Tagesordnungspunkt 3

a)    Aktuelle Debatte

Schuldenbremse reformieren, Zukunftsinvestitionen und sozialen Ausgleich ermöglichen

Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/3886

b)    Beratung

Schuldenbremse reformieren

Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/3880


Es ist eine Aktuelle Debatte auf Antrag der Fraktion DIE LINKE, verbunden mit einem Antrag der Fraktion DIE LINKE, und zwar mit dem schönen Titel „Schuldenbremse reformieren, Zukunftsinvestitionen und sozialen Ausgleich ermöglichen“. Der Antrag hat dann nur noch die Schuldenbremse im Titel. Es ist eine Aktuelle Debatte mit einer Redezeit von zehn Minuten. Die Reihenfolge der Redner liegt Ihnen vor. Die Fraktion DIE LINKE fängt an. Herr Gallert steht bereits am Pult. - Herr Gallert, Sie haben das Wort.


Wulf Gallert (DIE LINKE):

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin; vor allen Dingen herzlichen Dank für das Lob zum Titel der Aktuellen Debatte. - Ich finde, das ist wirklich ein politisches Programm. Aber kommen wir erst einmal dazu, einzugrenzen, warum wir heute dieses Thema, das uns im Grunde genommen bereits seit mehreren Jahren berührt, als Aktuelle Debatte aufrufen. 

Das gibt Ihnen vielleicht die Möglichkeit, einmal in die heutigen Meldungen des „Spiegels“ hinein zu schauen, die vor etwa einer Stunde aufgeploppt sind. Darin kommt nämlich z. B. das Wirtschaftsforschungsinstitut der Hans-Böckler-Stiftung dazu, folgende Überschrift zu verbreiten: Rezessionen in Deutschland droht 2024, Grund die Schuldenbremse. 

Es geht uns heute bei dieser Aktuellen Debatte dezidiert nicht nur um eine finanzpolitische Diskussion, sondern vor allen Dingen um eine Debatte darüber, warum wir als Bundesrepublik Deutschland zurzeit einen so miserablen Auftritt haben, was die wirtschaftliche Entwicklung anbelangt.

(Zuruf von Stefan Ruland, CDU)

Ich möchte an der Stelle allerdings nicht in die typische Apokalypsenerzählung der AfD verfallen. Wenn es nach ihnen ginge, wäre längst das Licht aus; wir würden alle wieder auf den Bäumen sitzen und der Laden wäre dicht. 

(Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Bei den Gaspreisen! Das sind die GRÜNEN! - Zuruf von der AfD: Das sind die GRÜNEN!)

Das ist nicht die Situation. Aber ich sage ganz klar: Natürlich befindet sich die Bundesrepublik Deutschland, was die wirtschaftliche Entwicklung anbelangt, in einer ausgesprochen komplizierten und schwierigen Situation. 

Wenn man sich die Debatten dazu anschaut, dann kann man im Grunde genommen fünf Themen feststellen, die uns in diese komplizierte Situation heute, im Jahr 2024, hineingeführt haben. 

(Zuruf von Stefan Ruland, CDU)

Es ist erstens die extreme Abhängigkeit vom Import fossiler Energieträger. Es ist erst einmal vollkommen unabhängig davon, ob man meint, CO2 hätte mit dem Klimawandel nichts zu tun, die Menschen hätten mit dem Klimawandel nichts zu tun, es gäbe gar kein Klima oder wie auch immer. 

Fakt ist, dass diese extreme Abhängigkeit von fossilen Energieträgern als Basis unserer industriellen Entwicklung eine Situation geschaffen hat, die uns heute in extreme Schwierigkeiten führt; die das Resultat von 20 Jahren fehlgeleiteter Industriepolitik in der Bundesrepublik Deutschland war. 

(Oliver Kirchner, AfD: Nein! Falsch!)

Dazu kommt die extreme Abhängigkeit der Entwicklung in der industriellen Produktion vom Exportüberschuss. Deutschland als das Exportüberschussland im globalen Maßstab, inzwischen von China abgelöst, hat natürlich immer ein Problem. Immer dann, wenn es weltwirtschaftlich ein Problem gibt, wenn irgendwo auf dieser Welt jemand niest, bekommt die bundesrepublikanische Exportwirtschaft eine Grippe. Die Schwierigkeit, die wir haben, ist eine zu stark unterentwickelte Binnennachfrage - das ist auch eine Erkenntnis, die seit mehr 20 Jahren besteht. 

(Zustimmung bei der LINKEN - Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Da gebe ich Ihnen recht!)

Wir kommen als nächstes zu einem riesigen Investitionsstau in den Bereichen Infrastruktur, Bildung und Forschung. Darüber muss man, glaube ich, nicht mehr lange diskutieren. Wenn in einem Land, wie z. B. in Sachsen-Anhalt, nur in etwa halb so viele Schüler in die Schule gehen, wie es nach einer normalen demografischen Entwicklung eigentlich zu erwarten gewesen wäre, und wir können diese wenigen Schüler nicht mit Lehrern versorgen, dann ist es ein Desaster. Als wirtschaftliche Voraussetzung für die Zukunft ist das für uns ein Problem. 

(Beifall bei der LINKEN)

Wer über Investitionsstaus redet, sollte bloß einmal kurz sein Auto verlassen und versuchen, mit der Deutschen Bahn über zwei Umsteigestationen irgendwohin zu kommen. Dann weiß er, wovon wir reden, liebe Kolleginnen und Kollegen. 

(Zustimmung bei der LINKEN)

Wir haben darüber hinaus die Transformation in der Industrie und bei der Digitalisierung verschlafen. Über die Digitalisierung kann man sich gerne einmal mit Vertretern z. B. aus den baltischen Ländern unterhalten. Dann weiß man, was ich mit „verschlafen“ meine. Man kann sich gerne einmal das große Flaggschiff der deutschen Automobilindustrie anschauen, um zu erkennen, wo wir inzwischen stehen; wir stehen nämlich - während sämtliche andere globalen Leitmärkte uns bei der Elektromobilität und bei den alternativen Antriebsformen längst überholt haben - hinten an. 

(Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Das ist doch rückläufig! Das will doch kein Mensch mehr!)

Als fünftes Thema haben wir die absolute Konzeptionslosigkeit im Umgang mit dem demografischen Wandel; das hat ganz verschiedene Facetten. Wir haben zum einen das absehbar vollkommene Desaster bei der Kindergrundsicherung und dem daraus resultierenden großen Armutsrisiko im Bereich der Kinder. Wir haben eine vollkommen desaströse Einwanderungspolitik. 

(Ulrich Siegmund, AfD: Ja!)

Wir versuchen, Menschen, die z. B. aus den Westbalkanstaaten gekommen und bei uns aufgewachsen sind, auf der Grundlage gesetzlicher Vorgaben wieder abzuschieben, was wir auch tun, um dann mit Headhuntern in diese Länder zu fahren, um Pflegekräfte zu suchen und anzuwerben. Welch ein Wahnsinn, liebe Kolleginnen und Kollegen. 

(Zustimmung bei der LINKEN - Ulrich Siegmund, AfD: Das stimmt!)

Einer der zentralen Gründe, warum wir in diesen Bereichen, vor allen Dingen bei der Transformation und bei Investitionen in die Infrastruktur, Schwierigkeiten haben, sind fehlende öffentliche Mittel aufgrund erstens einer falschen Steuerpolitik. 

Es gibt vernünftige Leute, die haben es analysiert: Wenn wir lediglich die Kapitalbesteuerung und die Besitzbesteuerung so gestalten würden, wie es in den USA der Fall ist, würde der öffentliche Haushalt der Bundesrepublik Deutschland 100 Milliarden € mehr zur Verfügung haben. Das „sozialistische Vorzeigeland“ USA hat eine deutlich höhere Kapital- und Besitzbesteuerung als die Bundesrepublik Deutschland. Wir sind das Steuerfluchtland für Reiche. Das ist eine Ursache unserer Probleme. 

(Zustimmung bei der LINKEN - Zuruf von Jan Scharfenort, AfD

Gleichzeitig haben wir eine Schuldenbremse. Diese Schuldenbremse verhindert, dass wir vernünftige Infrastrukturmaßnahmen, vernünftige Transformationsmaßnahmen durchführen können, und die verhindert, dass wir mit unserer wirtschaftlichen Entwicklung endlich wieder aus dem Knick kommen. 

(Zustimmung bei der LINKEN)

Dazu sage ich bloß: Dieser alte Glaube, diese Theorie, dass die schwäbische Hausfrau den wirtschaftlichen und den volkswirtschaftlichen Verstand ersetzt, hat zu desaströsen Ergebnissen geführt. Unter den G 7-Staaten ist die Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig mit Abstand diejenige, die den geringsten Schuldenstand aufweist. Wir sind mit Abstand diejenigen mit der miserabelsten wirtschaftlichen Entwicklung. Erkennen Sie endlich diesen Zusammenhang. Die Schuldenbremse muss weg, damit es wirtschaftliche Entwicklung in diesem Land geben kann. 

Das ist ja nichts Abstraktes. Wir haben vor kurzem die Situation gehabt, dass drei Ampelparteien in der Bundesregierung - die alle die Schuldenbremse eingesetzt haben oder dafür waren - versucht haben, sie mit einem, zugegebenermaßen, eleganten Trick zu umgehen; im Übrigen mindestens so elegant wie das Corona-Sondervermögen des Landes Sachsen-Anhalt. 

Dann haben wir einen vierten Partner gehabt - der nicht Teil der Regierung ist  , der auch die Schuldenbremse eingeführt und jetzt dagegen geklagt hat. Er hat es geschafft, dass die Schuldenbremse durchgesetzt wird. 

Ich zähle einmal nur die Konsequenzen für Sachsen-Anhalt auf, die dieser Erfolg der CDU und der CSU hatte. Zeitweise stand Intel auf der Kippe, weil nicht klar war, ob die 10 Milliarden € Investitionsbeihilfen - über die man reden kann  , überhaupt noch zur Verfügung stehen. Wir standen bei der Entwicklung synthetischer Kraftstoffe im Forschungszentrum in Leuna kurzzeitig vor dem Aus. Die Erhöhung der Netzentgelte um 3 ct pro Kilowattstunde ist eine Konsequenz dieses Urteils. Wir haben Investitionen in die Wasserstoffstrategie gestrichen, im Übrigen bereits im Haushaltsplanentwurf. 

(Zurufe von Stefan Ruland, CDU, und von Tim Teßmann, CDU)

Die Fotovoltaikindustrie geht bei uns den Bach runter; Meyer Burger lässt grüßen. Das ist die wirtschaftliche Konsequenz aus der Einhaltung der Schuldenbremse. So viele Fehler auf einmal kann man doch gar nicht aushalten. 

(Beifall bei der LINKEN - Zuruf von Matthias Redlich, CDU)

Nun wissen inzwischen eine ganze Reihe von Menschen, die damals die Schuldenbremse genauso eingeführt haben, dass es damit so nicht weitergeht. Wir haben immer gesagt: Die Schuldenbremse war ein Fehler, sie ist ein Fehler und sie wird immer ein Fehler bleiben. Aber meinetwegen konzentrieren wir uns heute auf den Antrag. 

Mit dem Antrag verfolgen wir nichts weiter als die Umsetzung der Vorschläge des Sachverständigenrates für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Das sind alles Menschen, die primär aus dem ökonomischen, volkswirtschaftlichen Mainstream kommen - der ist nun in der Bundesrepublik Deutschland wirklich alles andere als links. Sie sagen: Wir brauchen eine erhebliche Flexibilisierung der Schuldenbremse. Das sagt ja nicht nur der Sachverständigenbeirat. Das sagt ja genauso der Ministerpräsident, der inzwischen beklagt, dass die Schuldenbremse eine Investitionsbremse ist, dass diese Schuldenbremse uns die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland kosten kann.

(Zuruf von Stefan Ruland, CDU)

Deswegen ist es so extrem wichtig, dies zu tun. 

Ich sage klar: Inzwischen wissen viele, dass das, was damals gewesen war, ein Fehler war. Das Problem ist nur: Das wussten im Jahre 2009 auch viele. Ich möchte, insbesondere den Kollegen von der SPD, die sich ja auch in der letzten Zeit geäußert dazu haben, dass man dringend etwas verändern müsste, kurz ein Zitat vorlesen. Es ist ein Zitat aus dem Buche des Propheten Gregor 

(Hendrik Lange, DIE LINKE, lacht)

aus dem Jahre 2009 - ich zitiere  :

„Ich sage Ihnen […]: Ich sehe schon jetzt den tapferen Sozialdemokraten vor mir, der hier in ein paar Jahren stehen und sagen wird, 2009 haben wir einen großen Fehler begangen. - Dieser tapfere Sozialdemokrat wird dann genauso viel Beifall bekommen wie heute der, der diesen Fehler begeht. Das ist das Übel daran. Noch schlimmer ist aber, dann wird Ihnen die Union und damit die Zweidrittelmehrheit fehlen, das Ganze zu korrigieren. Dann leiden Bürgerinnen und Bürger wirklich drunter.“

Leider hatte er, wie fast immer, recht, liebe Kolleginnen der Sozialdemokraten. 

(Beifall bei der LINKEN - Zuruf von Dr. Katja Pähle, SPD)

Wir wissen im Grunde genommen, es handelt sich um einen Fehler. Wir brauchen eine Lockerung. Wir brauchen eine Revision der Schuldenbremse für die wirtschaftliche Entwicklung in diesem Land. Lassen wir den Worten endlich Taten folgen. - Danke, liebe Kolleginnen und Kollegen. 

(Beifall bei der LINKEN)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Herr Gallert, Sie haben zwar etwas überzogen, aber Herrn Scharfenort hat eine Intervention angezeigt, sodass Sie noch weitere Redezeit bekommen. - Herr Scharfenort, bitte. 


Jan Scharfenort (AfD):

Herr Gallert, bei der Analyse stimme ich Ihnen teilweise zu; die Probleme haben Sie richtig beschrieben. Aber auch Sie müssen doch zugeben, denke ich, dass wir genug Geld im System haben. Die Steuereinnahmen sind so hoch wie noch nie. Die Geldmenge ist so weit ausgeweitet worden wie noch nie. Den Linken fällt dann natürlich nichts Besseres ein, als die Schuldenbremse wieder aufzuheben, die Geldmenge einfach weiter zu erhöhen, und das in einem derzeit gefährlichen Umfeld. 

Zwar ist die Inflation derzeit relativ niedrig. Nur, was denken Sie, was die EZB bald machen wird? - Sie wird letztendlich die Zinsen wieder senken müssen, um den Wirtschaftskreislauf in Europa wieder anzukurbeln. Und dann wollen Sie noch zusätzliche Schulden machen. 

Dann haben wir die nächsten Inflationsrunden. Dann werden wir ganz andere Inflationsraten sehen als jene, die wir ohnehin schon hatten. Was denken Sie - weil Sie auch vom sozialen Frieden gesprochen haben  , was dann los sein wird? 

An dieser Stelle halte ich es doch lieber mit unserem guten alten Ludwig Erhard, dem Begründer der sozialen Marktwirtschaft - sie war wirklich ein sehr erfolgreiches Modell, zu dem wir einfach wieder zurückkommen wollen. Ich zitiere einmal, was er einmal gesagt hat:

„Die Inflation kommt nicht über uns als ein Fluch oder als ein tragisches Geschick; sie wird immer durch eine leichtfertige oder sogar verbrecherische Politik hervorgerufen.“ 

Dem möchte ich nichts mehr hinzufügen. 

(Zustimmung bei der AfD)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Herr Gallert, möchten Sie reagieren?


Wulf Gallert (DIE LINKE):

Das ist die Ebene schwäbische Hausfrau und Verschuldung sind gleich Inflation. Die von Ihnen zitierten Aussagen sind mehr als 70 Jahre alt. Sie waren im Übrigen bereits damals nicht wirklich korrekt. Ich gebe Ihnen einmal folgende Beispiele. 

(Zuruf von Matthias Büttner, Staßfurt, AfD)

Ich habe ja nicht umsonst gesagt, dass unter den G 7-Staaten die Bundesrepublik Deutschland mit Abstand das Land mit der niedrigsten Schuldenquote ist. 

Schauen wir uns einmal das Land an, das mit Abstand die höchste Schuldenquote - das ist das Verhältnis von staatlicher Verschuldung und Bruttoinlandsprodukt - auf der Welt hat. Das ist im Übrigen Japan. Im Übrigen fahren zumindest die Koalitionsmitglieder des Wirtschaftsausschusses demnächst nach Japan, um sich dort die erfolgreiche Transformation anzuschauen. 

(Zuruf von Jan Scharfenort, AfD)

Wissen Sie, wie hoch der Schuldenstand in Japan im Verhältnis zum BIP ist? - Er ist viermal so hoch wie der der Bundesrepublik Deutschland; er liegt bei einer Höhe von ca. 250 %. Kennen Sie die Inflationsrate des Yen? - Schauen Sie nach, dann wissen Sie es. Die Bundesrepublik Deutschland hat eine Schuldenquote, die nur halb so hoch ist wie in den Vereinigten Staaten; dort liegt sie bei mehr als 120 %. Schauen Sie sich bitte einmal die Inflation des Dollars an. Schauen Sie sich bitte einmal die Inflationsrate des chinesischen Yuan an, die Schuldenquote liegt bei einer Höhe von etwa 80 % bis 90 % des Bruttoinlandsproduktes. Alle weisen keine Inflationsraten auf, die über dem Euro liegen.


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Vielen Dank, Herr Gallert.


Wulf Gallert (DIE LINKE):

Verabschieden Sie sich doch endlich einmal davon, dass Schulden gleich Inflation sind. Das ist wirklich etwas aus dem letzten Jahrhundert. - Danke.