Rüdiger Erben (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Dieses Buch spielte an diesem Pult schon einmal eine Rolle. Herr Ministerpräsident hat es erwähnt und uns zur Lektüre angeboten, als wir hier eine Aktuelle Debatte zum Thema Ermächtigungsgesetz im letzten Jahr hatten. Ich habe mich der Mühe unterzogen und das Werk mit fast 400 Seiten gelesen. Ich habe mich heute erkundigt, wen es interessiert: Es ist auch in der Landtagsverwaltung vorhanden. 

Sie werden feststellen, dass im Herbst 1929 - das ist der historische Bezug - der sozialdemokratische Innenminister Carl Severing dem Reichstag eine Denkschrift über die damalige innenpolitische Lage in Deutschland vorlegte. Das Bild, das diese Schrift zeichnete, war so klar wie verheerend. Die Republik stand unter dem Dauerfeuer von Demokratiefeinden aus der linken und insbesondere aus der rechten Ecke. Demokratische Politiker wurden in den einschlägigen Zeitungen und auf Veranstaltungen als - ich zitiere - Novemberverbrecher, Verräter am deutschen Volk, Schacherer und Schieber tituliert. Ganz offen wurde in Reden gefordert, Minister entweder in das Gefängnis zu sperren oder gleich aufzuhängen. Der Herausgeber der nationalsozialistischen Zeitung „Der Stürmer“ Julius Streicher führte auf einer Versammlung in München völlig unbehelligt aus - Zitat  : 

Wer in der Republik den Nachweis erbringt, dass er ein Gauner ist, der kann Minister werden. Vielleicht später, wenn einmal der Präsidentenstuhl frei ist, auch Reichspräsident. Erzberger und Rathenau sind nicht ermordet, sondern getötet worden. Die Täter sind keine Mörder, sondern ganze Kerle. - Zitatende. 

Die Denkschrift des Reichsinnenministers stellte treffend fest, dass die nächste Steigerung dieser Hetze blanke Gewalt war. Nicht nur, dass sich damals Kommunisten und Nationalsozialisten gegenseitig wüste Straßenschlachten lieferten, sondern auch insbesondere diejenigen, die sich in dieser Zeit für die Republik einsetzten, mussten mit dem Schlimmsten rechnen. Sozialdemokraten und Gewerkschafter wurden ebenso verprügelt, erschossen und erstochen wie konservative Zentrumspolitiker und Liberale. Die Republikschutzorganisation Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold hatte monatlich Tote und Verletzte zu beklagen. Wer sich als Frau oder als Jude demokratisch engagierte, der musste den Furor der Nationalsozialisten besonders fürchten. Und: Die Polizei wurde damals dieser Situation nicht mehr Herr. 

Meine Damen und Herren! Unser Land ist nicht in der gleichen Krisenlage wie die Weimarer Republik im Jahr 1929. Aber es fällt an manchen Tagen schwer zu denken: Wir sind nahe dran. 

(Holger Hövelmann, SPD: Ja!)

Letzte Woche hat unser Hallescher Bundestagsabgeordneter Karamba Diaby einen an ihn gerichteten Hassbrief veröffentlicht. Die widerwärtige Sprache darin ist zwar sicher nicht plenartauglich, aber zumindest auszugsweise möchte ich daraus vortragen, weil wir alle wissen sollten, um was es geht - ich zitiere  : Du entkommst der Remigration und wirst stattdessen eingesackt und zur jährlichen Jagd in Schnellroda gemästet. 

Und weiter heißt es: Deine Mitarbeiter und die anderen Verräter haben die Chance, die Schande der Mitarbeit loszuwerden, wenn sie kündigen und mir 5 000 € überweisen, sonst wird es Tote geben. - Zitatende. 

Und nochmals zitiert aus dem Schreiben: Sie enden erhängt an der Laterne. 

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin mir sehr sicher, dass dieses Schreiben kein Einzelfall ist - weder für den Kollegen Diaby noch für andere demokratische Politiker. Das Niveau der politischen Auseinandersetzung hat mittlerweile einen Tiefpunkt erreicht - sowohl online als auch auf der Straße. Gewaltfantasien gegen Demokraten werden mittlerweile unter Klarnamen geäußert. So sicher sind sich mittlerweile die Hetzer in diesem Land. Genauso wie im Jahr 1929 müssen wir festhalten: Die Steigerung der Hetze ist blanke Gewalt. 

Wir haben das im Europa- und Kommunalwahlkampf mehrfach erleben müssen. Besonders schwer traf es am 3. Mai unseren sächsischen Europaabgeordneten Matthias Ecke. Aber auch davor und danach wurden Kandidaten, bspw. von den GRÜNEN, von der CDU, ja, und auch von der AfD angegriffen, bespuckt und beleidigt. 

(Zuruf von Gordon Köhler, AfD)

Dass dann auch noch Plakate zerstört und Wahlkreisbüros beschädigt werden, geht bei der Diskussion schon fast unter. 

Die Bundesrepublik - der Antrag der CDU-Fraktion weist darauf hin - hat schon einmal das schlimmstmögliche Ergebnis einer solchen aufgeheizten Stimmungslage erleben müssen. Es war der Mord an Walter Lübcke. Dieser Mord sollte nicht zuletzt ein Zeichen für alle Demokraten sein: Ihr seid nicht sicher. Eine solche Tat darf sich deshalb niemals wiederholen. 

(Beifall bei der SPD, bei der Linken und bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der CDU und von Andreas Silbersack, FDP)

Aber, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, dann müssen wir auch ehrlich sein und Ross und Reiter benennen, die das maßgeblich verursacht haben. Dass in dem Schreiben an den Kollegen Diaby gleich zu Beginn Remigration und Schnellroda erwähnt werden, ist - so bin ich überzeugt - kein Zufall. 

(Zuruf von Gordon Köhler, AfD)

Ich kann Ihnen auch gern noch ein paar Sätze vorlesen, die in diesem Saal in den letzten Jahren gefallen sind - ich zitiere  : „Genauso wie Ratten, die in die Ecke getrieben werden, beißen Sie um sich.“ - Der Angesprochene wird es wissen: Herr Lizureck. 

„Eines Tages kommt der Tag, da stehen die Pendler und Autofahrer hier auf dem Domplatz mit Fackeln und Mistgabeln und ich führe die dann zu den Büros, die die richtigen Büros sind, zu denjenigen, die sich heute hier hingestellt haben, und dann können Sie den Leuten das erklären.“

 - Herr Büttner, Staßfurt.

„Lasst uns zusammen den Altparteien im heißen Herbst politisch einheizen! Holt euch mit uns zusammen euer Land zurück“ 

- Herr Dr. Moldenhauer.

(Zuruf von der AfD: Sagen wir alle!)

Es ist der gleiche Duktus und ich behaupte auch die gleiche Geisteshaltung, wie sie aus dem Jahr 1929 eben beschrieben worden ist. 

(Beifall bei der SPD, bei der Linken und bei den GRÜNEN)

Es erübrigt sich zu erwähnen, dass alle diese Zitate von der AfD-Fraktion stammen. 

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich bin überzeugt davon, dass wir alle unseren Anteil leisten und den Tonfall überdenken können. Dazu gehört es auch, dass man demokratische Parteien nicht als Klimaschisten oder linksgrüne Ökofaschisten bezeichnet. 

(Oliver Kirchner, AfD: Aber Nazis darf man sagen! Ihr seid die Richtigen!)

Dazu gehört auch, dass man überlegen muss, wohin man sich stellt.

(Oliver Kirchner, AfD: So hat es 33 angefangen! Mit solchen Leuten!)

Wenn Angehörige demokratischer Parteien sich vor Ampelgalgen in allen Varianten stellen und reden, dann gehört das auch zu diesem politischen Diskurs - so viel Ehrlichkeit gehört in dieser Debatte dazu. 

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist im politischen Geschäft, im Wechselspiel zwischen Opposition und Regierung nicht immer einfach, sachlich zu bleiben. Manchmal braucht es eben auch Zuspitzungen. Aber am Ende des Tages sollte zumindest unter den Demokraten klar sein: 

(Oliver Kirchner, AfD: Bei uns ist das klar!)

Wir stehen auf einem gemeinsamen Fundament. Deswegen müssen wir trotz aller Differenzen zusammenstehen, wenn dieses Fundament attackiert wird;

(Zustimmung)

denn Matthias Ecke - das sind wir alle; Walter Lübcke - das sind wir alle. 

(Daniel Roi, AfD: Sven Ebert auch!)

Die Demokratie ist nur dann wehrhaft, wenn die Demokraten im Schulterschluss in solchen Fragen auch zusammenstehen. Lassen Sie uns das nicht vergessen, dann werden sich weder 1929 noch 1933 wiederholen. - Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der SPD, bei der Linken, bei den GRÜNEN und Zustimmung von Chris Schulenburg, CDU)


Vizepräsident Wulf Gallert: 

Herr Erben, Herr Tillschneider hat eine Frage. Wollen Sie diese beantworten? 


Rüdiger Erben (SPD):

Ja. 


Vizepräsident Wulf Gallert: 

Herr Tillschneider, dann können Sie Ihre Frage stellen. 


Dr. Hans-Thomas Tillschneider (AfD):

Herr Erben, dieses Schreiben, aus dem Sie zitiert haben, ist dermaßen stilbrüchig und wirkt konstruiert. Die Erwähnung gerade von Schnellroda am Anfang ist dermaßen zwanghaft, dass sich mir der Verdacht aufdrängt, 

(Dr. Katja Pähle, SPD: Linksextremist!)

dass das Schreiben sozusagen - wie soll ich es sagen? - nicht von demjenigen kommt, von dem Sie suggeriert haben, dass es kommt. Deshalb wollte ich Sie fragen: Können Sie ausschließen, dass z. B. linke Kreise dieses Schreiben formuliert haben, um Ihnen etwas Gutes zu tun? Kennen Sie den Urheber? Oder haben Sie einfach nur irgendwie einen Brief bekommen, aus dem Sie zitieren? 


Vizepräsident Wulf Gallert: 

Sie können antworten. 


Rüdiger Erben (SPD):

Also, darauf muss man erst einmal kommen. Der Kollege Hövelmann und ich hatten einmal einen Referenten, der Kriminalist war und der immer gesagt hat - alte Kriminalisten-Weisheit  : Es gibt nichts, was es nicht gibt. Deswegen ist natürlich theoretisch auch denkbar, dass eine solche Aktion unter falscher Flagge passiert. 

(Zuruf von der FDP)

Natürlich ist das denkbar, aber ich habe eben auch beschrieben, dass das nur ein Beispiel von vielen ist. 

(Zurufe von Gordon Köhler, AfD, und von Dr. Hans-Thomas Tillschneider, AfD)

Sie wollen mir jetzt doch nicht ernsthaft erzählen, dass die vielen Drohschreiben, die es gibt, alle von Linken unter falscher Flagge geschrieben worden sind. Das kann man nie ausschließen, ich halte es jedoch nicht für sehr wahrscheinlich.