Tagesordnungspunkt 3

Aktuelle Debatte

Europäische Idee bewahren - Rechtsstaatlichkeit verteidigen - Menschenrechte schützen

Antrag Fraktion Die Linke - Drs. 8/4591 


Wie bei Aktuellen Debatten üblich ist eine Zehnminutendebatte vereinbart worden. Den Auftakt macht Frau Quade für die Fraktion DIE LINKE. - Frau Quade, bitte. 


Henriette Quade (Die Linke): 

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Montag wird die jahrzehntealte Kernforderung der extremen Rechten erfüllt: endlich wieder Grenzkontrollen an den deutschen Grenzen. Das ist also der Fortschritt der selbst ernannten Fortschrittskoalition. Eine SPD-Innenministerin erklärt, mit Augenmaß umzusetzen, wovon Horst Seehofer nur träumen konnte. Die GRÜNEN rühmen sich im Bundestag dafür, durchzusetzen, was die Union in ihrer Regierungszeit maximal hinter vorgehaltener Hand erhoffte. Autokraten wie Viktor Orban zollen Beifall. - Herzlichen Glückwunsch liebe Ampel! Sie sollten sich schämen.

(Beifall bei der Linken)

Denn anstatt nach dem Anschlag von Solingen endlich eine seriöse und an Ursachenforschung und  bekämpfung orientierte Auseinandersetzung mit Islamismus und islamistischen Terror anzugehen, gibt es Aktionismus und Augenwischerei im Bereich der Innenpolitik sowie gefährlichen Populismus, die Übernahme rechter Narrative und Kollektivstrafen gegen Migrantinnen und Migranten. 

Ich will bewusst mit dem Islamismus anfangen; denn schließlich werden Maßnahmen, wie das Ende offener Grenzen, Entzug von Sozialleistungen für Geflüchtete und Inhaftierungszentren an den Grenzen ja als Sicherheitspaket verkauft. Den Effekt einer Politik, die vorgibt, endlich wieder rechtstaatliche Härte walten lassen zu wollen, indem sie z. B. auch in islamistische Regime abschiebt, haben wir erst kürzlich gesehen: Nach einer Woche war ein Teil der Anfang September nach Afghanistan abgeschobenen Straftäter frei. Das Prinzip „Hauptsache Abschieben“ bedeutet faktisch auch Straffreiheit, insbesondere für islamistische Straftäter. 

(Zuruf von der AfD)

Wer Islamismus in Deutschland bekämpfen will, muss klären, was ihn insbesondere für junge Männer attraktiver macht als die demokratische Gesellschaft. Das ist keine knallige Forderung, mit der man in die Schlagzeilen kommt, aber das wäre der notwendige und der dringend überfällige Schritt zu mehr Sicherheit. Und ja, das hilft den Ermordeten von Solingen nicht. 

(Zurufe von Guido Kosmehl, FDP, und von Nadine Koppehel, AfD) 

Das tun aberwitzige Messerverbote auch nicht. Und ja, wir brauchen Vereinsverbote; ja, wir brauchen muslimische Gemeinden und Zentren, die sich klar von Islamismus und Antisemitismus abgrenzen; ja, eine staatliche Förderung für diejenigen, die das nicht tun, ist nicht hinnehmbar. 

Wir brauchen Waffenbehörden, die geltendes Waffenrecht auch umsetzen, mehr Radikalisierungsprävention, mehr Sozialarbeit, mehr Integrationsarbeit 

(Zuruf von Frank Bommersbach, CDU) 

und wir brauchen bessere Analysefähigkeit von Sicherheitsbehörden in Bezug auf modernen Terror im 21. Jahrhundert. 

(Beifall bei der Linken)

Das alles hat aber - und das ist das Problem - mit der Debatte, die seit Solingen geführt wird, nichts zu tun. Denn längst geht es nicht mehr im Ansatz um diese Fragen, sondern um einen Überbietungswettbewerb an Schäbigkeiten und die Instrumentalisierung islamistischer Straftäter zur Legitimierung menschenfeindlicher und verfassungswidriger Forderungen im Bereich der Migrationspolitik.

(Guido Heuer, CDU: Oh Mann!)

Menschen im Dublin-Verfahren die Sozialleistung zu entziehen, ist nicht nur eine offensichtliche Ignoranz des Leitsatzes des Bundesverfassungsgerichtes - die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren  , sondern auch das Gegenteil von Kriminalitätsbekämpfung, weil es Menschen in die Illegalität treibt.

(Zustimmung bei der Linken - Lachen bei der AfD)

Dublin-Fälle, wie diese Menschen im Amtsdeutsch genannt werden, können sich nicht selbst überstellen. Neun von zehn Überstellungen in andere europäische Länder scheitern nicht an den Betroffenen, sondern an den Behörden, den Dokumenten und den Zielländern.

Grenzkontrollen und Zurückweisungen verstoßen gegen den Schengener Grenzkodex und legen die Axt an die Basis der Europäischen Union.

(Zustimmung bei der Linken - Guido Kosmehl, FDP: Nein!)

Denn nur im absoluten Ausnahmefall, in dem plötzlich eine außergewöhnlich hohe Zahl unerlaubter Migrationsbewegungen stattfindet, sind Grenzschließungen mit EU-Recht in Einklang zu bringen. Die Realität ist aber: Die Zahl der Asylanträge geht mit Ausnahme der Geflüchteten aus der Ukraine in den letzten beiden Jahren, für die ja sehr schnell Verfahren gefunden wurden, ihre Migration zu ordnen, zurück.

(Ulrich Thomas, CDU: Um wie viel geht sie zurück?)

Den von Ihnen behaupteten Notstand gibt es nicht.

Eine aktuelle Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage meiner Kollegin Clara Bünger zeigt, zu weniger als 8 % der bei den bereits erfolgten Grenzkontrollen als unerlaubt Einreisende registrierten Menschen lag überhaupt ein Eurodac-Treffer, also eine Registrierung in einem anderen europäischen Land vor.

Wenn Merz, Söder und andere so tun, als hingen Wohl und Wehe der weiteren Entwicklung der Bundesrepublik an der Frage der direkten Zurückweisung dieser Menschen, dann sage ich: Wir reden über sage und schreibe 3 300 Personen im ersten Halbjahr 2024. Weder die Anwesenheit dieser Menschen noch die Streichung der Sozialleistungen für die 7 000 Menschen bundesweit in diesem Status, was im Übrigen nichts anderes als ein Aushungern ist, hat etwas damit zu tun, ob Kommunen hier genug Geld für Schwimmbäder und Theater haben, ob es genügend Lehrkräfte gibt oder ob sich Menschen in Sachsen-Anhalt auf eine funktionierende Infrastruktur verlassen können.

(Beifall bei der Linken)

Europäische Gerichte verbieten regelmäßig bis heute z. B. Dublin-Überstellungen nach Italien oder Griechenland. Mehr als zwei Drittel der Eilanträge vor Gericht in diesen Fällen haben Erfolg. Statt nun endlich diese keineswegs neue Realität zur Kenntnis zu nehmen und aufzuhören, so zu tun, als ließe sich die Dysfunktionalität des Dublin-Systems dadurch lösen, dass man einfach besonders lautstark behauptet, es wäre nicht so, stellt die CDU lieber das Rechtssystem infrage und findet, dass Gerichte zu viel zu sagen haben. - Was für ein Versagen, was für ein moralischer Kontrollverlust,

(Beifall bei der Linken)

wie Christian Jakob und Maximilian P. schrieben. Nicht dass Gerichte Recht sprechen, ist ein Skandal, sondern dass sie regelmäßig den Gesetzgeber zur Einhaltung der Verfassung und der Menschenwürdegarantien zwingen müssen, ist ein Skandal.

(Zustimmung bei der Linken)

Meine Damen und Herren! Anwältinnen, der Rat für Migration, ein Netzwerk aus mehr als 200 Migrationswissenschaftlerinnen, und viele andere weisen neben allen moralischen Einwänden vehement darauf hin, dass Zurückweisungen an den Grenzen mit Europäischer Menschenrechtskonvention und Genfer Flüchtlingskonvention brechen.

(Guido Kosmehl, FDP: Nein!)

Das Versprechen, Migration mit Grenzkontrollen und Zurückweisungen drastisch zu reduzieren, ist eines, das nicht gehalten werden kann.

(Zustimmung bei der Linken und von Sebastian Striegel, GRÜNE)

Die Folgen werden verheerend sein. Die schon jetzt dramatisch gestiegene Zahl rassistischer Angriffe wird weiter zunehmen und diese Angriffe werden brutaler werden. Die Pogrome der 90er-Jahre in Mölln, Rostock, Quedlinburg und in vielen anderen Städten waren das Fanal einer Politik und Stimmung, die Migrantinnen statt Rassismus zum Problem machte.

Wer entgegen allen Fakten sagt, es reicht, der schürt eine gesellschaftliche Stimmung und Erwartungshaltung, die er nicht beherrschen kann. Wer permanent einen Notstand behauptet, den es nicht gibt,

(Ulrich Thomas, CDU: Natürlich gibt es einen Notstand! Wo leben Sie denn? - Oliver Kirchner, AfD, lachend: Wo leben Sie denn?)

statt die realen Notstände - bezahlbarer Wohnraum, Lehrkräftemangel, Wegbröckeln von Infrastruktur, Lebensmittelteuerung, Arbeitskräftemangel, die Folgen des Versagens im Kampf gegen die Klimakrise - zu bekämpfen, der muss damit rechnen, dass Menschen angetrieben von der extremen Rechten die Dinge selbst in die Hand nehmen und mit Gewalt regeln wollen. Denn auch das ist die bittere Erfahrung der 90er-Jahre: Erst stirbt das Recht und dann der Mensch.

(Zuruf von der CDU: Ach! - Ulrich Thomas, CDU: Mit welcher Autorität sagen Sie so etwas? Wo waren Sie in den 90er-Jahren? - Lachen bei der AfD - Weitere Zurufe)

Eine solche Debatte wirkt weit über Asylsuchende hinaus. Jede Kampagne zur Anwerbung von Fach- und Arbeitskräften wird scheitern, wenn Abschottungen, Menschenrechtsverletzungen und möglichst schlechte Bedingungen für Ausländerinnen das einhellige politische Signal von Regierung und Opposition sind. Das bedroht nicht nur die Zukunft der EU, das bedroht die Zukunft Sachsen-Anhalts.

(Zustimmung bei der Linken und von Sebastian Striegel, GRÜNE)

Meine Damen und Herren! Diese Politik ist brandgefährlich. Sie spaltet die Gesellschaft, sie macht Migrantinnen zu Sündenböcken und ist - gepaart mit der geplanten Halbierung der Mittel für Integration im Bundeshaushalt - integrationsfeindlich. Sie trifft damit vielfach gerade diejenigen, die vor islamistischem Terror, vor Unfreiheit und Unterdrückung geflohen sind. Sie stärkt damit Islamisten und die extreme Rechte.

Sie ist ein Frontalangriff auf die Menschenwürde, der die freie, offene und demokratische Gesellschaft nachhaltig schwächt. Und sie ist, um mit Migrationsforscher Gerald Knaus zu sprechen, Dynamit am Fundament der Stabilität Europas. Sie muss endlich aufhören.

(Zustimmung bei der Linken - Zuruf von Ulrich Thomas, CDU)

Meine Damen und Herren! Wir haben keinen Notstand der Migration,

(Zurufe von der CDU: Doch! - Unruhe)

wir haben einen Notstand der Menschlichkeit. - Vielen Dank.