Eva von Angern (Die Linke):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Lieber Kollege Fraktionsvorsitzender der CDU, Guido Heuer, im Jahr 1989 war der 9. November ein friedlicher, ein unblutiger, ein glücklicher Tag der Weltgeschichte. Allein das ist außergewöhnlich genug. Dafür sind wir bis heute dankbar, auch in vergleichender Perspektive auf viele andere Novembertage in Deutschland.

Als Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros, am Abend des 9. Novembers die Reisefreiheit für die Bürger der DDR verkündete, erschien das zunächst für viele unglaublich. Das lag zwar auch an Schabowskis unsicherer Vortragsweise, aber eben auch daran, dass dieser Satz einer Revolution gleichkam. Vor allem Ostberliner wollten sich noch am gleichen Abend vom Wahrheitsgehalt dieser Pressekonferenz und dieser Worte überzeugen und belagerten bald zu Tausenden die Kontrollstellen und Grenzposten.

Mit der Öffnung des Schlagbaumes an der Berliner Mauer kurz vor Mitternacht endete die DDR. Das war zum damaligen Zeitpunkt sicherlich für viele noch nicht so offensichtlich. Einige Grenzpolizisten markierten noch Ausweise, um den Menschen mit dem entsprechenden Eintrag die Rückkehr in die DDR zu verweigern. Die schiere Übermacht der Grenzübertritte aber machte solche Niederträchtigkeiten wirkungslos.

Der Reformprozess in der DDR und in Osteuropa kulminierte in dieser Nacht in einer ausgelassenen, in einer glücklichen Feier. Das tödliche Grenzregime hatte seine Allmacht und seinen Schrecken verloren.

Noch wenige Monate zuvor im Februar 1989 war der 20-jährige Chris Gueffroy beim gemeinsamen Fluchtversuch mit einem Freund an der Berliner Mauer erschossen worden. Vor dem Herbst 1989 verloren an der innerdeutschen Grenze weit mehr als 300 vor allem junge Menschen ihr Leben durch die Schüsse von Grenzpolizisten oder durch perfide installierte Selbstschussanlagen.

Viel Angst und Verzweiflung gehen dem 9. November voran, aber eben auch Mut, Hoffnung und Aufbruchswille. Der Reformprozess in Polen, in der Sowjetunion und auch in Ungarn hatte alle sozialistisch verfassten Staaten bereits ergriffen. Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow wurde rund um die Welt zum Hoffnungsträger. Was sich heute so einfach zusammenfassen lässt, bedeutete damals aber schwierigste Abwägungen, höchste individuelle Risikobereitschaft und eben auch großen Mut.

Noch im Juni 1989 antwortete die Kommunistische Partei Chinas mit brutalster Waffengewalt auf die dortige Protestbewegung. Der Platz des Himmlischen Friedens wurde zum Fanal, als Studentinnen und Studenten, Bürgerinnen und Bürger dort Panzern und Soldaten gegenüberstanden. Diese Bilder gingen um die Welt; denn anlässlich des Besuches von Gorbatschow in Peking waren internationale Pressevertreterinnen vor Ort.

Verborgen vor den Kameras starben in Peking und an anderen Orten tausende Menschen bei der militärischen Niederschlagung dieser Studentenproteste. Diese Bilder waren auch in den Köpfen der Menschen in der DDR sehr präsent. Niemand in Leipzig, Plauen und Magdeburg wusste, ob die Staatsführung nicht mit eben solcher Waffengewalt reagieren würde.

Bei den Einheitsfeierlichkeiten vor drei Wochen sprach der Bundeskanzler vom Tag der Tapferkeit und er meinte damit zutreffend den 9. Oktober 1989. Vier Wochen vor der Maueröffnung demonstrierten 70 000 Menschen auf dem Leipziger Ring für Reformen und für politische Freiheiten in der DDR. Jeder Einzelne hat damals dazu beigetragen, den anderen zu schützen. Die schiere Masse friedlicher Menschen machte diese Demonstration zu einem Schlüsselmoment im Herbst 1989.

Aber nicht nur die mutigen Demonstrantinnen und Demonstranten an zahlreichen Orten der DDR spielten eine wesentliche Rolle beim Gelingen der friedlichen Revolution. Vor wenigen Wochen jährte sich die Prager Botschaftsbesetzung zum 35. Mal. Der Landtag von Sachsen-Anhalt hat dieses Ereignis mit einer Festveranstaltung in Prag gewürdigt. Es war der richtige Anlass, wie wir finden, auch wenn wir die Kritik an der Form und der Dimension dieser Reise beibehalten.

Wer sich aber an die Flüchtlinge in Prag erinnert oder wer die Bilder und Fernsehaufnahmen von 1989 betrachtet, der sieht eben nicht nur Furchtlosigkeit in den Gesichtern. Er sieht vor allem wilde Entschlossenheit. Die Leute flohen mit Kind und Kegel und sie hoben die Babys und Spielsachen über den hohen Zaun ins bundesdeutsche Botschaftsgelände hinein. Die zurückgelassenen Kinderwagen vor dem Zaun der Botschaft waren eine Bankrotterklärung. Jeder, der im Sommer über Prag, über Westberlin oder über Ungarn aus der DDR floh, wollte, dass seine Kinder nicht mehr in diesem Staat aufwachsen. Die DDR hatte ihre Zukunft verloren.

(Zustimmung von Anne-Marie Keding, CDU)

Sehr geehrte Damen und Herren! Heute wird zuweilen darüber gestritten, wer den größeren Anteil am Gelingen der friedlichen Umwälzung in der DDR hatte. Unstrittig dürfte aber sein, dass Ausreisende, Opposition, Massenerhebung und Staatsreform zusammenwirkten und sich eben gegenseitig verstärkten. Unstrittig dürfte sein, dass Oppositionelle und Flüchtlinge, Demonstrantinnen und Demonstranten zu dieser Zeit enorm viel riskierten.

Diejenigen, die sich kritisch zur Partei- und Staatsführung positionierten, zahlten oft einen sehr hohen Preis. Gerade diejenigen, die die DDR verändern wollten, riskierten und verloren ihre Freiheit, ihre Gesundheit, ihre berufliche Karriere und manchmal auch ihre Familie.

Auch für zur Ausreise Entschlossene war die Situation 1989 anders als in den Jahren zuvor. Bevor Grenzübertritte ohne Lebensgefahr von Ungarn nach Österreich möglich wurden, erlebten Ausreisewillige in der DDR jahrelange Schikanen und Demütigungen. Wer heute politische Auseinandersetzungen mit den Zuständen von damals in der DDR gleichsetzt, der weiß entweder nicht, wovon er spricht, oder er will es nicht wissen.

(Zustimmung bei der Linken, bei der CDU, bei der SPD, bei der FDP und bei den GRÜNEN)

Ein Land ohne Meinungsfreiheit ist etwas anderes als ein Land mit unterschiedlichen Meinungskorridoren.

(Zustimmung bei der Linken, bei der CDU, bei der SPD, bei der FDP und bei den GRÜNEN)

Wer heute allerdings meint, dass Demokratie und Diktatur Menschen für Jahrzehnte prägen und trennen, macht es sich zu leicht. Menschen reagieren vor allem auf Umstände, auf aktuelle Umstände, unter denen sie leben. Sie beurteilen ihre Chancen auf Glück, auf Wohlstand und auf Freiheit im Heute, im Hier, im Jetzt.

Sie wollen, dass es ihren Kindern gut geht und dass es ihnen künftig besser gehen wird. Sie tun das nicht, weil sie Ostdeutsche sind, weil sie Westdeutsche sind oder weil sie Europäer sind. Sie tun dies als Menschen. Sie tun dies als Menschen, die um ihre Lebensumstände und um ihre Möglichkeiten wissen, eine sinnvolle Arbeit zu haben oder ein erfülltes Leben.

Heute, lange nach dem Ende der Blockkonfrontation, gibt es keinen Sehnsuchtsort mehr, keinen Fluchtpunkt. Die Zukunft ist nicht verloren, aber sie ist eben ungewiss in Zeiten großer geopolitischer und ökonomischer Veränderungen. Ja, wir gehen in eine andere Zeit. Ich sage es deutlich: Heute mangelt es nicht wie vor 35 Jahren an Freiheit.

(Zustimmung bei der Linken und bei den GRÜNEN)

Heute herrschen so viele Freiheiten, dass der Anteil derer steigt, die sich leider wieder mehr autoritäre Einschränkungen wünschen; freilich immer nur für die anderen, nicht für sich selbst. Heute fehlt es an Sicherheiten, an Zuversicht, an Verlässlichkeit. Wird es meinem Kind besser gehen als mir? - Das ist eine naheliegende Frage geworden in den Krisen und Umbrüchen in Wirtschaft und Gesellschaft. Populisten beantworten diese Frage, indem sie sagen: Besser wird es nur, wenn alles so bleibt wie es ist.

Wenn die Zukunft so ungewiss ist wie jetzt, dann scheint für viele Sicherheit nur im Rückgriff auf Vergangenes greifbar zu sein. Wir, die demokratischen Kräfte hier im Landtag, müssen diese Frage wirklich beantworten, aber bitte mit dem Blick nach vorn. Auch das gehört dazu, wenn wir den Mut und die Hoffnung der Menschen vor 35 Jahren würdigen. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.