Rüdiger Erben (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident, vielen Dank. - Am letzten Dienstag berichtete die „Mitteldeutsche Zeitung“ unter der Überschrift „Das Risiko fährt mit“ über den bundesweiten Vergleich der Zahl der Verkehrstoten. Sachsen-Anhalt weist bei der sogenannten Getöteten-Häufigkeitsziffer seit Jahren den höchsten Wert auf. Um den Begriff für diejenigen kurz zu beschreiben, die damit nicht jeden Tag zu tun haben: Die Getöteten-Häufigkeitsziffer drückt die Zahl der Verkehrstoten pro 1 Million Einwohner aus. In Sachsen-Anhalt gab es im letzten Jahr 59 Verkehrstote. Der bundesweite Durchschnitt liegt bei 34. Wir befinden uns, wie gesagt, mit verhältnismäßig großem Abstand auf dem letzten Platz.
Nun wird seit vielen Jahren darüber diskutiert, ob die Getöteten-Häufigkeitsziffer der richtige Maßstab ist, um die Situation zu vergleichen. Denn die Wahrscheinlichkeit, bei den Geschwindigkeiten in Berlin oder Hamburg Verkehrstoter zu werden, ist natürlich geringer, als wenn man sich - ich drücke es etwas flapsig aus - auf einer Allee in Brandenburg oder in Sachsen-Anhalt um einen Baum wickeln und auf diese Weise zu Tode kommen würde.
Worauf will ich hinaus? - In dem Artikel wird eine Sprecherin des Ministeriums für Inneres und Sport mit den Worten zitiert: „Zöge man […] andere Parameter […] heran, würde sich eine andere Rangfolge ergeben.“
Die Frage ist folglich: An welche Parameter denkt man im Innenministerium? Gibt es diesbezüglich schon irgendeine Verständigung zwischen den Bundesländern? Denn es ergibt nur dann Sinn, wenn sich die Verkehrsexperten, zumindest der meisten Bundesländer, auf neue Parameter verständigen können.
Dr. Tamara Zieschang (Ministerin für Inneres und Sport):
Herr Abg. Erben, die gemeinsamen Statistiken, die wir erstellen - ob es die polizeiliche Kriminalstatistik oder die Verkehrsunfallbilanz ist , sind immer bundesweit abgestimmt. Das haben Sie angedeutet.
Die Relation der Getötetenzahl zu der Bevölkerungszahl ist ein Kriterium, das mit herangezogen wird. Man kann das - das deuteten Sie auch schon an - durchaus hinterfragen, zumal sich die Zahl der Verkehrstoten ja nicht auf Sachsen-Anhalter bezieht, sondern schlicht auf Menschen, die in Sachsen-Anhalt und auf den Straßen hier zu Tode gekommen sind.
Insofern - das wird in dem Artikel auch angedeutet - stellt sich durchaus die Frage, ob man nicht Flächen als Relation nehmen sollte, um Stadtstaaten und Bundesländer anders zu gewichten. Genauso stellt sich die Frage, ob es auf den Anteil der Autobahn ankommt oder gerade nicht. Kommt es vielleicht eher auf den Anteil der Landstraßen und Alleen an? Wie verhält es sich überhaupt mit der Verkehrsbelastung, auch in Relation zu der Bevölkerungszahl? All das kann man hinterfragen.
Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob das in den jeweiligen Arbeitskreisen, die die Statistiken erklären bzw. die die Statistiken vorbereiten und sich auf gemeinsame Parameter verständigen, im Einzelnen diskutiert wird. Dem gehe ich aber sehr gern nach. Denn ich will sagen Mich treibt im Augenblick, ein anderes Thema um, losgelöst von der Häufigkeitszahl. Als wir die Verkehrsunfallbilanz für das Jahr 2022 vorgestellt haben - die Verkehrsunfallbilanz für das Jahr 2023 stellen wir erst in den nächsten Wochen vor - gab es bereits den erschreckenden Befund, dass es in Sachsen-Anhalt 152 Verkehrstote gegeben hat. Das war ein Anstieg um 35 %. Diesen konnte man ein bisschen damit erklären, dass während der Coronapandemie in den Jahren 2020, 2021 weniger Verkehre zu verzeichnen waren. Aber trotzdem war der Anstieg im Jahr 2022 signifikant.
Mich hat dabei sehr umgetrieben, dass von den 152 Todesopfern, die wir auf unseren Straßen beklagen mussten, 41 Menschen älter waren als 75 Jahre. Darauf hatten wir damals auch bei der Vorstellung der Verkehrsunfallbilanz für das Jahr 2022 durchaus einen Schwerpunkt gelegt. Denn die Zahl der älteren Menschen, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sind, hat sich verdreifacht.
Im letzten Jahr ist auf der Sternbrücke ein Fahrradfahrer tödlich verunglückt. Denn die Älteren sagen ihren Enkeln zwar, sie sollen einen Fahrradhelm tragen, tun dies aber selbst oft nicht. Deswegen hatten wir im Frühjahr letzten Jahres ein weiteres Todesopfer unter anderem auf der Sternbrücke zu beklagen. Deshalb hatten wir in Reaktion auf die Verkehrsunfallbilanz 2022 einen klaren Schwerpunkt auf eine Präventionskampagne für Seniorinnen und Senioren gelegt, weil wir diese zielgerichtet in den Blick nehmen wollten.
Ich fand den Anstieg der Zahlen insofern erst einmal erschreckend. Wie die Verkehrsunfallbilanz für das Jahr 2023 aussehen wird, das müssen wir sehen. Wir haben, glaube ich, auf die Zahlen aus dem Jahr 2022 gut reagiert, unter anderem mit der Präventionskampagne für Senioren. Aber gleichzeitig ist Prävention immer nur das eine. Das andere ist, dass wir den Kontrolldruck erhöhen. Gerade wenn wir die Situationen auf den Autobahnen betrachten, die viel befahren sind, dann stellen wir fest, dass es wichtig ist, auch den Kontrolldruck bei Lkw zu erhöhen.
Sie wissen, dass wir bei der letzten Roadpol-Verkehrsaktion wieder einmal feststellen mussten, dass 43 % der kontrollierten Lkw zu beanstanden waren. Das ist eine sehr hohe Anzahl. Aber das ist das Ergebnis fast aller Kontrollaktionen, die wir durchführen, nämlich, dass es sehr, sehr viele Lkw betrifft. Gerade in Verbindung mit Lkw hatten wir sehr, sehr schwere Unfälle auf den Autobahnen.
Die Häufigkeitszahlen - das haben Sie schon selbst gesagt - sind eigentlich nur ein Kriterium. Wie weit der Stand der Referenten auf Ebene der Innenministerkonferenz ist, auch andere Parameter heranzuziehen, muss ich nachfragen.
Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:
Eine Nachfrage. - Bitte.
Rüdiger Erben (SPD):
Es ist eher eine Nachdenkfrage, und zwar nicht nur an das Ministerium für Inneres und Sport, sondern auch an andere zuständige Ministerien für Verkehrssicherheit in Sachsen-Anhalt.
Ich will einmal zwei vergleichbare Länder nennen, bei denen man das Argument der Fläche sicherlich nicht so ins Feld führen kann, nämlich Brandenburg und Sachsen-Anhalt - beides Länder mit viel Transitverkehr, mit vielen Autobahnen und wenigen Einwohnern. Es gab die Situation, dass Brandenburg - seit es die Statistik gibt - der Negativspitzenreiter schlechthin in Deutschland über zwei Jahrzehnte lang war; das muss man sagen.
Zu Beginn des letzten Jahrzehnts hatte Brandenburg eine Häufigkeitszahl von 77; wir von 67. Im Jahr 2023 - und die „MZ“ arbeitet offensichtlich schon mit den Zahlen aus dem Jahr 2023 - hatte Brandenburg eine Häufigkeitszahl von 42 und wir von 59. Das sind nicht nur Kennziffern, sondern es stehen auch Schicksale dahinter. In Brandenburg hat sich die Anzahl der Verkehrstoten in diesem Zeitraum von 192 auf 108 verringert; bei uns hat sich diese Anzahl von 157 auf im letzten Jahr 130 verringert. Ich glaube, das sollte allen unabhängig von den Statistiken Anlass geben, über Maßnahmen nachzudenken, mit denen wir für mehr Verkehrssicherheit und für weniger Verkehrstote in Sachsen-Anhalt sorgen. - Danke.
(Zustimmung von Dr. Katja Pähle, SPD, und von Olaf Meister, GRÜNE)
Dr. Tamara Zieschang (Ministerin für Inneres und Sport):
An dieser Stelle gehe ich mit Ihnen voll und ganz konform. Deswegen habe ich gesagt, dass die Häufigkeitszahlen und die statistischen Betrachtungen das eine sind. Das andere ist: Alleine der Anstieg, den wir im Jahr 2022 hatten, war für uns Anlass, unter anderem auch diese Präventionskampagne für Senioren ganz zielgerichtet für die älteren Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer auf den Weg zu bringen.
Gleichwohl - das muss man sagen - wird es immer so sein, dass die Zahlen das eine sind, aber das andere ist: Man muss wirklich in die Details hineingehen. Wenn wir die Anzahl der auf Bundesautobahnen verunglückten Menschen sehen, dann stellt sich immer die Frage: Was sind dafür die Ursachen? Das können natürlich einfach bauliche Geschichten sein, aber manchmal hat man auch eine Fülle von Baustellen mit diesen typischen Auffahrten am Ende des Staus.
An dieser Stelle müsste man einmal gucken: Wie viele Baustellen gab es dann in dem Jahr in Sachsen-Anhalt und in dem anderen Jahr in Brandenburg? Insofern muss man dann häufig ins Detail gehen. Das tun wir auch. Aber am Ende - darauf wollten Sie auch hinaus - steht über allem die Frage: Wie können wir die Vision Zero, die wir nun einmal als gemeinsames Ziel im Bereich der Verkehrssicherheitsarbeit haben, realisieren?
An dieser Stelle kann ich nur wiederholen: Es wird immer darum gehen, den Kontrolldruck aufrechtzuerhalten und hochzuhalten. Das haben wir im letzten Jahr mit der Landespolizei sehr engagiert getan. Wir haben auch neue Instrumente, die wir einsetzen können. Wenn ich das Thema Abstandsmessung von Lkw nehme: Dort setzen wir Drohnen ein, sodass diejenigen, die auf ihre Abstände überprüft werden, das eigentlich gar nicht im Einzelnen mitkriegen können. Die können gar nicht durch vorausfahrende Lkw vorgewarnt werden, weil die Drohne natürlich viel schwerer zu entdecken ist als ein fest installiertes Messgerät.
Kontrolldruck ist das eine, Präventionsarbeit ist das andere. Auch an dieser Stelle bin ich froh darüber, dass wir in der Landespolizei im letzten Jahr neue Wege gegangen sind. Wir wissen, dass wir nicht nur die Senioren in den Blick nehmen müssen, sondern auch die jüngeren Verkehrsteilnehmer. An dieser Stelle haben wir zum einen die Verkehrssicherheitsarbeit, die insbesondere die Regionalbereichsbeamtinnen und Regionalbereichsbeamten an den Grundschulen leisten. Zum anderen haben wir aber mit den VR-Brillen, die wir im letzten Jahr neu beschafft haben, den ganz bewussten Fokus auf die Gruppe der älteren Jugendlichen gelegt.
Vor wenigen Tagen - der Abg. Krull war auch dabei - waren wir hier im Hegel-Gymnasium in Magdeburg, wo die VR-Brillen bei einer elften Klasse zum Einsatz kamen.
(Tobias Krull, CDU, nickt)
Dabei geht es darum, dass ich über vorgespielte virtuelle Realität auf Gefahrensituationen im Straßenverkehr aufmerksam gemacht werde, bei denen sich aus einer scheinbar harmlosen Situation plötzlich eine unmittelbare Verkehrsgefährdung ergeben kann. Das Gute bei diesen VR-Brillen ist - und ich glaube, deswegen fand es gerade auch bei der elften Klasse großen Zuspruch ,
(Tobias Krull, CDU, nickt)
dass man in der Szene, die dargestellt worden ist, als Fahrradfahrer unterwegs ist. Dann fährt plötzlich ein Auto aus einer Parklücke heraus. Man konnte den Verkehrsweg gut einsehen, aber dass plötzlich jemand ausparkt, war für den Fahrradfahrer nicht zu sehen. Dann besteht auch noch die Möglichkeit, sich in die Perspektive des Autofahrers hineinzuversetzen.
(Guido Kosmehl, FDP: Das war nicht die Frage!)
Das ist für diejenigen, die vielleicht vorhaben, einen Führerschein zu machen, doppelt interessant.
Das Ergebnis dessen war, dass der Autofahrer den Radweg nicht einsehen konnte und deswegen langsam herausfahren musste. Damit war er schon voll auf dem Fahrradweg. Dort ist eine Gefahrensituation im Straßenverkehr entstanden, wie sie hundertfach jeden Tag auf unseren Straßen, Radwegen und Verkehrswegen stattfindet, aber gar nicht einmal, weil sich jemand fahrlässig verhalten hat, sondern weil jemand, der selbst zugeparkt war, vorsichtig versuchte, aus seiner Lücke herauszufahren.
Also: Kontrolldruck erhöhen, aber die Präventionsarbeit weiter intensivieren - das werden wir vonseiten der Landespolizei tun.
(Zustimmung bei der CDU)
Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:
Danke Frau Ministerin. - Damit ist die Befragung der Landesregierung beendet und der Tagesordnungspunkt 1 abgeschlossen.