Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):

Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Meine jüngste Tochter ist seit kurzer Zeit Gymnasiastin. Meinen Eindruck als Mutter einer Schülerin an einer weiterführenden Schule - Gymnasien sind ja bekanntlich die mit der guten Unterrichtsausstattung - möchte ich mit Ihnen teilen. 

Am Montag fiel von vier Blöcken einer aus, also zwei von acht Stunden, und von den übrigen sechs Stunden sind zwei ohnehin EVA, also eigenverantwortliche Ausbildung; da lernen die Schüler selber. Am Dienstag fielen zwei von vier Blöcken aus. Gestern, am Donnerstag, fand keine einzige Unterrichtsstunde wie geplant statt.

(Guido Kosmehl, FDP: Und Mittwoch?) 

Die Bildungskrise ist eine der größten Herausforderungen, die sich in unserem Bundesland stellt, und zwar an allen Schulen. Kern dieser Krise ist der Personalmangel an unseren Schulen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Diese Krise verstärkt den Fachkräftemangel. Deswegen danke ich für diese Aktuelle Debatte. Die Bekämpfung dieser Krise braucht ein Höchstmaß an politischem Willen, politischer Weitsicht und Durchsetzungskraft. Doch daran scheint es dieser Landesregierung zu fehlen. Anders lässt sich vieles nicht mehr erklären. Anstatt sich um wirkungsvolle Maßnahmen gegen den Lehrkräftemangel zu kümmern, startet die Bildungsministerin - Entschuldigung, das kann ich Ihnen nicht ersparen - mit dem Ablenkungsmanöver geschlechtergerechte Sprache in das Schuljahr. 

Aber wirklich gut geklappt hat das mit der Ablenkung nicht. Denn egal, wie Sie versuchen, den minimalen Anstieg der Unterrichtsversorgung positiv zu verkaufen, liebe Frau Feußner, ist es ein Armutszeugnis, dass es an Sekundarschulen nur eine Unterrichtsversorgung von ca. 88 % gibt, während diese an den Gymnasien bei 100 % liegt. Diese Versorgung ist, wie ich es gerade dargestellt habe und zu Beginn dieser Woche selbst eindrücklich erlebt habe, rein theoretisch.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung von Hendrik Lange, DIE LINKE) 

Jede Lehrerin, die kurz- oder langfristig krank ist oder sich weiterbildet, fehlt zusätzlich bei diesen 88 % oder 100 %. Sie haben an dieser Stelle schlichtweg Ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Vielleicht hätten Sie sich mehr damit auseinandersetzen sollen, wie der Lehrberuf attraktiver gestaltet werden kann, 

(Zustimmung von Sebastian Striegel, GRÜNE - Ministerin Eva Feußner: Ihr redet ihn doch immer schlecht!)

anstatt sich mit Sprachverboten an Schulen auseinanderzusetzen. 

Denn genau das muss man tun, wenn man den Lehrkräftemangel an der Wurzel packen möchte, wenn der Anspruch nicht bloß ist, Symptome zu managen, sondern Ursachen anzugehen. Dafür braucht man vor allem zwei Dinge: Wir müssen endlich die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte verbessern und die Lehrkräfteausbildung reformieren.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Um die Arbeitsbedingung zu verbessern, braucht es natürlich finanzielle Anreize, besonders für die Lehrerstellen an Schulen und in Regionen, die schwer zu besetzen sind. Aber ein besseres Gehalt durch Sonderzuschläge ist nicht alles. Lehrkräfte müssen von allen Aufgaben entlastet werden, die nichts mit dem Unterrichten zu tun haben. Erste Schritte sind gegangen worden. Aber wir brauchen mehr Schulpersonal, wie Schulsozialarbeiterinnen, Schulpsychologen, Digitalcoaches, IT-Fachkräfte, Verwaltungspersonal usw. 

(Zuruf von Angela Gorr, CDU)

Natürlich braucht der Lehrerberuf auch ein besseres Image. Es geht nicht um Schlechtreden, sondern es hilft nicht, wenn man mit der Einführung der Vorgriffsstunde das gesellschaftliche Bild der faulen Lehrerin, die auch einfach einmal eine Stunde länger arbeiten kann, ausgerechnet als Landesregierung bedient. Ich bin gespannt auf das Ergebnis des Gerichtsverfahrens der Lehrkräfte, die mit gutem Recht gegen diese Regelung geklagt haben. Ich frage mich, ehrlich gesagt, auch ernsthaft, wie Sie mit der Entlassung von Lehrkräften, die sich gegen diese Vorgriffsstunde und das von Ihnen befeuerte Bild von Lehrkräften wehren, wie Sie mit der Entlassung auch nur einer einzigen Lehrkraft aus solchen Gründen den Lehrkräftemangel lösen wollen.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN) 

Auch das Lehramtsstudium in Sachsen-Anhalt gehört auf den Kopf und neu aufgestellt. Das Lehramtsstudium braucht mehr Praxis, auch unabhängig davon, ob man dual studiert oder nicht. Gleichzeitig müssen wir uns die Frage stellen, wie sinnvoll es z. B. ist, dass eine Mathe-Lehramtsstudentin auf demselben Niveau Mathematik studiert wie eine Mathematikstudentin, deren Ziel das wissenschaftliche Studium und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Mathematik ist.

Dass viele Lehramtsstudierende dann sagen, das schaffe ich nicht, das breche ich ab, kann ich, ehrlich gesagt, persönlich nachvollziehen. Das Lehramtsstudium muss an den Menschen orientiert sein, die im Mittelpunkt des Schulsystems stehen, nämlich an den Schülerinnen. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Bis dato ist das Lehramtsstudium entlang von Schulformen, an denen die Lehrkräfte später unterrichten wollen oder sollen, organisiert. Aber Lehrkräfte unterrichten eben Schülerinnen und keine Schulformen. Mit Blick auf die Herausforderungen brauchen wir auch flexibel einsetzbare Lehrkräfte. Auch deswegen gehört das Lehramtsstudium neu strukturiert.

Selbstverständlich gehören für eine ausreichende und gute Bildung und Unterrichtsversorgung in Sachsen-Anhalt alle an Bord. Die andauernde Benachteiligung der freien Schulen in unserem Land, die inzwischen mehrfach gerichtlich bemängelt wurde, muss aufhören. Freie Schulen tragen einen wichtigen Anteil an der Bildung unserer Kinder in den unterschiedlichen Schulformen, ungefähr 10 %. Es wird Zeit, diesen Anteil wertschätzend und auf Augenhöhe anzuerkennen und angemessen zu vergüten.

(Zustimmung von Andreas Silbersack, FDP)

Aber eine wirkliche Bildungswende braucht mehr als nur den Blick auf den Lehrkräftemangel. Es braucht weiterreichende Reformen und den Mut zur Veränderung. Denn wir müssen das Zweiklassensystem in unserer Bildungslandschaft abbauen. Ich weiß, wir sind uns darin nicht einig, aber ich finde, wir sollten stattdessen den Fokus auf Gemeinschaftsschulen legen, in denen alle Kinder - ich meine wirklich alle Kinder - dieselben Bildungschancen haben und in einem Ganztagsschulsystem individuell gefördert werden können, und zwar in einem Ganztagsschulsystem, in dem das Recht auf schulische Bildung genauso viel wert ist wie die informelle Bildung, die Freizeitgestaltung und auch die Erholung. Eine Schule, in der längeres gemeinsames Lernen im Vordergrund steht. Eine Schule, die der Vielfalt unserer Gesellschaft gerecht wird. Eine Schule, in der Digitalisierung und digitale Bildung als Chance statt als Herausforderung begriffen werden. Das ist die Vision, die wir für die moderne Schule von morgen haben.

(Guido Kosmehl, FDP: Mit oder ohne Noten?)

Eine Schule, die von Gerechtigkeit und hoher Bildungsqualität geprägt ist. Natürlich kann das alles nicht von heute auf morgen passieren. Deswegen ist es wichtig, dass wir die Sekundarschulen in Sachsen-Anhalt stärken, und zwar so stärken, dass sie eine attraktive Alternative zum Gymnasium sind. Denn das sind sie aktuell einfach nicht, weil Eltern dort schlechtere Bildungschancen für ihre Kinder sehen, und nicht, weil sie alle unbedingt ein Abi haben sollen, sondern weil sie insgesamt schlechtere Bildungschancen für ihre Kinder an den Sekundarschulen sehen, und zwar auch und vor allem aufgrund des Lehrkräftemangels, der besonders die Sekundarschulen trifft. Dass Eltern das Beste für ihre Kinder wollen, können wir wohl alle nachvollziehen und auch niemandem vorwerfen. 

Gleichzeitig müssen wir die bereits existierenden Gemeinschaftsschulen besser unterstützen und anderen Schulen ermöglichen, sich zu Gemeinschaftsschulen weiter zu entwickeln. 

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN)

Denn auch sie können eine attraktive Alternative zum Gymnasium sein. 

Damit alle Kinder in Sachsen-Anhalt die Chance auf einen Schulabschluss und damit auf ein selbstbestimmtes und selbstgestaltetes Erwachsenenleben haben, brauchen wir eine grundlegende Wende beim Thema Inklusion: mehr statt weniger gemeinsamer Unterricht in Regelschulen, Förderschule ab- statt ausbauen und auf die wenigen Fälle begrenzen, in denen nicht die Not der mangelnden Inklusionsunterstützung an der Regelschule der einzige Grund für die Sonderbeschulung ist. 

(Zuruf von Angela Gorr, CDU) 

Inklusive Beschulung ist das verbriefte Recht der Schülerinnen. Sie zu organisieren ist Pflicht unseres Schulsystems. Das ist herausfordernd; das gebe ich zu. Aber diese Herausforderung entbindet uns nicht von der Pflicht.

(Beifall bei den GRÜNEN)
 
Wir müssen das frühe Sortieren unserer Kinder nach der vierten Klasse beenden. Bei Kindern im Alter von zehn bis elf Jahren - ich habe gerade einen solchen Steppke zu Hause - die individuelle Entwicklung und Leistungsfähigkeit, die soziale Entwicklung und den Lerneifer für die nächsten sechs bis acht Jahren so sicher vorhersagen zu wollen, dass man daraus verbindlich die Schullaufbahn ableiten könnte, ist entwicklungspsychologisch totaler Unsinn, ganz abgesehen davon, dass es den meisten Grundschullehrerinnen an der Zeit fehlen dürfte, ihre Schülerinnen so individuell und einzeln entwicklungspsychologisch begutachten zu können. Wenn es keine wissenschaftliche, sondern nur eine funktionale Grundlage hat, ist das Sortieren in der vierten Klasse absurd. 

(Zustimmung von Olaf Meister, GRÜNE) 

Deswegen sollte die Grundschulphase wenigstens bis zur sechsten Klasse verlängert werden, um den Kindern wenigstens ein paar Jahre mehr Zeit zu geben, sich zu entwickeln, und ihnen im Übrigen die Möglichkeit zu geben, sich auch selbst mehr in den Entscheidungsprozess über ihren späteren Bildungsweg einzubringen. Das ist nur fair; schließlich ist das eine Entscheidung, die maßgeblich ihre eigene Zukunft beeinflussen wird. 

Ja, gegen den Fachkräftemangel müssen wir auch Ausbildungsberufe attraktiver machen, und zwar mit grundsätzlicher Schulgeldfreiheit und attraktiver Ausbildungsvergütung. Die Qualität der Ausbildung muss gesteigert werden und es braucht spannende Aufstiegsperspektiven für all diejenigen, die sich für einen Ausbildungsberuf entscheiden. Auch daran fehlt es an vielen Stellen. Dabei sind neben dem Land vor allem die Unternehmen gefragt. Natürlich müssen dabei auch die Berufsschulen in den Fokus genommen werden. 

Wir müssen Bildung in Sachsen-Anhalt neu denken. Egal ob es um Schule, Ganztag oder Ausbildung geht - wir brauchen endlich den Mut für fundamentale Veränderungen. Denn Bildung ist mehr als das Verwalten von Lehrkräftemangel. Das kann uns nur gelingen durch moderne Konzepte, die wir gemeinsam mit allen Beteiligten entwickeln. Es gilt weiterhin: Wer an der Bildung spart, der spart an der Zukunft unserer Kinder und damit an der Zukunft unseres Landes. - Vielen Dank. 


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Frau Sziborra-Seidlitz, es gibt eine Frage von Frau Feußner. - Ja, okay. - Frau Feußner, bitte. 


Eva Feußner (CDU): 

Frau Sziborra-Seidlitz, Sie haben jetzt ein Plädoyer für die Gemeinschaftsschulen gehalten. Sie haben eben erläutert, dass Sie Ihr Kind auf ein Gymnasium geschickt haben. Wenn Sie die Gemeinschaftsschule so in den Vordergrund stellen, dann stellt sich die Frage, warum Sie Ihr Kind nicht auf eine Gemeinschaftsschule gegeben haben. - Das war die erste Frage. 

Zweite Frage. Sie haben gesagt, das längere gemeinsame Lernen fördert einen besseren Schulabschluss der Schülerinnen und Schüler bzw. fördert auch dahin gehend, dass Schüler die Schule nicht zwangsläufig ohne Schulabschluss verlassen. 

Ist Ihnen die entsprechende Statistik bekannt? Herr Lippmann fragt sie regelmäßig mithilfe von Kleinen Anfragen ab. Wir beantworten sie auch. Die Statistik besagt - ich lasse die Förderschulen heraus  , dass im Vergleich zwischen Sekundarschulen und Gemeinschaftsschulen in unserem Land mehr Schüler und Schülerinnen ohne Schulabschluss aus den Gemeinschaftsschulen kommen als aus den Sekundarschulen.

Dritte Frage. Sie haben von einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Lehrkräfte gesprochen. Was haben Sie konkret damit gemeint?


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding: 

Machen Sie es sich bitte nicht zur Gewohnheit, drei Fragen in eine Nachfrage zu packen. - Frau Sziborra-Seidlitz, bitte. 


Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE): 

Ich rolle das in aller Kürze von hinten auf. Zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte. Ich war in den letzten Wochen, auch in den Sommerferien, viel in den Schulen unterwegs. Viele Lehrerinnen und Lehrer sind unzufrieden. Sie sind unzufrieden mit dem Druck, unter dem sie stehen. Sie sind unzufrieden mit der hohen Arbeitsbelastung. Sie sind aber auch unzufrieden mit dem gesellschaftlichen Bild, das von ihnen gezeichnet wird, indem man so tut, als wäre es easy peasy, eine Stunde mehr zu arbeiten. Das ist das eine. 

Zu der Frage der Schulabschlüsse. Danke für den Hinweis; das schaue ich mir noch einmal genau an. Darüber muss man reden. Aber auch Gemeinschaftsschulen haben keine besonders gute Unterrichtsausstattung. Das wird auch ein Teil des Problems sein. 

Und zu der ersten Frage: Das liegt daran, dass die Gemeinschaftsschulen in Sachsen-Anhalt schlichtweg nicht so verbreitet sind. Die Erreichbarkeit der nächstgelegenen Gemeinschaftsschule, die für uns infrage käme, ist einfach nicht so gut, dass das für meine Tochter infrage kommt.

(Eva Feußner, CDU: Das stimmt nicht!)

- Doch.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)