Sebastian Striegel (GRÜNE):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir werden dem Antrag der Koalitionsfraktionen zustimmen, auch wenn eine erneute Überprüfung nach mehr als drei Jahrzehnten nur bedingt sinnvoll erscheint.
Das von der SED beauftragte und nicht nur von den Tschekisten der Stasi - Herr Silbersack hat es gerade noch einmal deutlich herausgehoben, mit welcher sozusagen Eingriffstiefe das passiert ist - fein gesponnene Netz der Überwachung der Bürgerinnen und Bürger der DDR bestand aus rund 90 000 hauptamtlichen und mehr als doppelt so vielen inoffiziellen Mitarbeitern. Sie sammelten emsig Informationen und nutzen diese, um Menschen zu brechen, aus dem Land zu treiben und im Knast verschwinden zu lassen, um Opposition klein zu halten und um demokratischen Widerstand zu verunmöglichen.
Viele Menschen sind in der Diktatur des Proletariats zu Tätern geworden. Menschen haben sich schuldig gemacht durch Tun und durch Unterlassen, durch Wegschauen, aber eben auch durch Spitzelei und Denunziationen. Der Grad dieser Schuld ist unterschiedlich.
Bei der Beurteilung von Schuld auch Grautöne zuzulassen, ist zentral, und auch, zu schauen, wie sich Täterinnen und Täter nach dem Jahr 1990 verhalten haben und welchen Umgang sie mit ihrer Schuld und auch mit von ihnen persönlich oder systematisch geschädigten Opfern und Betroffenen gefunden haben.
Wir wissen heute, SED, Kampfgruppen und Stasi konnten trotz des enormen Machtapparats die friedliche Revolution nicht aufhalten, auch wenn die Blockparteien von der CDU über die LDPD bis hin zur Demokratischen Bauernpartei und die Massenorganisationen die Diktatur bis zum Schluss mit stabilisierten.
Die Friedens-, Umwelt- und Frauengruppen bereiteten durch ihre beharrliche und unerschrockene Arbeit und ihre zunehmend öffentlichkeitswirksamen Aktionen den Boden für Demokratie, Rechtstaatlichkeit und das Ende der Überwachung. Diese Menschen haben für ihren Einsatz Rufschädigung und oft erhebliche persönliche Nachteile in Kauf genommen.
Einer dieser Menschen, Carlo J., ist heute gestorben. Er war nicht nur Gründer der Umweltbibliothek in Berlin, sondern auch ein Mitautor des Films „Bitteres aus Bitterfeld“. Er war an der Produktion beteiligt. Ich denke, es ist gut, auch an Menschen wie ihn heute hier zu erinnern.
(Zustimmung bei den GRÜNEN, bei der LINKEN, bei der SPD und bei der FDP)
Bereits die Aufzählung oben zeigt, die Erzählung nur von einer allmächtigen Stasi greift zu kurz. Wer Schuld und schuldig werden im Kontext der DDR bewerten will, wer daraus lernen will, der darf nicht nur, muss aber auch auf die Stasi schauen.
Viele haben das Unrechtsystem stabilisiert. Nur die wenigsten können rechtmäßig von sich behaupten, Teil der DDR-Opposition gewesen zu sein. Denn das erforderte oft mehr Mut, als viele aufzubringen bereit waren.
Wenn wir heute einen Stasi-Untersuchungsausschuss einsetzen, dann sollten wir uns eingestehen: Der Blick auf die Stasi ist nötig, aber er reicht nicht aus, um die DDR-Diktatur zu verstehen. Heilung der bis heute gestörten gesellschaftlichen Beziehungen braucht mehr, sie braucht auch weiterhin den ehrlichen Blick auf das eigene Versagen und die Bereitschaft, sich den kritischen Fragen der heute jungen Menschen zu stellen. - Herzlichen Dank.
(Zustimmung bei den GRÜNEN, bei der SPD und von Guido Heuer, CDU)