Wir kommen als Erstes zu dem
Tagesordnungspunkt 3
Erste Beratung
a) Entwurf eines Siebzehnten Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt
Gesetzentwurf Fraktion Die Linke - Drs. 8/3981
b) Entwurf eines Siebzehnten Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt
Gesetzentwurf Fraktionen CDU, SPD und FDP - Drs. 8/4039
Die Einbringung zu dem Tagesordnungspunkt 3 a macht der Kollege Lippmann von der Fraktion Die Linke. Er hat jetzt das Wort. - Bitte.
Thomas Lippmann (Die Linke):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Rahmen einer von uns durchgeführten Onlineumfrage zum Schulsystem schrieb uns eine ehemalige Lehrerin - ich zitiere :
Unsere Schulen stehen kurz vor dem Kollaps. Viele Jahrgänge verlassen mit ungenügendem Wissen die Schule. Es macht den Eindruck, als würde das Politik nicht interessieren.
(Beifall bei der Linken)
Eine Grundschullehrerin übermittelte uns folgende Einblicke - ich zitiere :
Die Kinder kommen mit immer größeren Problemen zur Schule, egal welcher Herkunft. Wenn es so weitergeht wie bisher, sehe ich mich gezwungen zu kündigen. In Sachsen-Anhalt arbeiten weitaus mehr Kolleginnen und Kollegen am Rande der Belastung als in den bisherigen Bundesländern, in denen ich unterrichtet habe.
(Beifall bei der Linken - Ministerin Eva Feußner: Das ist doch falsch! - Eva von Angern, Die Linke: Das ist ein Zitat! Ein Zitat kann nicht falsch sein!)
Ein weiterer Lehrer ergänzt - ich zitiere :
Ich kenne mittlerweile junge Lehrer, die aufgrund der extremen Arbeitsbelastung wieder gekündigt und sich umorientiert haben.
(Ministerin Eva Feußner: Das soll es in anderen Berufen auch geben!)
Das waren nur drei Zitate aus mehreren Hundert Beiträgen, die uns im Rahmen dieser Onlineumfrage erreicht haben. Wir haben die Umfrage im Vorfeld der Einbringung dieser großen Schulgesetznovelle durchgeführt. Die Ergebnisse decken sich mit denen der kurz zuvor von „MDRfragt“ zur Baustelle Bildung durchgeführten Befragung. Auch dort wurde insbesondere unserem Land eine hohe Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit der Schulpolitik attestiert. Nach der MDR-Befragung glaubt nicht einmal ein Drittel der Menschen in Sachsen-Anhalt, dass unser Schulsystem allen Kindern unabhängig von der sozialen Herkunft gleiche Bildungschancen bietet.
Unter den mehr als 22 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern findet kaum noch jemand die Trennung der Kinder nach der 4. Klasse gut und sinnvoll. Fast alle finden, dass für Schule und für Bildung zu wenig getan wird und dass die Schule kaum Relevantes für die berufliche Zukunft vermittelt.
(Beifall bei der Linken)
Es reicht also nicht, die Bedeutung von Bildung in Sonntagsräten immer wieder zu beschwören, wenn man anschließend die Antworten auf die Herausforderungen schuldig bleibt. Wir stehen mit unserem Schulsystem an einem Scheideweg. Wir können nicht so weitermachen wie bisher.
(Beifall bei der Linken)
Das heißt, die Koalition und vor allem die CDU können so nicht weitermachen wie bisher.
(Beifall bei der Linken - Zuruf von Ulrich Thomas, CDU)
Es wäre also höchste Zeit für einen Schulgipfel, der seinen Namen verdient, und für eine fraktionsübergreifende Verständigung hier im Parlament auf notwendige Reformen.
(Zuruf von Ulrich Thomas, CDU)
Mit der großen Schulgesetznovelle legen wir heute unsere Vorschläge dafür auf den Tisch. Ich appelliere dabei an die CDU und an die Bildungsministerin, unser Angebot nicht so arrogant abzulehnen, wie es die ersten reflexartigen Pressereaktionen erwarten lassen.
(Beifall bei der Linken)
Die Bildungsministerin hat angesichts der anhaltenden Talfahrt in unserem Schulsystem allen Grund dazu, nicht alles, was von ihr und von den Schulbehörden als Reaktion auf die Krise veranstaltet wird, für eine angemessene Lösung der Probleme zu halten. Ganz im Gegenteil: Die Maßnahmen sind offenbar unzureichend oder können die Probleme sogar verschärfen, wie das z. B. bei der Vorgriffsstunde oder auch bei der neuen ergänzten Schullaufbahnberatung der Fall sein wird.
Wir rufen deshalb mit unserer Novelle vor allem neue Themen und Strategien auf, die ich im Folgenden kurz erläutern will. Uns allen ist bewusst, dass das Schulsystem am Unmittelbarsten durch die Landespolitik gestaltet werden kann und so auch immer wieder umgestaltet wird. Dabei werden wichtige Entscheidungen für unser Schulsystem gar nicht im Parlament getroffen, sondern allein im zuständigen Ministerium. Für einige der wichtigsten Kenngrößen im Schulgesetz wurden zu weitreichende Verordnungsermächtigungen erteilt oder sie sind, wie im Fall der Mindestpersonalausstattung, gar nicht geregelt. Das Ministerium kann dadurch die Verhältnisse in den Schulen nach seinem Gutdünken bestimmen. In der Regel werden wir Abgeordnete über entsprechende Veränderungen nicht einmal informiert. Wir erfahren es aus den Medien oder aus Briefen sowie aus E-Mails.
Wenn die Ministeriumsentscheidungen dann vor Ort zu Protesten führen, laufen wir den Ereignissen jedes Mal hinterher. Trotzdem machen uns die Betroffenen oft für solche Fehlentscheidungen mitverantwortlich. Sie erwarten von uns Abgeordneten, dass wir uns für Korrekturen einsetzen, die wir aber gar nicht in der Hand haben. Wir wollen das mit der Novelle grundsätzlich verändern.
(Beifall bei der Linken)
Wir wollen wichtige Grundlagen für die Gestaltung unseres Schulsystems in die parlamentarische Verantwortung zurückholen und im Schulgesetz unmittelbar regeln. Das betrifft zuerst und vor allem den Anspruch der Schulen auf eine Mindestpersonalausstattung mit Lehrkräften und mit weiterem sozialpädagogischen Fachpersonal. Es kann nicht dabei bleiben, dass wir den Schulen immer mehr Aufgaben übertragen und dass wir hohe Erwartungen an ihre Arbeit formulieren, ihnen dann aber eine verlässliche Grundlage verweigern, mit welchem Personal sie das eigentlich schaffen sollen.
(Beifall bei der Linken)
So wie im Kinderfördergesetz für die Kindertageseinrichtungen bereits lange geübt, wollen wir endlich auch im Schulgesetz Mindestpersonalschlüssel festschreiben. Diese orientieren sich hinsichtlich der Lehrkräfte an der Personalausstattung, wie wir sie vor zehn Jahren im Schuljahr 2013/2014 schon einmal hatten. Hinsichtlich der Schaffung multiprofessioneller Teams orientieren wir uns an den hierzu von uns im Landtag selbst beschlossenen Konzepten und an dem gewachsenen Bedarf. Diese Forderungen wurden bereits im Jahr 2020 in einem Volksbegehren von mehr als 70 000 Bürgerinnen und Bürgern unterstützt und hatten auch in unserer Umfrage mit 80 % Zustimmung den dritthöchsten Zustimmungswert.
(Beifall bei der Linken)
Außerdem wollen wir die grundlegen Vorgaben für die Bestandsfähigkeit und für die Neugründung von Schulen hier im Parlament diskutieren und in gemeinsamer Verantwortung im Schulgesetz regeln. Das ohnehin schon viel zu angespannte Schulnetz darf nicht weiter ausgedünnt werden. Wir brauchen auch keine Schulkombinate mit Tausend und mehr Schülerinnen und Schülern.
(Beifall bei der Linken)
Wir müssen das wieder in Gang gesetzte Schulsterben und die unnötigen Großfusionen gemeinsam beenden.
(Beifall bei der Linken)
Der von der Landesregierung verschuldete Lehrkräftemangel ist eine temporäre Erscheinung, auch wenn er uns mindestens noch die nächsten 20 Jahre lang begleiten wird. Er kann aber kein Grund dafür sein, die Lücken im Schulnetz noch weiter zu vergrößern, nur um durch noch immer mehr Konzentration, den Lehrkräftebedarf künstlich abzusenken. Der Lehrkräftemangel ist am Ende heilbar, ein einmal zusammengestrichenes Schulnetz aber nicht.
Unsere Novelle orientiert sich bei den Schulgrößen ebenfalls an Vorgaben, wie sie im Schuljahr 2013/2014 noch bestanden haben, und an den Erfordernissen für ein stabiles Schulnetz. Letztlich muss verhindert werden, dass vonseiten des Bildungsministeriums weiterhin willkürlich in die Zuweisung der Schülerinnen und Schüler in die verschiedenen Schullaufbahnen eingegriffen wird und dass die Zugänge zu den höheren Bildungsgängen massiv beschnitten werden. Einen solchen Versuch hat Bildungsminister a. D. Tullner kurz vor dem Ende seiner Amtszeit unternommen, als er in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Zuweisungen in die Hauptschulbildungsgänge zulasten der Realschulbildungsgänge ab der siebenten Klasse radikal verschieben wollte.
(Ministerin Eva Feußner: Falsch!)
Auch Bildungsministerin Feußner versucht gerade, die Wahl der weiterführenden Schulen ab der 5. Klasse zu beeinflussen.
(Thomas Krüger, CDU, lacht)
Leider ist auf absehbare Zeit kein politischer Konsens darüber zu erreichen, mit diesem ganzen Selektionsunsinn aufzuhören und der Mehrheitsmeinung nach längerem gemeinsamen Lernen zu folgen. Wenn aber Eltern und ihre Kinder diesen frühen Selektionsdruck schon weiter ertragen müssen, dann dürfen diese Schnittstellen im gegliederten Schulsystem nicht noch länger der Beliebigkeit ideologischer Experimente unterworfen bleiben.
(Beifall bei der Linken)
Hier wird sehr zeitig über Lebensbiografien entschieden. Daran sollte sich keiner versündigen, indem er mit Macht Türen verschließt.
(Jörg Bernstein, FDP: Das macht doch niemand!)
Auch wenn sich also in absehbarer Zeit keine ernsthafte Perspektive bietet, um die frühe Selektion nach der vierten Klasse zu überwinden, können wir dennoch nicht beim derzeitig gegliederten Schulsystem stehen bleiben.
Mehr als 30 Jahre nach der Einführung der Sekundarschule zeigen sich unüberwindbare Probleme sowohl in der Akzeptanz bei den Eltern als auch in der Gewinnung des Lehrkräftenachwuchses für diese Schulform. Der Sekundarschule mangelt es systembedingt an Attraktivität, weil sie vor allem darüber definiert wird, dass ihre Schülerinnen und Schüler als nicht gut genug für das Gymnasium gelten.
(Guido Kosmehl, FDP: Weil Sie es immer schlechtreden!)
Wir wollen diese Zweigliedrigkeit mit der Zuweisung in höhere und niedere Schulformen und Bildungsgänge in ein zweisäuliges Schulsystem überführen. Nach der Grundschule sollen als landesweites Bildungsangebot zwei Schulformen etabliert werden, die auf Augenhöhe nebeneinanderstehen.
Dafür wollen wir die Gemeinschaftsschule so entwickeln, dass sie aufbauend auf einem qualitativ hochwertigen berufspraktischen Unterricht ab dem 7. Schuljahrgang in einer neuen, zweijährigen Fachoberstufe regelhaft die Fachhochschulreife als weiteren Schulabschluss vergeben kann.
Entsprechend soll auch die Lehramtsausbildung grundlegend reformiert werden. Statt der bisherigen vier auf einzelne Schulformen bezogenen Lehramtslaufbahnen für die allgemeinbildenden Schulen soll nur noch in zwei Laufbahnen ausgebildet werden. Diese sollen sich auf das Alter der Kinder und Jugendlichen beziehen, also auf die Primarstufe bis zur Klasse 4 und auf die Sekundarstufe für die Klassenstufen 5 bis 12. Die auch in Zukunft geforderten förderpädagogischen Kompetenzen sollen die angehenden Lehrkräfte in diesen beiden Studiengängen in ausreichendem Umfang erwerben.
Zum Schluss will ich den Teil der Novelle ansprechen, der uns am wichtigsten ist, weil er quasi über allen anderen Themen steht: Es geht uns um eine durchgreifende Stärkung der Einzelschulen. Wir wollen deutlich mehr Entscheidungen direkt in die Schulen geben
(Zustimmung bei der Linken)
und dabei die schulischen Gremien stärken. Die Schulen sollen mehr Möglichkeiten erhalten, in gemeinsamer Arbeit mit Pädagogen, Eltern und Schülerschaft ein identitätsstiftendes Schulprofil zu entwickeln und für ein gutes Schulklima zu sorgen. So sollen die vielfältigen Potenziale der Akteure vor Ort besser genutzt und die Demokratiebildung gestärkt werden.
(Zustimmung bei der Linken)
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir fordern die Bildungsministerin und die Koalitionsfraktionen auf, unser Konzept zur Modernisierung des Schulsystems im Fachausschuss zu beraten und dabei auch die Fachexpertise von Verbänden und Organisationen entsprechend einzubeziehen. - Vielen Dank.
(Beifall bei der Linken)
Vizepräsident Wulf Gallert:
Es gibt eine Intervention von Herrn Stehli. - Herr Stehli, Sie haben das Wort. - Bitte sehr.
Stephen Gerhard Stehli (CDU):
Danke schön. - Verehrter Kollege Lippmann, ich war im Jahr 2020 ja nur ein bescheidener, kleiner Beamter. Aber soweit ich mich erinnere, ist das Volksbegehren hier damals ziemlich deutlich gescheitert, weil meines Erachtens die Menschen durchschaut haben, dass einfach das Hineinschreiben von Zahlen, von Vorgaben zum Personal nichts hilft, wenn man das Personal nicht hat. Habe ich das verpasst in Ihrer Rede oder hat sich das bei mir pawlowsch aufgebaut?
(Zustimmung von Anne-Marie Keding, CDU, und bei der FDP - Thomas Lippmann, Die Linke, lacht)
Vizepräsident Wulf Gallert:
Sie können antworten, Herr Lippmann.
Thomas Lippmann (Die Linke):
Lieber Kollege Stehli, ich glaube, dass Sie sich in dieser Einschätzung sehr gründlich irren. Erstens sind 70 000 gültige Unterschriften kein Pappenstiel.
(Anne-Marie Keding, CDU: Na ja!)
Zweitens ist das Volksbegehren deswegen gescheitert, weil bisher alle Volksbegehren gescheitert sind, weil wir einfach ein viel zu beteiligungsunfreundliches Volksabstimmungsgesetz haben.
(Zurufe von der CDU und von der FDP - Unruhe)
- Natürlich!
(Zurufe - Unruhe)
- Diese Reaktion, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ganz bezeichnend, weil wir längst alle gemeinsam an einer Reform des Volksabstimmungsgesetzes hätten arbeiten sollen.
(Guido Kosmehl, FDP: Ist doch angepasst worden! - Weitere Zurufe von der CDU und von der FDP)
Daran, dass die Pandemie dazwischengekommen ist, können Sie sich sicherlich erinnern. Ich glaube, dass Sie sich in Ihrer Einschätzung gründlich irren. Jedenfalls war das überhaupt nicht unser Eindruck an den Ständen vor Ort bei denen, die die Unterschriften gesammelt haben.
(Beifall bei der Linken)
Vizepräsident Wulf Gallert:
Sie haben eine kurze Nachfrage, Herr Stehli?
Stephen Gerhard Stehli (CDU):
Nur noch einen kurzen Satz dazu: Ich vermute eher, lieber Kollege Lippmann, dass das Volksbegehren gescheitert ist, weil das Volk hier kein Begehren hatte.
(Lachen und Zustimmung bei der CDU und bei der FDP - Zuruf von der Linken)
Thomas Lippmann (Die Linke):
Lieber Kollege Stehli, Sie wissen, dass ich Sie auch in Ihrer Funktion als Vorsitzender unseres Ausschusses schätze. Ich bin jetzt etwas enttäuscht, weil ich auch die nicht so alte „MDRfragt“-Umfrage zitiert habe, in der das alles bestätigt wird. Die Menschen haben sehr wohl ein Begehren. Die Frage ist, wie wir es als Politik aufgreifen.