Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Nein. Das geht nämlich nach einem anderen Protokoll. Das wollte ich gerade erläutern. Wir werden jetzt in der Rednerliste mit Frau Sziborra-Seidlitz und Frau Dr. Richter-Airijoki fortfahren. Und dann werden wir noch einmal von vorn mit der FDP, der LINKEN und auch der CDU anfangen, weil die Debatte noch einmal neu aufgemacht worden ist, wenn denn die einzelnen Fraktionen, die ich eben genannt habe, Redebedarf anmelden und wahrnehmen möchten.

(Zuruf von Marco Tullner, CDU)

Deswegen ist jetzt erst einmal Frau Sziborra-Seidlitz an der Reihe. - Bitte.


Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):

Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Die Kollegen der AfD greifen mit ihrer Aktuellen Debatte ja wieder einmal ganz tief in die Mottenkiste der gesellschaftlichen Ressentiments. Wie immer geht es dabei schon in der Begründung um Vorurteile, Vorbehalte und die Abwertung bestimmter Menschengruppen.

(Zuruf von der AfD)

Am liebsten zeigen Sie Ihr kaltes Herz und ihre geballte Faust normalerweise den Mitbürgern, die nicht zufälligerweise auf eine deutsche Ahnenreihe verweisen können,

(Jan Scharfenort, AfD: Das ist eine Unterstellung! - Oh! bei der AfD - Unruhe bei der AfD)

oder diejenigen Menschen, die nicht ihrem Familienbild der 1950er-Jahre entsprechen. Heute sind es die Beziehenden von Bürgergeld, die ihre Missgunst abbekommen, die sie zwischen den Zeilen Ihres Antrages als faules arbeitsscheues Gesindel bezeichnen. Und selbstverständlich fehlen dann in der Begründung auch hier die fremdenfeindlichen Verweise nicht.

Natürlich kann man das jahrhundertealte Bild des schlechten Armen bedienen, um daraus politisch Kapital zu schlagen, um Menschen anzusprechen. Die Abgrenzung und die Abwertung ihrer Mitmenschen brauchen Sie für Ihren eigenen Identitätsaufbau und Ihr eigenes Wertegefüge. Ohne Tritte nach unten klappt Ihre Politik nicht - so wahr wie bitter.

(Zustimmung von Olaf Meister, GRÜNE)

Einmal ganz nüchtern betrachtet und auch zur Beruhigung der einbringenden Fraktion: Wer arbeitet - das hat die Ministerin gerade schon dargestellt - hat immer mehr im Portmonee als jemand, der einzig auf Bürgergeld angewiesen ist.

Sie können nicht einfach ein niedriges Nettoeinkommen dem Bürgergeld gegenüberstellen. Zur ganzen Wahrheit gehört - auch das hat die Ministerin gerade ausgeführt  : Nur wer über ein Einkommen verfügt, kann überhaupt Wohngeld beziehen, erhält das Kindergeld als zusätzliches Sekundäreinkommen und ggf. auch den Kinderzuschlag.

(Unruhe)

Wohngeld und Kinderzuschlag sind durch die Ampelkoalition deutlich erhöht worden. Der Kreis der Anspruchsberechtigten hat sich deutlich vergrößert. Der Sozialstaat vergisst auch die Erwerbstätigen nicht, sondern viele beziehen beides: ein Primäreinkommen über ihre Arbeit und ein Sekundäreinkommen vom Sozialstaat; und dazu komme ich gleich noch einmal.

(Unruhe)

Sollten wirklich Beschäftigte aus der Reinigungsbranche ob des Bürgergeldes kündigen, dann haben sie wahrscheinlich schlecht gerechnet oder sie sind Ihren Märchenerzählungen aufgesessen. Und überhaupt droht erst einmal eine Sperrung von Bürgergeld, wenn man die Arbeitslosigkeit selbst herbeigeführt hat. Also, die Vorstellung, ich kündige, damit ich Bürgergeld bekomme, funktioniert erst einmal überhaupt nicht.

Und glaubt man etwa dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, dann hat auch die Bundesregierung nicht wirklich gut gerechnet bei der neuen Höhe des Bürgergeldes. Denn wirkliche Teilhabe sichert das Bürgergeld laut ihren Angaben nicht, selbst nicht mit der ab dem Jahr 2024 geltenden Höhe der Leistungen. Die Parität berechnet für wirklich soziale Teilhabe einen Regelsatz von 725 €. Das ist deutlich mehr als jetzt zum 1. Januar 2024 kommt.

(Sven Rosomkiewicz, CDU: So etwas Unrealistisches!)

Das muss man inhaltlich nicht teilen.

(Matthias Redlich, CDU: Das kann man nicht teilen!)

Das muss man nicht teilen. Aber in diese Richtung ist die Debatte zu führen sicherlich nicht, ob die Ärmsten im Vergleich zu den Armen zu viel haben.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Das Schwarzweißbild der fleißigen Lohnbeschäftigten auf der einen und der vom Sozialstaat Abhängigen auf der anderen Seite ist, oh Wunder, unterkomplex. Aber mit Komplexität haben Sie sehr eh nichts so. Mehr als zwei Geschlechter überfordern sie, zwei Pässe überfordern Sie,

(Zuruf von der CDU: Es gibt doch nur zwei Geschlechter! - Ulrich Siegmund, AfD: Es gibt doch nur zwei Geschlechter! - Zuruf von der AfD: Es gibt doch nur zwei Geschlechter!)

Regenbogenfamilien überfordern Sie, und das Zusammenwirken von Sozialstaat und Familieneinkommen anscheinend auch.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ebenso unterkomplex ist Ihr Bild von Arbeitnehmerinnen, die einzig aufgrund monetärer Gründe arbeiten. Die Allermeisten arbeiten doch auch aus anderen Gründen. Die Anerkennung und Wertschätzung, die mit Arbeit verbunden ist, der soziale Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen, der Sinn, der mit Tätigkeit verknüpft ist. Es geht schlicht auch darum: Was wäre denn die Alternative? 24/7 das eigene Sofa und Bett hüten? - Sicherlich nicht.

Sicherlich ist das für kaum jemanden attraktiv- Außerdem bieten Jobs fast immer auch Aufstiegsmöglichkeiten, Karrierewege und damit auch Lohnzuwächse. Mittel- und langfristig lohnt sich Arbeit also erst recht.

Das eigentliche Problem, das scheint auch in Ihrer Begründung am Horizont leise auf, sind - ich habe versprochen, darauf zurückzukommen - zu niedrige Löhne, ein zu niedriger Mindestlohn und viel zu viele Menschen in Sachsen-Anhalt, die nur nach Mindestlohn bezahlt werden. Warum richten Sie Ihre Appelle nicht an die Arbeitgeberseite? Warum zitieren Sie die Schauergeschichten und reinen Spekulationen der Arbeitgeberseite? - Weil Sie eben nicht die Partei des kleinen Mannes sind, wie behauptet, sondern letztlich neoliberalen Sozialdarwinismus vertreten.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Politisch Gleichgesinnte wie die aktuelle Regierung in Italien kürzen ja nicht ohne Grund Tausenden Italienerinnen und Italienern ersatzlos die Grundsicherung, wie es im Sommer geschah. Das sind doch auch Ihre sozialpolitischen feuchten Träume: endlich denen ganz unten zeigen, wo der Hammer hängt.

(Unruhe - Guido Kosmehl, FDP: Oh! - Oh! bei der AfD)

Im Anschluss will Meloni natürlich gleich noch    

(Tobias Rausch, AfD: Was soll denn das? Zwei Mal heute! - Weitere Zurufe)

Im Anschluss    

(Unruhe)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Frau Sziborra    

(Zurufe)

- Ja! Ja! Nun! Jetzt reicht es! So geht das nicht. Ich muss hier auch erst einmal sortieren, was gerade gesagt worden ist, und den Satz zu Ende hören. - Ich möchte Sie, Frau Sziborra-Seidlitz, bitten, einen solchen Begriff hier nicht noch einmal zu verwenden. Das haben wir schon einmal ausdiskutiert. Das ist ein Niveau, unter das wir uns nicht begeben wollen.

(Unruhe- Zurufe)


Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):

In Ordnung. Das nehme ich hin. - Im Anschluss will Meloni auch gleich noch die Verfassung auf Autokratie bürsten,

(Tobias Rausch, AfD: Wir haben dafür einen Ordnungsruf gekriegt!)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Halt! Halt!


Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):

aber auch das    


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Frau Sziborra-Seidlitz! - Ich rede jetzt in Richtung der AfD-Fraktion. So geht es nicht. Wir haben uns hier einvernehmlich auf einen Kodex geeinigt, dass wir uns nicht unter ein bestimmtes Niveau begeben wollen. Wir haben dabei aber auch danach unterschieden, ob jemand persönlich angesprochen wird und persönlich adressiert wird oder ob das eine allgemein gehaltene Aussage ist. Sie haben eben auch noch einmal sehr viel Wert auf diese Unterscheidung gelegt. Deswegen habe ich jetzt Frau Sziborra-Seidlitz darauf hingewiesen. Es war aber eine andere Situation als mit dem Redner der AfD-Fraktion vor einiger Zeit.

(Zustimmung bei den GRÜNEN - Tobias Rausch, AfD: Das stimmt doch gar nicht!)

Wir können das gern noch weiter ausdiskutieren. Aber ich habe es eben so gesagt. Ich möchte jetzt, dass Frau Sziborra-Seidlitz in ihrer Rede fortfahren kann. Wir werden dann auch weiter in der Debatte fortfahren.


Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):

Vielen Dank. - Sie sagen, das Lohnabstandsgebot gerät zunehmend in Schieflage. - Richtig ist: Das Lohnabstandsgebot wurde bereits 2010 infolge des Grundsatzurteils des Bundesverfassungsgerichts aus den Sozialgesetzbüchern gestrichen. Erster Leitsatz dieses Urteils war:

„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Abs. 1 GG, sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“

Diese grundsätzliche Bedarfsgerechtigkeit, die es im Sinne des Grundgesetzes zu wahren gilt, ist höchstrichterlich verbrieft und gänzlich unabhängig von einem etwaigen Lohngefüge.

Sie sagen: Ein Bürgergeld auf Höhe des soziokulturellen Existenzminimums ist ein Angriff auf unsere Werte. Ich sage: Die Ärmsten gegen die Armen auszuspielen, ist ein Angriff auf unsere Werte.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sie sagen: Das Bürgergeld ist eine Abwertung der Arbeit, die Millionen von Menschen im Handwerk und in der Industrie jeden Tag leisten. Ich sage: Löhne, die nicht zum Leben reichen, sind eine Abwertung der Leistung von Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in unserem Land.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN)

Gleichzeitig kann eine halbwegs armutsfeste Grundsicherung uns allen quasi ruhige Nächte bescheren. Denn alle können sich sicher sein: Welcher Schicksalsschlag mir erwerbsbiografisch auch drohen mag, Obdach, Nahrung, Kleidung und soziale Teilhabe sind mir in einem minimalen Sinne sicher. Auch Erspartes und Eigentum sind in gewissen Grenzen geschützt. Niemand wird gänzlich allein gelassen. Das ist der menschliche Kern unserer Gesellschaftsordnung. Den gilt es zu verteidigen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wer Menschen weniger als ihr Existenzminimum zugesteht, sollte sich ernsthaft Gedanken über sein Menschenbild machen. Dieser Rat geht auch klar in Richtung derjenigen, die diese Diskussion in Bezug auf Migrantinnen abgetrennt und noch einmal mit anderen Schwerpunkten führen.

Dass die Menschenwürde nicht migrationspolitisch relativiert werden darf und daher ein Absenken von Leistungen unterhalb des menschenwürdigen Existenzminimums aus migrationspolitischen Gründen nicht zulässig ist, ist ein weiterer der starken Sätze, die das Bundesverfassungsgericht bereits 2012 der Politik ins Stammbuch geschrieben hat. Dass Ihnen das egal ist, verehrte AfD, ist geschenkt. Nichts anderes erwartet man von Ihnen. Aber von Demokratinnen sollte man an dieser Stelle doch mehr Erinnerungsvermögen erwarten dürfen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Wir GRÜNEN stehen für eine Sozialpolitik, die der Menschenwürde verpflichtet ist, die Menschen befähigt, ein eigenständiges Leben zu führen, und sie verlässlich vor Armut schützt. Daher rührt unser Einsatz für eine echte Kindergrundsicherung, die natürlich auch mit Leistungsverbesserungen einhergehen muss, daher rührt unser Einsatz für ein Bürgergeld und daher gibt es auch die starken Diskussionen in meiner Partei zum Grundeinkommen.

Wir entwerfen Politik ausgehend von einem handlungsfähigen Menschen, der aufgrund von Werten und eigenem Antrieb handelt und sich einbringt, und nicht ausgehend von einem geradezu nihilistischen Menschenbild des passiven Homo oeconomicus, der nur mittels äußerer Anreize zum Handeln zu bringen ist. Wer Menschen über zu niedrige Sozialleistungen und absichtlich zu knapp gehaltene Unterstützung in Arbeit zwingen will, um vermeintlich den Fachkräftemangel abzumildern, der versteht nicht, dass Politik für die Menschen da ist und eben nicht andersherum. So wird Menschenwürde an dieser Stelle unter soziale Bedingungen gestellt. Das individuelle Leben wird als gesellschaftlicher Kostenfaktor betrachtet. - Nicht mit uns! Wir halten Solidarität und soziale Gerechtigkeit für unabdingbar für eine humane, für eine demokratische und für eine nicht gespaltene, gemeinsame Gesellschaft. - Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN)