Tagesordnungspunkt 6

Beratung

Armutsfalle Pflegeheim! Eigenanteile in der Pflege senken - Bewohner*innen finanziell entlasten

Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/3303

Alternativantrag Fraktionen CDU, SPD und FDP - Drs. 8/3327


Die Einbringerin für die Fraktion DIE LINKE, also für den Ursprungsantrag, ist Frau Anger. - Frau Anger, Sie haben das Wort. Bitte sehr.


Nicole Anger (DIE LINKE): 

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Kommen wir heute einmal zu einem Thema, über das sich viele lieber keine Gedanken machen wollen; denn wir alle wünschen uns doch, dass wir bis zum letzten Tag - der möge immer erst in einem sehr hohen Alter sein - fit und gesund bleiben. Aber bei einigen kommt es leider anders; sie werden pflegebedürftig. Dann steht die Entscheidung ins Haus, ambulante Pflege zu Hause oder stationär in einer Pflegeeinrichtung. 

Im Land Sachsen-Anhalt haben wir etwas mehr als 166 000 pflegebedürftige Menschen. Das betrifft etwas mehr als jede 13. Person. Davon leben rund 27 600 Personen in der vollstationären Pflege.

Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir bitte an dieser Stelle einen ganz besonderen Dank an all die Pflegekräfte in den Altenheimen des Landes; 

(Zustimmung bei der LINKEN und von Dr. Katja Pähle, SPD)

denn gerade vor Kurzem konnte ich mich bei einem Besuch in einer Pflegeeinrichtung mit einer Demenzstation einmal wieder praktisch davon überzeugen, wie wertschätzend und liebevoll Pflegefachkräfte mit den Bewohner*innen der Einrichtung umgehen, mit welcher Ruhe und Freundlichkeit sie bei den alltäglichen Dingen 24/7, also an sieben Tagen in der Woche, Unterstützung bieten. Dafür gehören ihnen mein Respekt und mein großer Dank. 

(Zustimmung bei der LINKEN und von Dr. Katja Pähle, SPD)

Meine Damen und Herren! Pflegebedürftigkeit und der Schritt, seinen Lebensabend in einer Pflegeeinrichtung zu verbringen, ist für viele Menschen schon sehr einschneidend. Das wird beim Blick auf die Kosten in der stationären Pflegeeinrichtung, die man selbst tragen muss, noch viel, viel einschneidender. 

Bundesweit lauert bei einem Drittel von ihnen mit einem Umzug ins Pflegeheim die Altersarmut, Ruin in einer Lebensphase, die eigentlich von Geborgenheit, Zuwendung und Sicherheit geprägt sein sollte. Es ist ein Lebensabschnitt, in dem man es sich einmal mehr wünscht, die letzten Lebensjahre sorgenfrei und gut versorgt in einer schönen Umgebung verbringen zu können. Doch weit gefehlt: 

Jetzt beginnen die Sorgen erst recht; denn viele Betroffene können sich die endlos steigenden Kosten, also die zu zahlenden Eigenanteile, nicht lange, wenn überhaupt, leisten. Das mühsam Ersparte, wenn überhaupt welches vorhanden ist, muss zuerst herhalten, und das nach einem Leben voller Arbeit, Sparsamkeit und Unabhängigkeit. Jetzt, wo man sich die kleinen Freuden des Lebens noch gönnen könnte, winkt für viele der soziale Abstieg und schließlich auch der Gang zum Sozialamt.

Die traurige Konsequenz ist, dass sich Menschen erst gar nicht um einen Platz in der Pflegeeinrichtung bemühen, weil Ängste und Sorgen sie quälen. Sie haben Angst, dass das Geld nicht reicht. Sie haben Angst und Scham davor, zum Sozialfall zu werden. Also bleiben sie zu Hause, werden bestenfalls von Angehörigen betreut und gepflegt. Aber auch für die Angehörigen ist das nicht in jedem Falle eine leichte Situation. Man übernimmt noch einmal ganz anders Verantwortung füreinander. Man muss 24/7 für die zu pflegende Person da sein. Nicht jeder kann das und nicht jede will das. Also kommt es auch dazu, dass Pflegebedürftige allein sind, in Isolation zurückgelassen sind und vereinsamen.

Nicht selten kommen Pflegebedürftige erst viel zu spät und dann mit einem sehr hohen Pflegebedarf in die Einrichtung. Dort bleibt ihnen dann nicht mehr viel Lebenszeit. Sie kommen also im wahrsten Sinne des Wortes nur noch zum Sterben dorthin. Das belastet auch das Personal in den Einrichtungen sehr. 

Das, meine Damen und Herren, sind Folgen, weil stationäre Pflege nicht erst zum Luxus wird, sondern sie es schon ist. Zunehmend mehr pflegebedürftige Menschen können sie sich einfach nicht mehr leisten. Aber als Gesellschaft müssen wir uns daran messen lassen, wie wir mit unseren Ältesten und Schwächsten umgehen. Bei diesem Thema kann ich nur sagen: Ich schäme mich. 

Aber bevor Sie gleich laut werden und sagen, dass das alles nicht so schlimm sei, wie ich es darstelle, und dass Landes- und Bundesregierung schließlich schon viel täten, um die Situation zu entspannen, lassen Sie mich einige Fakten nennen. Diese sprechen eine eigene Sprache und spiegeln ganz objektiv und nüchtern die Realität wider.

Die Eigenanteile, die für einen stationären Pflegeplatz aufzubringen sind, haben sich in den letzten sechs Jahren nahezu verdoppelt. Betrug der Eigenanteil im Jahr 2017 durchschnittlich noch rund 1 130 €, so beträgt er im Jahr 2023 bereits 2 150 € monatlich. 

Die Eigenanteile speisen sich aus den Kosten der Unterkunft, also Miete und Verpflegung, aus einer Ausbildungsumlage sowie aus Investitionskosten. Das heißt, Bewohner*innen der Pflegeeinrichtungen werden auch für den Aus- und Umbau des jeweiligen Pflegeheims zur Kasse gebeten. Eigentlich sollten ja nur Kosten für Unterkunft und Verpflegung selbst getragen werden. Alle pflegerischen Kosten gehören in die Pflegeversicherung - eigentlich. Dass das nicht so ist, wissen wir. 

Meine Damen und Herren! Mit einer durchschnittlichen Ostrente, die für Frauen im Durchschnitt bei 1 133 € und für Männer bei durchschnittlich 1 353 € liegt, haben die Menschen im Land Sachsen-Anhalt weit weniger als die Eigenanteile zur Verfügung. Es liegt auf der Hand, dass sich viele alte und gleichzeitig pflegebedürftige Menschen mit einer durchschnittlichen Ostrente diese Eigenanteile nicht leisten können. Zudem ist innerhalb eines Jahres ein Anstieg der Eigenanteile von fast 19 % zu verzeichnen. Die Erhöhung, die sich im Zeitraum von 2022 bis 2023 ergeben hat, ist eklatant. 

Ich sage es deutlich: Die Tendenz der Erhöhung der Eigenanteile steigt, wobei die Renten nicht in gleicher Rasanz wie die Kosten in der stationären Pflege steigen. Das ist ein Missverhältnis, das nur zu einer Katastrophe führen kann. 

Die Betroffenen und auch ihre Angehörigen wissen nicht, wie sie die Kosten decken sollen. Auch bei Paaren droht oftmals das Abrutschen in die Altersarmut, und zwar dann, wenn einer der beiden ins Pflegeheim muss. Sie gelten als Bedarfsgemeinschaft und müssen für den Unterhalt der pflegebedürftigen Person aufkommen. Dieser Pflegebedarf des einen bedeutet nicht selten die Armut für den anderen. 

Die Folge: Immer mehr alte Menschen müssen, wenn sie ins Pflegeheim gehen, das erste Mal in ihrem Leben Sozialhilfe beantragen. Nicht wenige von ihnen schämen sich dafür. Einige beantragen die staatlichen Hilfen auch nicht, verstehen sie doch nicht, warum sie nach 40, 45 oder mehr Arbeitsjahren zum Lebensende nicht mehr in der Lage sind, für sich zu sorgen. Dies führt zu einer steigenden Zahl von Anspruchsberechtigten für Sozialleistungen. Momentan zeigt sich eine Zunahme der Anträge beim Träger der Sozialhilfe von mehr als einem Drittel. 

Können Sie sich vorstellen, was das mit den Betroffenen macht? Wie sich das anfühlen muss? Was das mit den alten Menschen macht? Es ist hochgradig entwürdigend. 

Meine Damen und Herren! So kann es keinesfalls weitergehen. Und es wird mitnichten so sein, dass die Höhe der Eigenanteile stabil bleibt; sie steigen weiter und weiter und ein Ende ist nicht abzusehen. 

Dieser Anstieg kommt zustande durch höhere Preise bei Lebensmitteln und Energie, aber auch durch höhere Löhne und die tarifliche Bezahlung des Pflegepersonals. Gerade in Zeiten des zunehmenden Personalmangels und zur Fachkräftesicherung und -gewinnung sind Tarifentgelte aber unentbehrlich. 

Hinzu kommen angestaute Kosten im Bereich der Investitionen bei den Einrichtungen. Hierbei kann und muss das Land Sachsen-Anhalt die Finanzierung über das Corona-Sondervermögen hinaus übernehmen und ein entsprechendes Förderprogramm auf den Weg bringen. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Aufgrund der gesetzlichen Ermächtigung in § 9 SGB XI liegt die Zuständigkeit für die Investitionskosten bei den Bundesländern. Sachsen-Anhalt kommt dieser nicht nach. Das Land investiert nicht. Die Bundesregierung hat uns als Land schon mehrfach deutlich darauf hingewiesen, dass die Übernahme der Investitionskosten durch das jeweilige Bundesland die Pflegebedürftigen entlastet. Genau das wollen wir mit unserem Antrag erreichen. 

Ausgehend von den auf die Bewohnerinnen der Pflegeeinrichtungen umgelegten Investitionskosten, sind hierfür 100 Millionen € je Jahr einzustellen. Eine solche Beteiligung an diesen Aufwendungen kann einer weiteren Steigerung der Pflegekosten effektiv entgegenwirken. Vor allen können dadurch die Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen spürbar entlastet werden. 

Aber diese Investitionskosten reichen nicht aus, um pflegebedürftige Menschen vor Armut zu schützen. Deswegen wollen wir darüber hinaus ein Landespflegegeld einführen. Es ist unumgänglich, ein Landespflegegeld auf den Weg zu bringen, welches die Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen einkommensabhängig einen angemessenen finanziellen Zuschuss zu den zu leistenden Eigenanteilen gewährt. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Wie das genau aussehen soll, wollen wir gern gemeinsam mit Ihnen entwickeln. Wir wollen Sie daran beteiligen. Ich weiß, Sie erwarten immer fertige Konzepte, die wir vorlegen sollen. Aber seien wir einmal ehrlich - diese lehnen Sie doch meistens ab. Also ist es doch nur konsequent, wenn wir das gleich gemeinsam entwickeln. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Meine Damen und Herren! Beide Maßnahmen - Investitionskosten und Landespflegegeld - wirken der drohenden Armutsfalle Pflegeheim deutlich entgegen. Sie können den drohenden Ruin Betroffener abwenden und sie werden dazu beitragen, dass sich die Menschen ein bisschen leichter für einen Platz im Pflegeheim entscheiden können, eben genau die, die dies nicht getan haben, weil sie kein Sozialfall werden wollten. Auch der drohenden Vereinsamung von Menschen kann damit mit Sicherheit effektiv entgegengewirkt werden.

Aber nicht nur die Landesregierung, meine Damen und Herren, ist zum Handeln aufgerufen. Dieses Handeln ist unerlässlich, weil der Bund nicht vorankommt. Und auf den Bund warten können wir und vor allem die Menschen in den Einrichtungen nicht mehr. 

Aber die Landesregierung ist ebenso in der Verantwortung und auch in der Pflicht, sich gegenüber dem Bund deutlich zu positionieren. Die drastisch steigenden finanziellen Belastungen für die Pflegebedürftigen sind zu stoppen. Dazu sind auf der Bundesebene zwingend Maßnahmen zu ergreifen, die das individuelle Pflegerisiko und die damit verbundene Armut durch Pflege absenken. Es muss endlich eine Pflegevollversicherung geben, eine echte Pflegevollversicherung, die alle pflegerischen Leistungen uneingeschränkt abdeckt.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei der AfD - Ulrich Siegmund, AfD: Jawohl, sehr gut!)

Dass das nicht nur unsere Forderung ist, zeigt das Ergebnis einer Forsa-Umfrage, die im Auftrag des Paritätischen Wohlfahrtsverbands und weiterer Sozialverbände im August dieses Jahres veranlasst wurde. Dies macht deutlich, dass unsere Einschätzung der Situation und die sich daraus ableitenden Forderungen auch in der Bevölkerung geteilt werden. 

Laut der Umfrage wünscht sich ein Anteil von 81 % der Befragten den Ausbau der gesetzlichen Pflegeversicherung hin zu einer Pflegevollversicherung, die alle Kosten übernimmt. Nur ein Anteil von 14 % der Befragten halten die staatlichen Leistungen für ausreichend und würden durch die individuelle Vorsorge die entstehenden Lücken schließen. Die Zustimmung der Befragten erfolgte übrigens unabhängig von deren politischer Einstellung. 

Meine Damen und Herren, wir alle, unsere Angehörigen, können früher oder später in die Lage kommen, auf Pflege angewiesen zu sein. Es kann jede und jeden treffen. Umso wichtiger ist es, dass wir uns dieses Themas annehmen. Wir müssen uns damit befassen und Lösungen finden, die nachhaltig sind und alle Menschen und ihre individuelle Lebenssituation einbeziehen.

Pflegebedürftigkeit und die daraus folgende Notwendigkeit, einen Pflegeheimplatz in Anspruch zu nehmen, ist für viele schon schmerzlich genug. Lassen Sie uns das erleichtern. Ein stationärer Pflegeplatz und eine adäquate Pflege und Betreuung dürfen kein Luxus sein.

(Beifall bei der LINKEN) 

Die Pflege und all die damit verbundenen Anforderungen und Leistungen müssen dauerhaft und rechtsverbindlich als wesentlicher Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge des Staates verankert werden. Die Landesregierung ist aufgefordert, die Landkreise und kreisfreien Städte bei der herausfordernden Aufgabe zwingend aktiv zu unterstützen. Lassen Sie uns das nicht länger auf dem Rücken der pflegebedürftigen Bewohner*innen der Einrichtungen austragen. 

Um es mit den Worten des Geschäftsführers des Paritätischen Gesamtverbandes zu sagen: Die Pflege muss gemeinnützig werden. In der Pflege ist kein Platz für Gewinnstreben. Gesundheit und Pflege sind keine Waren. - Vielen Dank. 

(Beifall bei der LINKEN) 


Vizepräsident Wulf Gallert:

Frau Anger, es gibt eine Frage von Herrn Kosmehl. Wollen Sie diese beantworten? - Offensichtlich ja. - Herr Kosmehl, Sie können die Frage jetzt stellen.


Guido Kosmehl (FDP): 

Vielen Dank. Die Finanzierung von Pflegeleistungen ist eine Herausforderung für viele Ebenen, für die angehörigen Familien, für die staatliche Ebene, aber auch für die Versicherungen, in die wir alle einzahlen. 

Zur Finanzierung haben Sie wenig gesagt. Sie haben angedeutet, wohin es gehen sollte. Bei der Umstellung auf eine Pflegevollversicherung reden wir dann bspw. nicht mehr von einem seit 1. Juli geltenden Pflegeversicherungsanteil von 3,4 %, sondern von einem Pflegeversicherungsanteil, der wahrscheinlich der Höhe des Krankenversicherungsanteils entspricht. Wie erklären Sie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, insbesondere jungen Menschen, dass sie dann noch weniger Netto vom Brutto haben, weil sie einen höheren Betrag für diese Versicherung - es ist eine individuelle Versicherung - zahlen sollen? Oder setzt DIE LINKE auf eine Erhöhung des Bundeszuschusses für die Pflegekasse? Aber dann wäre es kein Versicherungssystem mehr. 

(Zustimmung bei der FDP) 


Nicole Anger (DIE LINKE): 

Herr Kosmehl, Grundvoraussetzung wäre doch erst einmal, dass alle, aber auch wirklich alle, in dieselbe Versicherung mit demselben Satz ohne eine Deckelung einzahlen und es dabei keine Ausnahmen gibt. Wir brauchen eine Versicherung für alle ohne eine Trennung zwischen Berufsstand, Mandaten usw. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Momentan gilt z. B beim Krankenkassenbeitrag eine Kappungsgrenze, eine Deckelungsgrenze. 

(Guido Kosmehl, FDP: Ja!)

Wenn Sie knapp 5 000 € im Monat verdienen, dann zahlen sie den Höchstbeitrag. Wenn Sie 7 000 € im Monat verdienen, dann zahlen Sie auch nur den Beitrag, der bei einem Einkommen von 5 000 € angesetzt wird. Das ist doch ungerecht. Das ist unsolidarisch. 

(Jörg Bernstein, FDP: Warum? Das sind Beiträge und keine Steuern!)

Wir wollen eine solidarische Finanzierung der Kosten.

(Zustimmung bei der LINKEN)