Tagesordnungspunkt 3

Beratung

Sichere Mobilität in Sachsen-Anhalt gewährleisten - Schwere Unfälle möglichst verhindern

Antrag Fraktionen CDU, SPD und FDP - Drs. 8/3058


Der Einbringer ist Dr. Falko Grube. Er steht bereits in den Startlöchern und hat hiermit das Wort. - Bitte sehr. 


Dr. Falko Grube (SPD): 

Herr Präsident! Hohes Haus! Wer eine längere Strecke durch Sachsen-Anhalt fährt, der kommt unweigerlich an ihnen vorbei, an den Kreuzen, die am Straßenrand stehen, oder an den weißen Fahrrädern.

Meistens stehen Blumen, Kerzen und Bilder dabei. Man nimmt sie nicht immer wahr, oft weil man es eilig hat, weil der Verkehr dicht ist oder weil man schlicht anderes im Kopf hat. Aber wenn man sie wahrnimmt, steht einem vor Augen, dass hinter jedem dieser Kreuze, hinter jeder dieser Kerzen, hinter jedem dieser Fahrräder ein menschliches Schicksal steht, ein Vater, eine Mutter, ein Sohn, eine Tochter, ein Bruder, eine Schwester, die weg sind. Wenn man sich das vor Augen führt, weiß man: Jeder Mensch, der im Straßenverkehr stirbt, ist ein Toter zu viel. 

In Sachsen-Anhalt war das im Jahr 2022 nicht nur ein Toter zu viel, sondern 152. Wir sind auch nicht auf dem Weg der Besserung. Im Gegenteil: Vor zehn Jahren, im Jahr 2013, waren es 139 Getötete, in den Jahren dazwischen schwankten die Zahlen und im Coronajahr waren es immer noch 113 Getötete. Nunmehr steigt die Zahl der Getöteten wieder. 

Im Gegensatz dazu ist die Zahl der Getöteten in Deutschland insgesamt gesunken. In Deutschland insgesamt waren es im Jahr 2013  3 339 Getöteten und im Jahr 2022  2 788 Getötete. Das sind noch immer zu viele, keine Frage, aber bundesweit geht der Trend zumindest in die richtige Richtung. 

Ich will Ihnen folgende Fakten nennen: In Sachsen-Anhalt ist die Wahrscheinlichkeit, an diesen Kreuzen oder an weißen Fahrrädern vorbeizufahren, besonders groß; denn das Land Sachsen-Anhalt ist in der Unfallstatistik mit Toten pro 1 Million Einwohner unrühmlicher Spitzenreiter. Das Land Sachsen-Anhalt verzeichnet 70 Tote je 1 Million Einwohner. Danach kommen - um nur einige Bundesländer zu nennen - Mecklenburg-Vorpommern mit 52 Toten je 1 Million Einwohner, Niedersachsen mit 46, Brandenburg mit 44 und Thüringen mit 40 Toten je 1 Million Einwohner. Am besten steht übrigens Berlin da mit neun Toten je 1 Million Einwohner. Das Verhältnis zwischen Sachsen-Anhalt und Berlin ist also 70 Tote zu neun Toten. Wenn man sieht, wie die Menschen in Berlin fahren, kann man das kaum glauben, aber Zahlen lügen nicht und Totenscheine auch nicht. 

Meine Damen und Herren! Das kann so nicht bleiben, und zwar nicht, weil wir in der Statistik so bescheiden dastehen, sondern weil an die Straßenränder Blumen und Bäume gehören, nicht Kerzen und Kreuze. 

(Beifall bei der SPD)

Es gibt, verdammt noch mal, einfach keine Rechtfertigung dafür, dass man stirbt, nur weil man von A nach B will, dass man stirbt, weil man nach der Arbeit heim zur Familie will. Dafür gibt es keine Rechtfertigung und deshalb müssen wir etwas tun, meine Damen und Herren. 

Die Regierungskoalition hat sich daher schon im Koalitionsvertrag zur sogenannten Vision Zero bekannt. Heute laden wir Sie in der Gesamtheit des Hohen Hauses dazu ein, sich diesem Bekenntnis anzuschließen. Bekennen Sie sich zur Vision Zero! Bekennen Sie sich zur Schaffung einer sicheren, attraktiven und bezahlbaren Mobilität für die Menschen im ganzen Land. Bekennen Sie sich dazu, dass eine sichere Mobilität eine nachhaltige und langfristige Senkung der Zahl der Verkehrstoten und Verletzten bedeutet. Bekennen Sie sich einfach dazu, dass an der Straße Blumen und Bäume besser als Kerzen und Kreuze sind. 

Für das Erreichen dieses Zieles gibt es in der Landesregierung auch ein Gremium: den Verkehrssicherheitsbeirat. In diesem Gremium sollen neben der ministerialen Ebene viele Akteurinnen und Akteure aus dem Bereich Verkehr, z. B. Landesverkehrswacht, ADAC, ADFC, mitarbeiten. Die aktuelle Ministerin hat bei ihrem Amtsantritt erschrocken feststellen müssen, dass der Verkehrssicherheitsbeirat schon eine unrühmliche Weile nicht getagt hatte. Sie hat versprochen, diesen Umstand nicht nur zu ändern, sondern die Arbeit in diesem Gremium auch qualitativ weiterzuentwickeln. Das ist auch nötig. Wir nehmen Sie dabei gern beim Wort, Frau Ministerin. 

Was brauchen wir, damit aus der Vision Zero eine Reality Zero wird? - Wir brauchen zuallererst eine sichere Infrastruktur. Es ist eine totale Binsenweisheit, dass man nur sicher von A nach B kommt, wenn auch der Weg von A nach B sicher ist. Dazu zählen Straßen ohne Schlaglöcher und mit ordentlichen Leitplanken genauso wie breite Radwege und sichere Querungsmöglichkeiten. Dazu zählen Tempo 30 vor Schulen genauso wie eine Ampel vor dem Supermarkt an der Bundesstraße. Deshalb ist für uns als Koalition der Punkt 3 des Antrages eine der wichtigsten Aufgaben für den Verkehrssicherheitsbeirat: Benennt die Gefahrenstellen und legt ein Programm zu deren Entschärfung vor. Notwendig wäre das. 

Wenn wir vom Schutz im Straßenverkehr sprechen, dann sprechen wir zuallererst über die Gefährdung der schwächsten Verkehrsteilnehmer, also der am meisten gefährdeten Verkehrsteilnehmer. Wir wollen sicher sein, dass die Kinder und Jugendlichen in unserem Land, wenn sie mit dem Fahrrad zur Schule oder zur Ausbildung fahren, gesund wieder nach Hause kommen, und dass sie die Freiheit haben, ihr Verkehrsmittel, das Fahrrad, zu wählen, statt aus Sicherheitsgründen darauf verzichten zu müssen. Es geht auch darum, dass der Arbeitsweg für die Erwachsenen, egal mit welchem Verkehrsmittel - ich denke hierbei auch an Fußgänger und Radfahrer  , sicher ist. 

Wir als Koalition wollen unter Punkt 5, dass beim Um- und Ausbau von Straßen und Radwegen die aktuell geltenden Richtlinien umgesetzt werden. - Noch so eine Binsenweisheit, ja, aber eine, die man gar nicht oft genug wiederholen kann, weil die Wirklichkeit zum Teil bizarrer ist als das, was sich ausdenken kann. 

Ich will Ihnen ein Beispiel aus meiner Heimatstadt Magdeburg nennen - Herr Meister grinst schon; er kennt es  : Wenn Sie sich morgen ins Auto setzen und nach Hause durch den schönen neuen Tunnel fahren, am Damaschkeplatz nach links abbiegen und in Richtung Süden auf die Tangente fahren, dann achten Sie einmal an der Ecke, wo das Autohaus steht, auf den Fahrradweg. Dort steht mitten auf dem Fahrradweg ein richtig breiter MVB-Mast. Wenn man sich nach der StVO verhält und auf dem Radweg bleibt, dann fährt man dagegen. 

(Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Der Mast muss weg! Abbauen! - Markus Kurze, CDU: Der dient dazu, dass die Radfahrer auch mal langsamer fahren! - Zuruf von den GRÜNEN)

- Das ist totaler Blödsinn. Herr Kollege Kurze, wenn Sie die Radfahrer zum Langsamfahren bewegen wollen, indem Sie sie an der Stelle vom Rad holen, dann weiß ich nicht, ob das der richtige Weg ist. 

Zurück zum Thema. Eine sichere Infrastruktur gilt übrigens für alle Verkehrsarten. Ich habe letztens tatsächlich jemanden gefunden, der der Meinung war, dass man nicht an allen Landesstraßen Radwege braucht. Ich habe ihn dann gefragt, ob er mir die Logik erklären kann, warum man eine sichere Straße braucht, damit Mama und Papa die Kids mit dem Auto heil zur Schule bringen können, aber keinen Radweg, damit die Kids das allein mit dem Fahrrad hinkriegen. 

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Die meisten Eltern, die ich kenne, sind froh um jeden Weg, den Söhnchen oder Töchterlein allein machen können. Elterntaxi spielt macht ja gern, aber das soll auch keine Lebensaufgabe werden. 

Das Zweite, was man neben einer sicheren Verkehrsinfrastruktur braucht, ist das Wissen darüber, wie man sich im Straßenverkehr zu bewegen hat. Sie können noch so viele Ampeln aufstellen - wenn man bei Rot über die Straße geht und umgefahren wird, nutzt einem die Ampel gar nichts. Wir wollen daher, dass die Verkehrsbildung für alle Altersgruppen gestärkt und weiter gefördert wird. 

Die Landesverkehrswacht, aber auch andere Akteure haben Angebote sowohl für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche. Als Beispiel seien die Jugendverkehrsschulen der Landesverkehrswacht genannt. Hier wird entsprechend den Lehrplänen für jede Klassenstufe ein Lehrplan entwickelt, welcher die Mobilitätsanforderungen der jeweiligen Altersstufe berücksichtigt. Kenntnisse und Mobilitätskompetenzen werden sowohl in stationären als auch in mobilen Jugendverkehrsschulen vermittelt. Es gibt ein theoretisches und ein praktisches Modell; so können alle entsprechend ihrem Alter von Klasse 1 bis Klasse 10 Kenntnisse darüber vermittelt bekommen, wie man sicher nach Hause kommt. 

Aber auch die Angebote für Erwachsene sind wichtig; denn es sind die Erwachsenen, die die meisten Unfälle verursachen. Und noch etwas: Die Erwachsenen tragen die Verantwortung. Wir können Kindern und Jugendlichen im Straßenverkehr das Thema Mobilität zwar näherbringen, aber wir können ihnen nicht die Verantwortung übertragen. 

Nebenbei bemerkt: Laut einer Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen belaufen sich die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten von Verkehrsunfällen auf ca. 30 Milliarden € pro Jahr. Die Prävention für Erwachsene ist deshalb genauso unverzichtbar wie die Verkehrsbildung von Kindern. Wir sind gerade mitten in den Haushaltsverhandlungen. Wenn man dadurch auch noch Geld sparen kann, ist das eine gute Sache. 

Das Dritte, das wir für die Vision Zero brauchen, ist eine zeitgemäße StVO. Wir wollen mit unserem Antrag erreichen, dass sich die Landesregierung auf der Bundesebene für eine Erweiterung der Formulierung in § 1 Abs. 2 der StVO um den Begriff Vision Zero einsetzt. Bisher findet sich der Begriff Vision Zero lediglich in der Verwaltungsvorschrift. Es heißt dort: 

„Die Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) regelt und lenkt den öffentlichen Verkehr. Oberstes Ziel ist dabei die Verkehrssicherheit. Hierbei ist die ‚Vision Zero‘ (keine Verkehrsunfälle mit Todesfolge oder schweren Personenschäden) Grundlage aller verkehrlichen Maßnahmen.“ 

Warum ist das so wichtig? - Das ist ja nur ein Gesetz, das sind erst einmal nur ein paar Blätter, auf denen das steht. Die StVO in ihrer jetzigen Fassung stammt aus den 70er Jahren. Sie galt übrigens auch für den Teil des schönen Landes, in dem wir uns heute befinden; es war zu DDR-Zeiten das Gleiche. Die Grundlagen dafür sind alle in den 70er Jahren gelegt worden. Damals war die Welt aber noch eine andere. 

Im Jahr 1975 gab es 18 Millionen bis 19 Millionen zugelassene Fahrzeuge, heute sind es fast 50 Millionen. Hinzu kommt, dass die Fahrzeuge immer größer, schwerer und schneller werden. In den Städten gibt es Parkdruck, der die Übersichtlichkeit im Straßenverkehr erschwert, übrigens besonders für Kinder. Sie kennen das alles. Das heißt, heute ist die Gefährdung im Straßenverkehr ungleich größer. 

In den 70er-Jahren mag es noch sinnvoll gewesen sein, dass die Flüssigkeit des Verkehrs Vorrang hatte, heute ist das Schutzbedürfnis vieler Verkehrsteilnehmer höher zu werten. Mich nervt es auch, wenn ich nicht zügig von A nach B komme, aber lieber langsam lebend landen als schnurstracks seinen Schädel schrotten. 

(Zuruf von der AfD)

Ich persönlich erhoffe mir von einer neuen StVO auch, dass die Kommunen mehr Handlungsspielraum dafür bekommen, ihre Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Es gibt an so vielen Stellen im Land Beispiele dafür, dass Bürgerinnen und Bürger Tempo 30 wollen oder einen Zebrastreifen oder ein Lkw-Durchfahrtsverbot wollen, aber die heilige StVO lässt das nicht zu. Das kann man niemandem erklären. Und deswegen muss man das ändern. 

(Beifall bei der SPD)

Der Pakt für Verkehrssicherheit als gemeinsame Strategie des Bundes, der Länder, der Kommunen, der Verbände und weiterer Akteure setzt sich im Einklang mit dem Strategischen Aktionsplan zur Verkehrssicherheit der Europäischen Kommission folgendes Ziel: Die Zahl der Verkehrstoten soll in Deutschland bis 2030 um 40 % reduziert und die Zahl der Schwerverletzten signifikant gesenkt werden. Der Bund, die Bundesländer und die Kommunen wollen geeignete Maßnahmen treffen, um in ihrem Zuständigkeitsbereich mit einer entsprechenden Reduktion der Getöteten- und Schwerverletztenzahl zur Zielerreichung beizutragen. Und, meine Damen und Herren: Dazu muss man sie auch lassen. 

Meine Damen und Herren! Eine der wirksamsten Maßnahmen für die Vision Zero wird eine technische sein. In der letzten Woche fand die Fachkonferenz des Landes zum autonomen Fahren statt. Ich hoffe, wir machen so etwas noch einmal; denn wir konnten daran nicht in aller Breite teilnehmen. Ich war kurz dort; es war sehr spannend. 

Eine der Erkenntnisse, die die Fachleute dort in die Diskussion geworfen haben - neben den ganzen technischen Fragen, was das kostet und was man dafür auf den Straßen braucht  , war: Wenn solche Fahrzeuge in einer relevanten Zahl auf den Straßen unterwegs sind, wird es automatisch weniger Tote geben; auch weil die Maschinen, also die selbstfahrenden Autos, selbst weniger fehleranfällig sind als Menschen, die sie steuern, aber auch, weil sich die Dinger einfach an die Verkehrsregeln halten, vor allem an die Höchstgeschwindigkeit. Wenn man hinter einem solchen selbstfahrenden Auto fährt und man hupt und drängelt - das interessiert das Auto einfach nicht, das fährt weiter mit 50 km/h oder mit 30 km/h - je nachdem, wie schnell man fahren darf. 

Nehmen wir einmal an, 10 % aller Fahrzeuge sind selbstfahrende Fahrzeuge, dann wird auch das ganze System geschwindigkeitskonformer. Das wäre für mich jetzt nicht der Hauptgrund, sich das autonome Fahren herbeizusehnen, aber es ist ein netter Nebeneffekt. 

Hier und heute bitte ich um Zustimmung zu unserem Antrag. Tragen Sie die Vision Zero mit. Tragen Sie die Verkehrspolitik dieser Koalition mit, und sorgen Sie dafür, dass es weniger Verkehrstote gibt. Sagen Sie einfach Ja zu einem guten Antrag. - Vielen Dank. 

(Beifall bei der SPD und bei der CDU - Zustimmung von Ministerin Dr. Lydia Hüskens - Tobias Rausch, AfD: Nein!)