Andreas Silbersack (FDP):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist fast genau fünf Jahre her, dass in meiner Heimatstadt Halle ein Attentäter am höchsten jüdischen Feiertag versuchte, in der Synagoge von Halle ein Massaker ungeahnten Ausmaßes anzurichten. Er scheiterte an der Tür der Synagoge, tötete aber nahe der Synagoge zwei Menschen. Zwei weitere wurden verletzt.
Die Wunden in Halle klaffen weiter bis zum heutigen Tage weit offen. Die Menschen in Halle wissen, dass dieses schreckliche Attentat Teil der eigenen Stadtgeschichte geworden ist. Leider ist der Antisemitismus kein Einzelfall, sondern er nimmt immer weiter zu. Sind im Jahr 2022 in Sachsen-Anhalt noch 47 antisemitische Vorfälle bekannt geworden, so wurden im Jahr 2023 131 Vorfälle dokumentiert. Die deutsche Verantwortung für die Schoah, die Ermordung von sechs Millionen Juden, die in der NS-Zeit von deutschem Boden ausging, bedingt, dass Deutschland fest an der Seite des Staates Israel steht, meine Damen und Herren.
Woher kommt dieses starke Erstarken des Antisemitismus in der heutigen Zeit? Was können wir tun, um Antisemitismus hier zu verhindern und ein stärkeres Verständnis für Israel und seine Rolle zu fördern und vielleicht eine stärkere Sichtbarkeit jüdischen Lebens zu unterstützen? Dabei verkennen wir nicht, dass auch in Israel eine kritische Auseinandersetzung mit dem Agieren der Regierung Netanjahus im Gaza-Streifen und im Libanon existent ist.
Laut den aktuellen Statistiken wurden in Sachsen-Anhalt im Jahr 2023 insgesamt 45 antisemitische Straftaten registriert. Diese Zahl ist nicht nur eine Statistik, sondern sie steht für das Leid und die Angst, die viele Menschen in unserer Gemeinschaft empfinden. Jeder einzelne dieser Vorfälle ist ein Angriff auf die Werte, die wir als Gesellschaft hochhalten: Respekt, Menschlichkeit und die Würde jedes Einzelnen. In ganz Deutschland waren es im Jahr 2023 4 782 antisemitische Vorfälle, also insgesamt fast 83 % mehr als im Vorjahr.
Der Überfall der Hamas bot eine Gelegenheitsstruktur für den Antisemitismus in Deutschland und führte zu einem massiven Anstieg der Zahl antisemitischer Vorfälle. Bundesweit dokumentierte der Bundesverband RIAS vom 7. Oktober 2023 bis zum 31. Dezember 2023 rechnerisch 32 antisemitische Vorfälle täglich.
Antisemitismus ist nicht nur ein Problem der Vergangenheit. Es ist ein Phänomen, das sich in verschiedenen Formen zeigt, nämlich von verbalen Angriffen und Beleidigungen bis hin zu körperlicher Gewalt und Vandalismus. Diese Taten sind nicht nur gegen die jüdische Gemeinschaft gerichtet, sondern sie betreffen uns alle. Sie sind ein Angriff auf die Grundpfeiler unserer demokratischen Gesellschaft und auf die Prinzipien, die uns verbinden.
Am 7. Oktober 2023 überfiel die Hamas Israel. Es wurden mehr als 1 200 Menschen, darunter 364 Festivalbesucher, die friedlich auf dem Nova-Festival feierten, an diesem Tag getötet. Seit diesem Tag befindet sich Israel im Krieg. Für viele ist der Krieg ein Grund für Antisemitismus in Deutschland.
Es ist aber auch richtig, dass es eben auch für uns mit zu betrachten gilt - das gebietet die Menschlichkeit und das wird eben in Israel auch derzeit getan und immer stärker , dass fast 50 000 Menschen im Gazastreifen gestorben sind. Es ist auch unsere Verpflichtung, ganzheitlich auf diese Situation zu schauen.
(Zustimmung)
Dem Antisemitismus, der sich seit dem 7. Oktober 2023 immer wieder deutlich zeigt, müssen wir entschieden entgegentreten. Das ist unsere historische Pflicht. Menschen jüdischen Glaubens leben derzeit hier in Deutschland vielfach in Angst. Das darf nicht sein. Es wandern Menschen zu, die aufgrund der antiisraelischen Politik ihrer Herkunftsländer eine antisemitische Einstellung vertreten. Das dürfen wir nicht hinnehmen, meine Damen und Herren.
Es ist unsere Pflicht, diesen Entwicklungen entschieden entgegenzutreten. Wir dürfen nicht wegsehen, wenn Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Glaubens oder ihrer Identität diskriminiert werden. Wir müssen hinschauen, wo die Ursachen sind.
Die Statistik politisch motivierter Kriminalität der Polizei muss die unterschiedlichen Motivlagen antisemitischer Straftaten realitätsgerecht erfassen. Polizeianwärter und -beamte müssen in der Erkennung und im Umgang mit antisemitischen Straftaten zielgerichtet geschult werden.
Der Kampf gegen Antisemitismus erfordert unser aller Engagement. Es ist nicht genug, nur zu reagieren. Wir müssen proaktiv handeln, um eine Kultur des Respekts und der Toleranz zu fördern. Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft in extremistische Milieus abzurutschen drohen, müssen besser integriert werden. Bildung spielt dabei eine entscheidende Rolle.
Wir müssen sicherstellen, dass die Geschichte des Antisemitismus und die Schrecken des Holocausts in unseren Schulen und Bildungseinrichtungen angemessen behandelt werden. Nur durch Aufklärung können wir Vorurteile abbauen und das Bewusstsein für die Gefahren des Antisemitismus schärfen. Wir müssen die jungen Menschen ermutigen, sich aktiv gegen Diskriminierung und Hass einzusetzen.
In Statistiken zeigt sich, dass junge Menschen zunehmend weniger teilweise gar keine Kenntnisse über den Holocaust haben. Fahrten zu Gedenkstätten und Fahrten in ehemalige Konzentrationslager und andere Schreckensorte ab der 7. Klasse sind daher verpflichtend einzuführen und entsprechend vor- und nachzubereiten.
Ich möchte an dieser Stelle an etwas erinnern. Wir waren mit dem Landtagspräsidenten vor wenigen Tagen im Ort Lidice. Nach dem Attentat auf den aus Halle stammenden Gauleiter Heydrich, den Schlächter von Prag, wurde dieser Ort dem Boden gleichgemacht. Eine SD-Einheit aus Halle hat in den Jahren von 1942 bis 1944 dafür gesorgt, dass nichts mehr in diesem Ort Lidice stehen blieb, nicht einmal mehr die Gräber auf dem Friedhof. Das lässt einen heute erschauern und ist für uns Verpflichtung, dass auch nachwachsende Generationen dieses Wissen, dieses Gedenken in sich tragen und eben auch diese Warnung.
(Zustimmung bei der FDP, bei der CDU, bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Für Zugewanderte, die keinen schulischen Abschluss in Deutschland erworben haben, ist eine solche Gedenkstättenfahrt im Rahmen der Weiterbildung ebenfalls vorzusehen. Da die Holocaust-Überlebenden leider aufgrund ihres Alters immer weniger werden, plädieren wir dafür, die zweite und dritte Generation ihrer Nachkommen stärker in die Erinnerungskultur einzubinden, um die Erinnerung an den Holocaust lebendig zu halten.
Der Tag der Erinnerung an den Holocaust am 27. Januar ist aufzuwerten, indem wir eine Schweigeminute nach dem Vorbild des israelischen Jom haScho‘a einführen, in der das öffentliche Leben für eine Minute zum Stillstand kommt.
Darüber hinaus ist es wichtig, dass wir als Gesellschaft zusammenstehen. Wir müssen eine klare Botschaft senden. Antisemitismus hat in unserer Gemeinschaft keinen Platz. Wir müssen die Stimmen derjenigen stärken, die sich gegen Antisemitismus und andere Formen der Diskriminierung aussprechen. Es ist entscheidend, dass wir solidarisch mit der jüdischen Gemeinschaft sind und ihr zeigen, dass sie nicht allein ist.
Die Zahlen antisemitischer Vorfälle sind alarmierend, aber sie sind auch ein Aufruf zum Handeln. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass diese Taten nicht ungestraft bleiben. Die Strafverfolgungsbehörden müssen die nötigen Ressourcen erhalten, um antisemitische Straftaten konsequent zu verfolgen und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Gleichzeitig müssen wir als Gesellschaft den Opfern von Antisemitismus zur Seite stehen und ihnen Unterstützung bieten.
Lassen Sie uns eine Gemeinschaft aufbauen, die Vielfalt feiert und in der jeder Mensch unabhängig von seiner Herkunft oder seinem Glauben in Sicherheit leben kann. Es liegt an uns, die Werte Respekt, Toleranz und Menschlichkeit zu verteidigen und zu fördern. Gemeinsam können wir eine Zukunft gestalten, in der Antisemitismus und andere Formen des Hasses keinen Platz haben. Lassen Sie uns die Stimme erheben und für eine Gesellschaft eintreten, die auf den Prinzipien der Gleichheit und des Respekts basiert.
Auch im Hinblick auf die von der AfD beantragte Debatte anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Bauhauses möchte ich mit Bertolt Brecht schließen: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ - Vielen Dank, meine Damen und Herren.