Dr. Katja Pähle (SPD):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Werte Kolleginnen und Kollegen! Ein Jahrestag wie der, über den wir heute diskutieren, ist immer wieder Anlass, sich daran zu erinnern, auf wessen Schultern wir alle hier stehen. Jedenfalls meine Generation genießt die Freiheit und die Möglichkeiten, die sich in der Demokratie ergeben und sich in der Demokratie zu engagieren, nicht aus eigenem Verdienst. Wir verdanken diese Freiheit vielen, die vor uns aktiv waren und die mehr aufs Spiel setzten als wir,
(Beifall bei der SPD)
und zwar denen, die in der DDR den Mut zu offenem Widerspruch hatten, denen, die vor allem in der Spätphase der SED-Herrschaft immer wieder auf Reisefreiheit drängten, denen, die sich im Mai 1989 an vielen Orten der DDR in die Wahllokale setzten und vielfachen Wahlbetrug nachweisen konnten, denen, die mutig vorangingen und das Neue Forum, die sozialdemokratische Partei der DDR, und weitere Bürgerbewegungen gründeten und schließlich den Hunderttausenden, die in Leipzig, in Berlin, in Magdeburg, in Halle, in Quedlinburg und an vielen anderen Orten auf die Straße gingen und den Weg zum Fall der SED-Herrschaft bahnten. Nicht zu vergessen die polnische Solidarnosc, die tschechoslowakische Charta 77 und den Protagonisten von Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion, die die SED-Führung mit ihrem erstarrten Kurs alt und immer älter aussehen ließen.
Angesichts dieser Bewegungen, die weit über die in Ostdeutschland hinausgingen, war die am 9. November 1989 verkündete neue Reiseregelung nur noch der Tropfen, der die Dämme brechen ließ und damit das Ende der Macht der SED und schließlich auch das Ende der DDR einläuteten.
Es wirkt heute positiv nach, dass der Aufbruch und die neue Freiheit in das wiedervereinigte demokratische Deutschland und nicht zu vergessen in die Europäische Union friedlich gelang und dass es auch keinen Versuch gab, ihn gewaltsam zu unterbinden. Massaker, wie wir sie 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking erleben mussten, blieben uns dankenswerterweise erspart.
Meine Damen und Herren! Viele von uns sehen die Ereignisse noch immer, als wären sie gestern passiert, weil sie so tiefgreifend in ihrem Leben waren. Ich glaube, der Kollege Fraktionsvorsitzende Guido Heuer hat davon gerade Zeugnis abgelegt.
(Zustimmung bei der SPD, bei der CDU, bei der Linken, bei der FDP und bei den GRÜNEN)
Und doch reicht der Abstand von 35 Jahren den Vertretern ganz verschiedener Richtungen aus, um DDR-Geschichte zu verklären. Auch das haben wir gerade erlebt. Aus dem rechtsextremen Lager und aus der AfD wird der Blick gleich in beide Richtungen wild verzerrt.
Einerseits werden die heutigen politischen Verhältnisse gern mit der SED-Diktatur gleichgesetzt und dem Regime ein ähnliches Ende prophezeit. Da haben Sie sich aber getäuscht, meine sehr geehrten Kollegen.
(Zustimmung bei der SPD, bei der CDU, bei der Linken, bei der FDP und bei den GRÜNEN)
Andererseits wird die DDR von rechts verklärt, und zwar in Abgrenzung zur Entwicklung in Westdeutschland und zur gesamtdeutschen Realität von heute. Rechtsextremisten wenden ihre Sympathie in perverser Verzerrung der Geschichte auf einmal der DDR zu, weil sie ein autoritärer Staat war, der starke Mann, weil sie ihnen irgendwo deutscher und nationaler erscheint und vor allem, weil sie abgeschottet war von der Welt, von der bösen Globalisierung und von all den vielfältigen kulturellen und ökonomischen Einflüssen, die unser Leben heute bereichern.
Rechtsextremisten und neue Populisten, so scheint es, lieben an der DDR ausgerechnet das, was ihre Bürgerinnen und Bürger besonders gehasst haben, nämlich, dass ihnen die Vielfalt der Welt versperrt war.
(Zustimmung bei der SPD, bei der CDU, bei der Linken, bei der FDP und bei den GRÜNEN)
Nach 35 Jahren sollte ein differenzierter Blick auf die DDR möglich sein. Ja, die DDR hatte das bessere System der Kinderbetreuung. Dass wir diesen Vorteil Ost erfolgreich in die neue Zeit mitgenommen haben, erkennen mittlerweile auch Westdeutsche neidvoll an. Ja, das Schulsystem hatte mit einer späten Differenzierung und einer großen Praxisnähe klare Vorteile, die leider verloren gegangen sind,
(Guido Kosmehl, FDP: Na, na, na!)
aber auch die auf die ideologische Bevormundung im Unterricht und auf die gelenkte Berufswahl am Ende der Schulzeit
(Guido Kosmehl, FDP: Und die Nichtzulassung zum Abitur!)
- und die Nichtzulassung zum Abitur - konnten wir gerne und gut verzichten. - Genau das macht den differenzierten Blick aus, Herr Kosmehl.
Ja, es gab Vollbeschäftigung, aber das geschah im System einer DDR-Planwirtschaft, die unproduktive Strukturen förderte, Ressourcen verschliss und die Bedürfnisse der Menschen nicht annähernd befriedigen konnte. Ja, es gab kostenlose und flächendeckende Gesundheitsversorgung, aber auf einem Niveau, das weit hinter dem Stand der Wissenschaft zurückblieb und glauben Sie mir, aus eigener persönlicher Erfahrung kann ich Ihnen davon einen ganzen Abend lang lauter Geschichten erzählen.
(Zuruf von der AfD: Geschichten, ja!)
- Erfahrungen! - Die Liste ließe sich fortsetzen. Genauso wie die DDR sollten wir auch die Entwicklung Ostdeutschlands seit der Wiedervereinigung ehrlich und differenziert betrachten.
Niemandem wird es schlechter gehen. Diese Prophezeiung von Lothar de Maizière und Helmut Kohl war natürlich fahrlässiger Unfug. Viele gelernte DDR-Bürger, die ihren Arbeitsplatz verloren und ihre Berufsqualifikation entwertet sahen, mussten in den 90er-Jahren und am Anfang dieses Jahrhunderts durch ein langes Tal der Tränen gehen.
(Zustimmung bei der CDU)
Ja, diese Entwertung von Lebensleistungen wirkt bis heute nach. Wir sehen das etwa in den regelmäßig wiederkehrenden Debatten über Rentenungerechtigkeit und Härtefallfonds hier im Haus. Auch die zugrundeliegende Entscheidung der Treuhand, der Abbau von Industriestrukturen und die Abwanderung vieler Fachkräfte wirken bis heute nach. Aber das ist nicht die gesamte und ganze Geschichte.
Zur Geschichte der Entwicklungen in Ostdeutschland und Sachsen-Anhalt seit der Wiedervereinigung gehören auch die Menschen, die hier geblieben sind und sich neue Existenzen aufgebaut haben. Dazu gehören die Hochschulen, die junge Menschen aus der ganzen Welt anziehen. Dazu gehören die Start-ups, die sich in ihrem Umfeld gründen.
Dazu gehören die Unternehmen, die endlich erkennen, wie attraktiv wir als Investitionsstandort in der Mitte Europas sind und das meint viel, viel mehr als nur Intel. Dazu gehören die mit viel Liebe restaurierten historischen Städte und Dörfer in unserem Land, die Besucher aus strukturschwachen Regionen in Westdeutschland oft staunend machen und die dazu beitragen, wie lebenswert unser Sachsen-Anhalt ist.
Dazu gehören all die Menschen, die sich vor Ort ehrenamtlich engagieren: in der Kommunalpolitik, in Vereinen und Bürgerinitiativen, in lokalen Netzwerken für Demokratie. Sie alle sorgen dafür, dass funktionierende Gemeinschaften Menschen zum Bleiben bewegen. All das sind Mikroinvestitionen in die Zukunftsfähigkeit unserer Region.
Ich weigere mich deshalb, die letzten Jahrzehnte der Entwicklungen in Ostdeutschland einseitig als eine Geschichte des Abbaus zu betrachten. Es ist auch eine Geschichte von erlebbarer persönlicher Freiheit, von vielfältigen Aufbrüchen, von neuen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und der gesellschaftlichen Gestaltung, die sich im starren Korsett der DDR-Gesellschaft nie und nimmer geboten hätten. Und es ist eine Geschichte der Demokratie. Das ist das wertvollste Ergebnis der Friedlichen Revolution und das werden wir entschieden verteidigen.
(Zustimmung bei der SPD, bei der CDU, bei der Linken, bei der FDP und bei den GRÜNEN)
Meine Damen und Herren! Nur noch fünf Jahre dann leben die Deutschen in Ost und West so lange zusammen, wie sie vorher staatlich getrennt gewesen sind. Ich weigere mich, denen auch jüngst wieder zu vernehmenden Unkenrufen zu folgen, die uns prophezeien, dass die immer weiter zurückliegende Teilung noch über Generationen hinweg nachwirken wird. Denn Menschen sind lernfähig.
Vom Ende des letzten Krieges zwischen den vermeintlichen Erzfeinden Deutschland und Frankreich bis zur Unterzeichnung des Élysée-Vertrages, der Deutsche und Franzosen zu den engsten Freunden und Verbündeten in Europa machte, vergingen gerade einmal 18 Jahre. Zwischen dem von deutschen Soldaten brutal niedergeschlagenen Aufstand im Warschauer Ghetto und Willy Brandts Kniefall am Ehrenmal für die Helden dieses Aufstandes lagen 27 Jahre.
Aus der Geschichte der deutschen Teilung und erst recht aus der Geschichte der Wiedervereinigung haben wir nicht annähernd so tiefe Verletzungen aufzuarbeiten, wie die Generation vor uns beim Zusammenwachsen Europas.
Wir sollten deshalb nicht auf die Ungerechtigkeiten der Nachwendejahre starren. Wir müssen über sie diskutieren, aber nicht darauf starren wie das Kaninchen auf die Schlange. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass Sachsen-Anhalt und die anderen ostdeutschen Länder ihren Platz in Deutschland und in Europa ausfüllen, und zwar selbstbewusst, demokratisch, weltoffen und natürlich tarifgebunden. - Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.