben kostete, der Dagmar M., Jens Z. und Abdi I. traf; der Anschlag, welcher der jüdischen Gemeinde und allen Betenden in der Synagoge sowie den Mitarbeitenden und den Gästen des Kiez-Döners galt, hat sich vor etwas mehr als zwei Wochen zum fünften Mal gejährt. Der 9. Oktober 2019 ist eine Zäsur für uns Menschen hier in Sachsen-Anhalt, aber weit darüber hinaus. 

Wir alle wissen noch, wo wir waren, als wir von diesen Taten erfuhren und was wir dann unternahmen. Wir schrieben unseren Liebsten, den Menschen, von denen wir wussten, dass sie dort in näherer Umgebung waren. Wir bangten um das Leben der Menschen, aktualisierten immerfort die Info-Seiten, harrten aus, bis wir nach einer gefühlten Ewigkeit die Nachricht bekamen, dass die Polizei den Täter überwältigen und festnehmen konnte. Die Angst, der Schmerz, die Ohnmacht, die Trauer und die Wut haben sich in unser Gedächtnis eingebrannt und sind dennoch nicht annähernd mit dem zu vergleichen, was die Betroffenen direkt oder indirekt erleben und erleiden mussten. 

Wer bei den Gedenkveranstaltungen in Halle oder in Berlin dabei war, wer sich die Dokumentation, die Podcasts oder die Ausstellungen anschauen oder anhören konnte, dem kommen die Erinnerungen und die Gefühle so klar vor, als sei es gestern gewesen. Dabei ist alles fünf Jahre her. Das zeigt, wie massiv die Einschnitte in das Leben der Menschen waren. Was ist nicht alles seither in Deutschland geschehen?

Der Anschlag von Halle und von Wiedersdorf war ein Angriff auf alle Demokratinnen und Demokraten, auf unsere Gesellschaft, auf unsere Demokratie im Ganzen, auf unsere Freiheit, so zu leben, wie wir es wollen, wie wir es möchten, und so akzeptiert, respektiert und geliebt zu werden. Der Staat hat in diesem Moment versagt. Wir konnten die Menschen nicht schützen. Es war Glück und Zufall, dass die Tür der Synagoge hielt und dass der Täter weitere Opfer verfehlte, bis die Polizei ihn schließlich fasste. Zu der Wahrheit gehört, dass eine freie Demokratie niemals absolute Sicherheit gewähren kann und dies auch nicht versprechen sollte. 

In Deutschland gibt es eine lange Kontinuität antisemitischer, rassistischer und frauenfeindlicher Gewalt. Es bleibt an uns, Antworten darauf zu geben, wieso wir es trotz jahrzehntelanger Aufklärung und trotz Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus immer noch nicht schaffen, antisemitischen Einstellungen, Rassismen und Frauenfeindlichkeit in Köpfen, in unserer Gesellschaft und in unseren Strukturen noch besser und nachhaltiger zu bekämpfen. 

Der Aufstieg der Rechtspopulisten und Rechtsextremisten als selbsternannte Avantgarde in Europa zeichnet ein düsteres Bild. Uns freien Demokratien sind dadurch in unserer systemischen Auseinandersetzung mit Autokratien, aber auch mit Teilen unserer eigenen Bevölkerung besondere Aufgaben gestellt. In einer Zeit, in der wir immer weniger Überlebende der Schoah haben, die uns dabei helfen, die Ungeheuerlichkeiten wenigstens ein bisschen nachzuvollziehen, die das Leid der Geschichte greifbar machen, weil sie sie auf ein eigenes, persönliches Erleben herunterbrechen können, müssen wir mehr Anstrengungen unternehmen, die Folgen aus politischen Forderungen und Entscheidungen für die einzelnen Menschen sichtbar zu machen. 

Wenn in Deutschland wieder eine Partei die Remigration von Millionen von Menschen als Versprechen bezeichnet, dann betrifft das unsere Freundinnen und Nachbarn. Wenn in Deutschland wieder gefordert wird, in großem Stil abzuschieben, dann betrifft das vor allem unsere Klassenkameradinnen und Kollegen. Wenn nach islamistischen Terroranschlägen in Mannheim und in Solingen in der öffentlichen Debatte nicht das Problem Prävention und Umgang von Sicherheitsbehörden mit Islamismus im Fokus steht, sondern die Themen Migration und Asyl, dann fühlen sich sehr viele Mitbürgerinnen und Mitbürger dieses Landes zu Recht verunsichert, weil ihnen sehr deutlich gezeigt wird: Du mit deiner Migrationsgeschichte bist nicht erwünscht; du gehörst hier nicht dazu. 

(Zuruf von der AfD: Das ist auch richtig!)

Diese Debatten grenzen Menschen aus. Sie sind falsch. Sie mindern herab. Wir müssen diesen Debatten immer und an allen Stellen sofort entgegentreten. 

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der Linken und von Dr. Heide Richter-Airijoki, SPD)

Ich muss in dieser Debatte daran erinnern, dass dieser Landtag leider nicht in der Lage dazu war und ist, den Überfall der Hamas auf die Zivilbevölkerung Israels in einer gemeinsamen Resolution zu verurteilen, weil die größte Fraktion in Sorge vor möglichen weiteren Flüchtlingen aus Nahost ist. Solidarität mit Opfern von Rassismus und von Antisemitismus darf nicht gegengerechnet werden. 

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der Linken und von Dr. Heide Richter-Airijoki, SPD)

Minderheiten und verletzliche Gruppen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Jüdisches Leben in Deutschland gestaltet sich so schlecht wie lange nicht. Deutschland und Sachsen-Anhalt verzeichnen einen besorgniserregenden Anstieg antisemitischer und rassistischer Vorfälle. Insbesondere seit dem 7. Oktober letzten Jahres sind die Zahlen stark angestiegen.

(Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Und warum? Wie kommt das?)

Der Beratungsbedarf bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung hat sich laut OFEK, der Beratungsstelle bei antisemitischen Vorfällen, seither verfünffacht. Die mobile Opferberatung berichtet nach erneuten Anstiegen bei rassistischer und antisemitischer Gewalt eine Stabilisierung der Fallzahlen auf extrem hohem Niveau. Antisemitische Gewalt ist leider eine Alltagsrealität in Deutschland. Bei queerfeindlicher Gewalt zeigt sich eine Verdoppelung der Zahl der Vorfälle. 

Es ist   das will ich anerkennen   vieles in Sachsen-Anhalt passiert, um jüdisches Leben zu stärken, zu schützen und um aus dem Anschlag zu lernen. Dazu gehört sicherlich die Finanzierung von Schutzvorrichtungen, die Unterstützung beim Bau von Synagogen, die Einrichtung eines Antisemitismusbeauftragten in der Justiz, die Eröffnung eines Opferhilfefonds und die Einrichtung einer Opferseelsorge bei der Polizei. Diese Strukturen gilt es allerdings auch mit Leben zu füllen. 

Wenn ich auf den Opferhilfefonds gucke, dann stelle ich fest: An dieser Stelle ist noch sehr viel Luft nach oben. Ich habe mir extra für den Kollegen Kosmehl   jetzt ist er gerade nicht hier   ein schönes Beispiel aus Hessen herausgesucht.

(Kathrin Tarricone, FDP: Wir erzählen es ihm! - Zuruf von der FDP: Wir geben es weiter!)

Wenn wir nämlich nach Hessen gucken, dann stellen wir fest: Dort beginnt die Opferentschädigung bei Mitteln in Höhe von 5 000 €; bei uns sind es 300 € bis 5 000 €. Wir haben so viel weniger   17 Mal weniger   Geld im Topf als Hessen, sodass bei uns ein Opfer in der Regel mit 300 € auskommen muss. Ich glaube, das ist ein Zeichen dafür, dass das dringend geändert werden muss. Auch das ist eine Aufgabe mit Blick auf den Haushalt. 

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der Linken)

Wir müssen uns sowieso fragen: Tun wir insgesamt genug? Schauen wir nach Thüringen, unser Nachbarland. Dort ist eine gesichert rechtsextreme Partei, deren Vorsitzender ein Faschist ist, stärkste Fraktion geworden. 

(Zurufe von Oliver Kirchner, AfD, und von Matthias Büttner, Staßfurt, AfD - Weitere Zurufe von der AfD)

Sie hat dort die Konstituierung des Landtages blockiert. Einen Aufschrei gab es in der gesamten Welt, in der internationalen Presse. Er wäre hier in der Mitte der Gesellschaft notwendig. Jetzt wäre es notwendig, dass wir als Demokratinnen und Demokraten schauen, 

(Beifall bei den GRÜNEN - Zuruf von der AfD: Ihr seid keine Demokraten!)

was wir tun können, damit wir hier thüringische Verhältnisse verhindern, damit wir unsere Strukturen resilient machen. Ich habe dazu Kontakt mit den Vorsitzenden der anderen demokratischen Fraktionen aufgenommen. Ich hoffe sehr, dass wir hierbei zu einer Lösung kommen. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Auch jeder Einzelne ist gefordert. Conrad R. sagte auf der Gedenkveranstaltung in Halle (Saale)   ich zitiere  : Ich bin wütend auf mich, weil ich zu feige bin, dem Nazi, der in der Straßenbahn herumpöbelt, meine Meinung zu sagen. - Ich glaube, er spricht hierbei einen wahren Kern aus, bei dem sich jeder von uns, wenn wir einmal ganz ehrlich mit uns sind, in irgendeiner Situation wiedererkennt. 

Es ist unsere Aufgabe, die allgemeine Sprechfähigkeit zu fördern. Deshalb brauchen wir auch einen Ausbau von Extremismusprävention und von Demokratiearbeit und die Verstetigung über ein Demokratiefördergesetz, auch hier bei uns im Land. Auch diese Strukturen gilt es zu sichern. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Um es mit den Worten von Conrad R. zu sagen: Ich bin wütend auf Politiker, die sich über rassistische Angriffe empören, aber zu wenig tun, um diese zu verhindern. 

(Beifall bei den GRÜNEN - Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Fangen Sie einmal in Ihrer eigenen Partei damit an!)

Werte Kolleginnen und Kollegen! Für uns alle gibt es ein Vor-dem-Anschlag und ein Danach. Die Wunden der Betroffenen, der Angehörigen, der Hinterbliebenen, der Zeugen und der Helfenden sind noch nicht verheilt. Sie zu schließen, ist eine Mammutaufgabe. Für eine Einzelne kann diese Aufgabe zu groß erscheinen. Ihnen dabei zu helfen, ist unsere Pflicht als Politik und als Gesellschaft. Rassismus, Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit zu bekämpfen, ist eine Daueraufgabe. Das Festival of Resilience, von dem mein Kollege Striegel berichtete, gibt Mut. Das solidarische Halle und der unermüdliche Einsatz der Betroffenen für den Erhalt des TEKIEZ und der Einsatz der Hinterbliebenen der Opfer des Anschlags von Hanau zeigen, wie Unterstützung und Traumabewältigung funktionieren können - gemeinsam. 

Ich will schließen mit einem Zitat von Nathan B., ebenfalls Überlebender des Anschlages. Er schrieb: Die Kugeln trafen meinen Körper nicht und gingen doch durch meine Seele. - Wir konnten den Anschlag nicht verhindern. Lassen Sie uns in Zukunft alles tun, um im Nachgang die Opfer rechter Gewalt nicht ein zweites Mal zu Opfern zu machen. Lassen Sie uns alles dafür tun, dass es weniger Opfer gibt.