Dr. Tamara Zieschang (Ministerin für Inneres und Sport):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Der Terroranschlag am 9. Oktober 2019 war und ist eine Zäsur für unser Bundesland. Zwei Menschen wurden bei dem rechtsterroristischen Anschlag brutal ermordet, andere wurden schwer verletzt. Unter den traumatischen Erfahrungen leiden heute noch viele. Der Angriff auf die Synagoge, der Angriff auf den „Kiez-Döner“ und das Geschehen in Wiedersdorf haben uns sehr deutlich vor Augen geführt, zu welcher Gewalt ein Mensch fähig sein kann, der antisemitischen, rassistischen und rechtsextremen Gedanken anhängt.

In dieser Tat eines Einzelnen zeigen sich aber auch Muster und Einstellungen, die sich in unserer Gesellschaft auf erschreckende Weise verbreiten. Antisemitismus und Rassismus sind keine Themen aus der Vergangenheit, sondern zeigen eine erschreckende Aktualität auf. Seit dem barbarischen Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober letzten Jahres erleben wir auch in Deutschland einen drastischen Anstieg antisemitischer Ressentiments. 

(Zustimmung)

Antisemitischer Hass und antisemitische Hetze gibt es in erschreckendem Ausmaß vor allem in den sozialen Medien, aber auch im realen Leben. Dem gilt es entschlossen entgegenzutreten.

(Zustimmung von Kerstin Godenrath, CDU)

Antisemitismus und Rassismus, egal aus welcher politischen Ecke, verlangen eine beständige Gegenwehr der Zivilgesellschaft und einen starken Rechtsstaat.

(Zustimmung bei der CDU)

Wenn Menschlichkeit versagt, wenn antisemitischer oder rassistischer Hass um sich greift, gilt es, die Stimme zu erheben. Antisemitismus und Rassismus dürfen in unserer Gesellschaft keinen Platz haben.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

Das heißt für uns als Gesellschaft auch: Jeder entwendete Stolperstein wird ersetzt. 

(Beifall bei der CDU, bei der Linken, bei der SPD, bei der FDP und bei den GRÜNEN - Dr. Falko Grube, SPD: Ja!)

Wir lassen nicht zu, dass die Erinnerung an deportierte und ermordete Jüdinnen und Juden ausgelöscht wird.

Insbesondere innerhalb des rechtsextremistischen Weltbildes nimmt der Antisemitismus ideologisch eine zentrale Stellung ein. Der Antisemitismus ist ein für die rechtsextremistische Szene verbindendes und konstantes Charakteristikum. Antisemitismus ist in allen Teilbereichen des Rechtsextremismus feststellbar und findet über unterschiedlichste Medien Verbreitung. Dabei spielen neben rechtsextremistischer Musik und Druckerzeugnissen von Verlagen das Internet, soziale Medien und Messengerdienste wie Telegram mit großem Abstand die herausragende Rolle.

Antisemitismus ist aber nicht allein im Rechtsextremismus zu verorten. Aufgrund unserer jüngsten Geschichte, aufgrund der Singularität des vom NS-Regime verübten Holocaust neigt ein großer Teil der deutschen Öffentlichkeit dazu, den Antisemitismus als politische Ideologie allzu einseitig mit dem Rechtsextremismus zu assoziieren. Letztlich birgt dies die Gefahr, die Wirkmächtigkeit antisemitischer Feindbilder in anderen extremistischen Milieus zu unterschätzen.

(Zustimmung bei der CDU, von Dr. Katja Pähle, SPD, von Guido Kosmehl, FDP, und von Andreas Silbersack, FDP)

Seit vielen Jahren weist der Verfassungsschutz auf die Tatsache hin, dass antisemitische Feindbilder und Verschwörungstheorien nicht nur von Rechtsextremisten und Reichsbürgern verbreitet werden, sondern in allen Phänomenbereichen des politischen Extremismus vorkommen. Nehmen wir z. B. den Islamismus. Nahezu alle in Deutschland aktiven islamistischen Organisationen hegen antisemitisches Gedankengut und verbreiten es auf unterschiedlichen Wegen. Sachsen-Anhalt ist zwar keine Schwerpunktregion des Islamismus. In Reaktion auf den 7. Oktober 2023 haben aber auch Islamisten in Sachsen-Anhalt in sozialen Medien gewaltverherrlichendes antisemitisches Propagandamaterial verbreitet, das dazu diente, den grausamen Terrorangriff der Hamas auf Israel zu glorifizieren. An versammlungsrechtlichen Aktionen im Zusammenhang mit dem Terrorangriff der Hamas und der israelischen Reaktion darauf haben sich Islamisten in Sachsen-Anhalt bisher jedoch nicht beteiligt. 

Ganz anders stellt sich das in der linksextremistischen Szene dar. In Magdeburg, Dessau-Roßlau und Halle kam es zu mehreren Kundgebungen, die vom sogenannten antiimperialistischen Spektrum im Linksextremismus organisiert wurden. In der Weltsicht dieser Antiimperialisten ist Israel ein imperialistischer Staat, der die Palästinenser unterdrückt. Als Opfer werden allein die Palästinenser betrachtet. Antiimperialistisch orientierte Linksextremisten werfen Israel einen Völkermord, Pogrome oder die Wiederholung des Holocaust an den Palästinensern vor und setzen israelische Militäraktionen mit den Verbrechen des NS-Regimes gleich. 

Also, wenn es um die Bekämpfung des Antisemitismus geht, müssen wir alle Phänomenbereiche des politischen Extremismus in den Blick nehmen. 

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Nachgang zu dem Terroranschlag von Halle hat der Landtag von Sachsen-Anhalt die Landesverfassung um einen Artikel 37a ergänzt. Er lautet:

„Die Wiederbelebung oder Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts, die Verherrlichung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems sowie rassistische und antisemitische Aktivitäten nicht zuzulassen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt und Verantwortung jedes Einzelnen.“ 

So Artikel 37a unserer Landesverfassung. Dies ist der Maßstab, an dem sich die Landesregierung orientiert. Die Bekämpfung von Antisemitismus sowie der Schutz der jüdischen Gemeinschaft sind auch in Sachsen-Anhalt Staatsräson.

Antisemitismus und Rassismus entschieden entgegenzutreten, umfasst nicht nur den Schutz vor Diskriminierung und Gewalt, sondern umfasst auch die Förderung der jüdischen Kultur und Identität. Deshalb sind das „Landesprogramm für jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt und gegen Antisemitismus“ mit einer Vielzahl an Maßnahmen sowie die Jüdischen Kulturtage so wichtig. 

Im letzten Jahr wurde Sachsen-Anhalt innerhalb weniger Wochen durch zwei jüdische Gotteshäuser bereichert. Im Oktober letzten Jahres wurden in Dessau die Weill-Synagoge und im Dezember letzten Jahres in Magdeburg die Neue Synagoge eröffnet. Die zwei neuen Synagogen zeigen, dass jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt wieder präsent und erlebbar ist. Jüdisches Leben findet sprichwörtlich Raum für neue Entfaltung. Dies ist gerade nach dem rechtsextremistischen Anschlag auf die jüdische Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019 ein Geschenk für unser Land.

(Beifall bei der CDU, bei der Linken, bei der SPD, bei der FDP und bei den GRÜNEN)

Doch daraus erwächst auch eine große Verpflichtung, nämlich die Verpflichtung, jüdisches Leben zu schützen und jeder Form von Antisemitismus entschieden zu begegnen. Deshalb unterstützen wir die jüdischen Gemeinden in Sachsen-Anhalt in Sicherheitsfragen weitreichend. Die Landespolizei gewährleistet umfassende Schutzmaßnahmen an Synagogen und jüdischen Einrichtungen sowie anlässlich von Veranstaltungen. Die Landespolizei steht den jüdischen Gemeinden in sicherheitstechnischen Fragen beratend zur Seite und sie tauschen sich eng miteinander aus. Ich selbst habe zuletzt Ende September bzw. Anfang Oktober mit den jüdischen Gemeinden zu Fragen ihrer Sicherheit gesprochen. Dabei waren wir uns gemeinsam über eines im Klaren: Absolute Sicherheit kann es nicht geben, auch wenn die Landesregierung in den letzten Jahren das ihr Mögliche für mehr Sicherheit getan hat.

Ein Staatsvertrag über baulich-technische Sicherungsmaßnahmen an Einrichtungen der Jüdischen Gemeinschaft wurden geschlossen und alle dafür notwendigen Mittel wurden und werden hierfür zur Verfügung gestellt. Sachsen-Anhalt fördert darüber hinaus eine eigene Meldestelle für antisemitische Vorfälle ergänzend zu den Beobachtungen der Polizei und eine eigene Stelle zur Beratung und Betreuung für Betroffene.

Für die Landespolizei ist die konsequente Verfolgung antisemitisch motivierter Straftaten wesentliche Aufgabe. Insoweit gilt es, durch die Vermittlung von interkultureller Kompetenz antisemitische Straftaten besser erkennen zu können. Als zweites Bundesland in Deutschland hat Sachsen-Anhalt einen Polizeirabbiner. Diese Aufgabe hat der Landesrabbiner Daniel Fabian übernommen. Der Polizeirabbiner gestaltet das Studium sowie die Aus- und Fortbildung an der Fachhochschule der Polizei mit und steht allen Angehörigen der Landespolizei als Ansprechpartner zur Verfügung.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bekämpfung des Antisemitismus ist und bleibt nicht nur eine Aufgabe der Sicherheitsbehörden, sondern vor allem auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Jede und jeder kann dazu beitragen, Antisemitismus und Rassismus entgegenzutreten, indem jede Einzelne, indem jeder Einzelne in unserem Land aktiv Stellung bezieht und sich für eine offene und respektvolle Gesellschaft einsetzt. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der FDP)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding: 

Vielen Dank, Frau Dr. Zieschang. - Es gibt eine Frage, und zwar von Herrn Gallert.


Wulf Gallert (Die Linke):

Frau Dr. Zieschang, herzlichen Dank für die Darstellung. Ich glaube, uns alle gemeinsam eint, dass Antisemitismus sowohl in den Köpfen als auch auf den Straßen zu bekämpfen ist. Nun werden wir zurzeit Zeugen einer ziemlich komplizierten Situation, in der Abgrenzungen schwierig werden, und zwar die Positionierung zum Nahostkonflikt und zum Krieg dort vor Ort und zum Antisemitismus. Das ist nicht einfach.

Es gibt an allen möglichen Ecken und Enden eine intensive gesellschaftliche Debatte darüber. Deswegen frage ich Sie nach zwei Dingen, die Sie jetzt angesprochen haben. Erstens, wo ist für Sie die Abgrenzung zwischen einer, ich nenne jetzt einmal diesen Begriff, pro-palästinensischen Solidarisierung auf der einen Seite und Antisemitismus auf der anderen Seite? Ich meine, das Existenzrecht Israels infrage zu stellen, ist antisemitisch; davon gehen wir jetzt beide einmal aus. Ist die Forderung nach einem eigenständigen palästinensischen Staat in Ihren Augen antisemitisch?

Es gibt eine zweite Frage, die ich gern beantwortet hätte. Sie haben in diesem Kontext in Bezug auf den Gaza-Krieg vom Vorwurf des Völkermordes gegenüber Israel gesprochen. Ich halte diesen Vorwurf persönlich für dezidiert nicht berechtigt.

Aber der Internationale Gerichtshof hat auf die Klage von Südafrika hin ausdrücklich Anzeichen für genozidale Handlungen Israels erkannt und Maßnahmen gefordert, um dies in Zukunft zu verhindern. Ist also diese Behauptung, hierbei handele es sich um Völkermord, aus Ihrer Perspektive antisemitisch und muss dementsprechend verboten werden?


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Das waren zwei Fragen, aber bitte, Frau Dr. Zieschang.

(Zuruf: Das ist eine innerparteiliche Debatte!)


Dr. Tamara Zieschang (Ministerin für Inneres und Sport): 

Es wird dort, wie so häufig, auf den Gesamtkontext einer Bewertung ankommen. Ich fange vielleicht einmal so an: Wenn Handlungen der israelischen Regierung kritisiert werden - es finden täglich, glaube ich, Demonstrationen in Israel gegen die eigene Regierung statt  ; dann ist das eine völlig legitime Meinungsäußerung und hat natürlich nichts mit Antisemitismus zu tun.

Wenn allerdings - Sie haben die Abgrenzung schon vorgenommen - Sprüche, wie „From the River to the Sea“, getätigt werden, also das Existenzrecht Israels bestritten wird, dann hat das nichts mit dem Handeln der aktuellen Regierung zu tun, sondern es ist die Ablehnung eines kompletten Staates und damit klar   so haben auch Sie selbst es eingeordnet   antisemitisch.

Jetzt komme ich zu dem Vergleich mit dem Völkermord und der Aussage des Internationalen Gerichtshofs. Ich würde auch an dieser Stelle sagen, dass es immer auf den Kontext ankommt. Wenn der Völkermord im nächsten Atemzug mit der Wiederholung des Holocaust gleichgesetzt wird, dann ist das am Ende eine Relativierung des Holocausts und kann deswegen schon antisemitisch sein.

Die Verwendung eines Begriffes muss immer im Kontext gesehen werden und es muss eine Gesamtbewertung vorgenommen werden. Deswegen ist mir die Beantwortung der Frage abstrakt schwer möglich; denn jede Äußerung wird immer in einem Kontext getätigt und aus dem Gesamtkontext kann sich eine antisemitische Haltung oder aber auch ein Diskurs über aktuelle politische Fragen ergeben. Das muss im Gesamtkontext bewertet werden.