Tagesordnungspunkt 5
Aktuelle Debatte
Wir brauchen Jede und Jeden - Bildungswende gegen den Fachkräftemangel!
Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/3066
Die Einbringung erfolgt durch die Antragstellerin, vertreten durch Herrn Lippmann. - Herr Lippmann, bitte schön.
Thomas Lippmann (DIE LINKE):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen Jede und Jeden! - Diese Überschrift, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht von mir, sondern das war die schlichte Erkenntnis, die die Finnen vor ca. 50 Jahren dazu gebracht hat, in der Bildungspolitik grundlegend und parteiübergreifend umzudenken.
In einem Schulfrieden, der seinen Namen verdiente, wurden dort Anfang der 1970er-Jahre mit breiter politischer und gesellschaftlicher Mehrheit die Weichen für die Schulen neu gestellt. 25 Jahre später, im Jahr 2000, als Deutschland seinen ersten PISA-Schock erlebte, waren die Finnen weltweit Spitzenreiter, und sie sind es bis heute.
Deutschland dagegen erlebte erst vor Kurzem einen zweiten Schock, als im Herbst des letzten Jahres im IQB-Bildungstrend die Rückschritte bei den Deutschkenntnissen in den Grundschulen auf den Tisch kamen. Vermutlich stehen wir gerade kurz vor dem nächsten Doppelschock.
(Jan Scharfenort, AfD: Doppelschock!)
Denn erst wird im Oktober der nächste IQB-Bildungstrend die Entwicklung in den Bundesländern in Deutsch und in den Fremdsprachen in der neunten Klasse offenlegen, bevor dann im Dezember die weltweiten Ergebnisse der neuesten PISA-Studie präsentiert werden. Alles spricht dafür, dass es für uns wenig zu feiern gibt.
(Zustimmung bei der LINKEN)
In Finnland mit seinen damals nicht einmal fünf Millionen Einwohnern war allen schnell klar, dass sie einfach Jede und Jeden brauchen, wenn sie als Gesellschaft und Ökonomie bestehen wollen. Jede und Jeder musste ein möglichst hohes Bildungsniveau erreichen, niemand durfte mehr im Bildungssystem ausgesondert und abgehängt werden.
(Zustimmung bei der LINKEN)
Wir dagegen leisten es uns schon viel zu lange, dass jedes Jahr tausende Kinder und Jugendliche in unseren Schulen scheitern. Klassenwiederholungen, Förderschulüberweisungen, Schulabgänge ohne Schulabschluss und abgebrochene Berufsausbildungen sind wie in kaum einem anderen Bundesland gerade bei uns kennzeichnend für das Schul- und Ausbildungssystem.
Ca. 50 000 Schulabgänge ohne Schulabschluss gibt es bundesweit, mehr als 2 000 waren es zuletzt bei uns und das jedes Jahr. Dieser mangelnde Bildungserfolg schadet den betroffenen Kindern und Jugendlichen massiv und verbaut ihnen bessere Perspektiven. Dadurch werden aber auch die ökonomischen Potenziale des Einzelnen und des Landes insgesamt beschnitten.
Der ausufernde Arbeitskräftemangel zeigt, dass auch wir inzwischen Jede und Jeden mit dem bestmöglichen Bildungsniveau brauchen, um unsere ökonomische Basis in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zu sichern. Und in der Tat wäre eine bessere Bildung von Anfang an und für alle ein entscheidender Beitrag gegen die wachsende Armut in unserer reichen Gesellschaft. Wer wollte dem Bundesfinanzminister an dieser Stelle widersprechen? Nur ist es von ihm eben nichts als hohles Geschwätz;
(Zustimmung bei der LINKEN - Kathrin Tarricone, FDP: Nein! - Jörg Bernstein, FDP: Oh!)
denn er tut nichts dafür und die Koalition tut nichts dafür, und zwar weder im Bund noch hier im Land. Denn anders als die Finnen halten wir weiter unbelehrbar an unseren bisherigen ineffizienten Bildungsstrukturen und vor allem an der massiven Unterfinanzierung des Bildungssystems fest. Von einer Bildungsrepublik ist weit und breit nichts zu sehen.
(Zustimmung bei der LINKEN)
Statt konsequent in das Bildungssystem und insbesondere in die individuelle Förderung zu investieren, damit Bildungsdefizite frühzeitig überwunden werden, sucht man die Lösungen für das Arbeitskräfteproblem immer wieder außerhalb des Bildungssystems. Es wird versucht, Arbeit dort preiswert einzukaufen, wo Qualifikation schon vorhanden ist und nicht erst kostenaufwendig geschaffen werden muss.
(Zustimmung bei der LINKEN)
So wird z. B. im Bildungsministerium gejubelt, weil 16 000 € für eine Lehrkraft vom Headhunter immer noch preiswerter sind, als die Lehrkraft selbst auszubilden. Der Seiteneinstieg für Lehrkräfte wird zum Normalfall und die Wochenarbeitszeit der vorhandenen Lehrkräfte wird durch Zwang ausgeweitet, weil das alles preiswerter ist, als die Lehramtsausbildung an den eigenen Universitäten bedarfsgerecht auszubauen und auszufinanzieren.
Statt in der Wirtschaft und in der Gesellschaft die dringend notwendige Debatte zu führen, wie sich Bildungschancen und damit Qualifikationen für alle verbessern lassen, wird vor allem kurzsichtig gefordert, Teilzeitarbeit einzuschränken und das Rentenalter noch weiter anzuheben. Und so wichtig es angesichts der demografischen Entwicklung auch ist, Arbeitsmigration zu erleichtern und auszuweiten, so darf dies nicht als Ersatz dafür herhalten, dass man sich weiterhin zu wenig um die Ausbildung derjenigen kümmert, die schon im Land sind, und zwar egal ob hier Geborene oder Migranten.
(Zustimmung bei der LINKEN)
Die Suche nach Lösungen muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden und das geht nicht mit einem Basta-Schulgipfel. Was ist uns zu Beginn des Jahres nicht alles vorgegaukelt worden. Mit einer verpflichtenden Vorgriffstunde, einem Arbeitszeitkonto und einem freien Personalbudget, mit Abordnungsprämien und mit Schul- und Digitalassistenten sollte die Lücke in der Lehrkräfteversorgung gestopft werden und alles sollte gut sein.
Doch die Realität ist mehr als ernüchternd. Lediglich in den Gymnasien und Gesamtschulen, also dort, wo die Probleme am kleinsten waren, konnte die Unterrichtsversorgung mit der Vorgriffstunde zumindest vorübergehend auf ca. 100 % verbessert werden.
Aber in den Schulen der Sekundarstufe I und teilweise in den Grundschulen herrscht trotz des ganzen Maßnahmepakets immer noch Land unter. Offiziell liegt die Unterrichtsversorgung in den Sekundarschulen noch immer bei nur 88 %. Aufgrund der ganzen bedarfsmindernden Maßnahmen sind das real nur ca. 75 %. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Desaster. Sollten die Klagen gegen die Vorgriffstunde Erfolg haben, dann haben wir hier nur noch ein Trümmerfeld.
Dem Bildungsministerium gleiten die Schulen der Sekundarstufe I aus den Händen. Es bleibt unklar, welche Reparaturmaßnahmen als nächste ergriffen werden, um diese Schulen noch zu retten. Die Zeche für die Schulpolitik der letzten 20 Jahre zahlen die Generationen von Schülerinnen und Schülern, die heute und noch mindestens in den nächsten zehn Jahren in unsere Schulen gehen. Und dies auch nur dann, wenn es jetzt die Einsicht und die Bereitschaft für eine echte Bildungswende gibt, die eine breite politische und gesellschaftliche Basis hat.
(Zustimmung bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Herr Lippmann, Sie nähern sich dem Ende Ihrer Redezeit.
Thomas Lippmann (DIE LINKE):
Das glaube ich nicht.
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Zehn Minuten.
Thomas Lippmann (DIE LINKE):
Die Uhr ist mehrfach hin- und hergesprungen.
(Olaf Meister, GRÜNE: Der Versuch war es wert! - Dr. Falko Grube: Aber wir wollen das nicht zur Gewohnheit werden lassen!)
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Wir haben um 13:35 Uhr begonnen und jetzt ist es 13:46 Uhr. Das kann also gar nicht sein.
Thomas Lippmann (DIE LINKE):
Das ist eine schwierige Geschichte.
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Möchten Sie noch einen Satz sagen? - Nein. Gut. Herr Bernstein hat eine Zwischenintervention. - Herr Bernstein, bitte.
Jörg Bernstein (FDP):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Kollege Lippmann, ich hatte die Gelegenheit, mit dem Finanzausschuss im vergangenen Frühsommer Finnland zu besuchen. Wir waren in Finnland, Herr Lippmann. Ich weiß nicht, ob Sie mich hören.
Thomas Lippmann (DIE LINKE):
Sie waren schlecht zu verstehen.
Jörg Bernstein (FDP):
Ich kann auch lauter sprechen. - Wir waren von vielen Dingen begeistert, unter anderem von der schulischen Versorgung. Aber auf einen Punkt, der uns alle überrascht hat, würde ich gern hinweisen. Wenn ich die Zahl richtig in Erinnerung habe, dann beträgt das Kindergeld in Finnland 95 € für das erste Kind. Sie verfolgen ein ganz anderes Konzept. Sie gehen nicht den Umweg über die Eltern.
(Beifall bei der CDU)
Wir diskutieren diesbezüglich gerade über die Kindergrundsicherung. Vielmehr wird im Sinne des Gedankens des persönlichen Einkommens direkt in die Kinder, sprich in dem Fall in die Schule investiert. Man darf also nicht immer Äpfel mit Birnen vergleichen. Das nur mal zu diesem Thema.
(Beifall bei der CDU)
Thomas Lippmann (DIE LINKE):
Wir müssen jetzt in der Frage nicht versuchen, einen Ablasshandel zu machen und das eine gegen das andere auszuspielen. Ich habe zu Finanzierungsfragen nichts gesagt, sondern ich habe insbesondere über Bildungsstrukturen gesprochen.
(Jörg Bernstein, FDP: Sie haben explizit von der Finanzierung gesprochen!)
Wer sich mit der Situation in Finnland usw. in den 70er-Jahren beschäftigt Ich habe vermieden, zu sagen, dass sie in der ehemaligen DDR waren, um sich das anzusehen. Dies ist aufgrund der kurzen Redezeit zu kurz gekommen.
Hierbei geht es einfach darum, dass man einen Konsens finden muss. In 14 Tagen findet ein Bildungsprotesttag statt. Nicht nur wir sprechen von einer Bildungskrise. Überregionale Medien sprechen nicht nur von einer Bildungskrise, sondern von einer Bildungskatastrophe. Es handelt sich also nicht um eine Dramatisierung unsererseits, sondern ganz maßgebliche Journale und Institutionen beklagen dies auf unterschiedliche Art und Weise.
Sie wissen selbst, wie breit das Bündnis ist, das zu diesem bundesweiten Bildungsprotest aufruft. Wir müssen das endlich ernst nehmen. Das ist das Votum. Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir sind in einer schlechten Situation und wir sind im Moment nicht auf dem Weg, dort herauszukommen, indem wir alles so weitermachen wie bisher. Konservatismus mag eine schöne Sache sein, wenn man etwas bewahrt, aber wenn er in eine schwierige, und zwar sehr schwierige Situation geführt hat, dann muss man die Kraft haben, dort herauszukommen.
Es gibt eine Einladung - das wissen Sie vielleicht - des Bündnisses zu einem Bildungsforum. Ich hoffe, dass diese Chance genutzt und nicht verspielt wird und man wirklich nach einem breiten gesellschaftlichen Konsens sucht und nicht einfach sagt, wir machen schon alles richtig. Nein, wir machen nicht alles richtig.
Ich habe Ihnen nicht einzelne Dinge vorgeworfen, sondern ich habe gesagt: Nehmt die Situation ernst.
(Jörg Bernstein, FDP: Das machen wir schon!)
Nein, das macht ihr eben nicht.
(Jörg Bernstein, FDP: Doch!)
Nein, ihr beklagt sie, aber ihr nehmt sie in eurem Handeln nicht ernst.
(Beifall bei der LINKEN)