Tagesordnungspunkt 4

Aktuelle Debatte

Mobilität für Alle - Gewinn für Alle

Antrag Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drs. 8/2692


Die Redezeit je Fraktion beträgt zehn Minuten. Die Landesregierung hat ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten. Es wurde folgende Redereihenfolge vereinbart: GRÜNE, SPD, AfD, CDU, DIE LINKE und FDP. 

Zunächst hat die Antragstellerin das Wort. Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht das Mitglied des Landtages Cornelia Lüddemann. - Sie haben das Wort. 


Cornelia Lüddemann (GRÜNE): 

Vielen Dank dafür, Herr Präsident. - Sehr geehrte Kolleginnen Abgeordnete! Was macht eine lebenswerte Stadt aus? - Sicherlich hat jeder seine persönlichen Highlights, aber für die allermeisten Menschen macht sich eine hohe Aufenthaltsqualität an Ruhe, Platz zum Erholen, Möglichkeiten zum Shoppen, der Gaststättennutzung oder Ähnlichem fest, 

(Kathrin Tarricone, FDP: Bei uns ist das so!)

wenn man ohne Angst über die Straße kommt oder mit dem Rad unterwegs sein kann, wenn Kinder draußen spielen können und der Nahverkehr pünktlich und regelmäßig funktioniert. 

(Frank Bommersbach, CDU: In unserem Dorf ist das so!)

In einer lebenswerten Stadt gibt es selbstverständlich auch Autoverkehr, aber konzentriert an bestimmten Stellen und auf ausgewiesen Flächen und das Auto hat nicht das Primat und ist nicht automatisch immer und überall in Vorfahrt. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Kurz: Die lebenswerte Stadt ist nicht mehr die autogerechte Stadt, sondern eine Stadt, die dem Umweltverbund Vorrang eingeräumt, also dem Zufußgehen, dem Radfahren und der Nutzung des ÖPNV, dem Nahverkehr. 

Ein zentrales Mittel, um dem Umweltverbund Priorität einzuräumen, ist Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Städten. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das führt zu mehr Verkehrssicherheit und schont die Umwelt. 

Die Reduzierung der Unfallfolgen durch niedrigere Geschwindigkeiten ist enorm und sehr beeindruckend. Prallt ein Fahrzeug mit 50 km/h auf einen Fußgänger, entspricht der Unfall einem Sturz aus 10 m Höhe und die Überlebenschancen des Fußgängers liegen bei 30 %. Fährt das Auto hingegen 30 km/h, entspricht die Kollision einem Sturz aus 3,5 m Höhe und die Überlebenschance steigt sofort auf 90 %. Dies ist eine sachlich begründete Tatsache. Die Frage zwischen Tempo 50 und Tempo 30 ist tatsächlich eine Frage zwischen Leben und Tod. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wer getötete Menschen im Straßenverkehr nicht hinnehmen will und wer nicht akzeptieren will, dass so etwas Kollateralschäden unserer autozentrierten Mobilität sind und das Straßen Gefahrenräume für Leib und Leben, und zwar insbesondere für diejenigen, die am Umweltverbund teilnehmen, darstellen, der kann gar nicht anders, als für Tempo 30 in Städten zu sein. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Steigerung der Verkehrssicherheit und die Minimierung von Umweltfolgen sind dringend geboten. Schauen wir uns die aktuelle Verkehrsunfallbilanz für das Jahr 2022 an, dann müssen wir bestürzt feststellen, dass die Zahl der Getöteten dramatisch zugenommen hat. Insgesamt wurden 152 Menschen auf unseren Straßen aus dem Leben gerissen. Diese Zahl ist leider schon länger auf diesem traurig hohen Niveau. 

Es ist beängstigend, zumal es 35 Menschen mehr sind als im Jahr 2021 und 15 Menschen mehr als im Jahr 2019. Die Zahl der getöteten Radfahrenden hat sich mehr als verdoppelt, und zwar von zehn auf 22. 

Sie haben vielleicht in der gestrigen Ausgabe der „Mitteldeutschen Zeitung“ einen wirklich sehr berührenden Bericht über jemanden gelesen, der sich an alle Regeln gehalten hat und der sich sehr konform mit Helm und allem ausgestattet hat und, weil es keinen Radweg gab, zu Tode kam. So etwas müssen wir verhindern. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ihnen ist vielleicht auch aufgefallen, dass an vielen Kreuzungen und Querungen und ähnlichen Hotspots der Verkehrsunsicherheit weiße Fahrräder stehen. Jedes dieser weißen Fahrräder steht für einen getöteten Radfahrenden. Das ist eine schaurige Angelegenheit. 

Zudem müssen wir feststellen, dass besonders Ältere häufig verunglücken. Die Zahl der über 75-Jährigen, die zu Tode gekommen sind, hat sich verdreifacht. Das ist eine traurige Angelegenheit für Bekannte, Familien und am Unfall Beteiligte, aber auch mich als Mobilitätspolitikerin macht es traurig und macht es wirklich betroffen. 

Ich bin Lobbyistin des Umweltverbundes. Dazu stehe ich. Deswegen stehe ich hier und ich leide wirklich mit jedem einzelnen Fall. Mit jedem im Verkehr verstorbenen Menschen entfernen wir uns zudem immer weiter von der hier im Hohen Haus beschlossenen Vision Zero, also der Vision, null Verkehrstote in Sachsen-Anhalt zu haben. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das Ziel des Landesradverkehrsplans, Fahrradland 2030 zu werden, schwindet am Horizont. 

Die genannten Zahlen lassen sich auch nicht allein mit der hohen Anzahl von Autobahnkilometern erklären. Vielleicht ist der ADFC-Fahrradklimatest ein Teil der Erklärung; denn darin ist absehbar, dass mit der Anzahl der Verunglückten und Verstorbenen im Radverkehr auch das Sicherheitsgefühl der Radfahrenden schwindet und schwindet. 

Im Jahr 2020 gaben 66 % der Radfahrenden an, dass sie sich unwohl fühlen, dass sie im Radverkehr unsicher sind. 

(Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Ich fühle mich auch unsicher in Ihre Nähe!)

Im gerade erst veröffentlichten Bericht waren es bereits 75 %. Ich finde, dies ist ein absolut inakzeptabler Wert, und zwar nicht nur für Mobilitätspolitikerinnen und Mobilitätspolitiker. 

Es kann doch nicht sein, dass sich Menschen, die auf dem Rad unterwegs sind, unsicher fühlen, dass sie also immer häufiger zu Hause bleiben und dass sie ihre Kinder nicht auf das Rad lassen. 

(Zuruf von der AfD: Das ist doch nur ein Gefühl!)

Ich möchte, dass sich immer mehr Menschen dafür entscheiden können, den Umweltverbund sicher zu nutzen. Dafür brauchen wir aber mehr und bessere Radwege. Wir brauchen Protected Bike Lanes. Wir brauchen Fahrradstraßen. Wir brauchen Mobilitätsstationen und natürlich auch mehr und bessere Fußgängerwege und einen verfügbaren Nahverkehr. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Aber lassen Sie uns heute bei Maßnahmen bleiben, die wir schnell, kostengünstig und nach dem Willen der Menschen umsetzen können. Ein ganz wesentlicher Punkt, um mehr Sicherheit im Straßenverkehr zu schaffen, die Aufenthaltsqualität zu erhöhen, die Städte für neue Nutzungen zu öffnen und Klimaschutz zu betreiben, ist die verringerte Regelgeschwindigkeit. 

Das ergibt sich ebenfalls aus dem Fahrradklimatest; denn ein Hauptaspekt der gefühlten Unsicherheit im Verkehr ist das Fahren im sogenannten Mischverkehr. 

In der Verkehrsunfallbilanz wird festgestellt, dass sich die meisten schweren Fälle zudem aufgrund von unangepasster Geschwindigkeit ereignen. Reden wir doch einmal Klartext: Unangepasste Geschwindigkeit bedeutet in den allermeisten Fällen: zu schnell gefahren.

Der Ruf nach Tempo 30, ein wesentlicher Beitrag zu Verkehrssicherheit und Klimaschutz, kommt übrigens im Wesentlichen von den Kommunen. 

(Zustimmung von Dr. Heide Richter-Airijoki, SPD)

Mit Stand vom 26. Mai dieses Jahres unterstützen 742 Kommunen die Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“. In diesen Kommunen wohnen 31 Millionen Menschen, und es sind Bürgermeisterinnen und Bürgermeister aller Parteien, die diese Gemeinden anführen. Das sind kleine Gemeinden, große Gemeinden, Gemeinden im städtischen Raum, im ländlichen Raum - das ist also völlig unterschiedlich, das ist parteipolitisch ungebunden. Den Menschen dort geht es um die Sache. Dabei geht es schlicht und ergreifend darum, die eigene Autonomie zurückzugewinnen, selbst zu entscheiden, weil man eben seine eigene Kommune kennt und weiß, wo Tempo-30-Zonen festgelegt werden sollen. 

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Im Grundgesetz ist nicht umsonst die kommunale Selbstverwaltung verbrieft, und nichts anderes wollen diese Kommunen, als selbst zu entscheiden, wo sie welche Art der Mobilität vorantreiben wollen.

(Tobias Rausch, AfD: In den Kommunen wollen alle Tempo 30 fahren? Wer glaubt denn diesen Mist?) 

Ich kann mir schon vorstellen, wie Sie dazu stehen. Ich höre ja am Rande Ihre Zwischenrufe. So wie bei der Parkraumbewirtschaftung werden Sie vermutlich auch hierbei den Kommunen das Selbstverwaltungsrecht absprechen. Ich finde, das ist der falsche Weg. 

(Zuruf von Andreas Silbersack, FDP)

Ich kann nur an Frau Ministerin Hüskens appellieren, dass sie sich im Bundesrat dafür einsetzt, auf die Kommunen zu hören. 

(Guido Kosmehl, FDP: Aber es gibt doch 58 Millionen Einwohner, die das nicht teilen!) 

Hören Sie auf die Hohe Börde, auf Lutherstadt Wittenberg, auf Dessau-Roßlau, Berga, Brücken-Hackpfüffel, Edersleben - ich könnte noch viele Gemeinden aus Sachsen-Anhalt aufzählen, die Teil dieser bundesweiten Bewegung sind. Sie wollen mehr eigene Entscheidungskompetenz, damit unsere Straßen sicher werden und wir mehr Klimaschutz betreiben. 

(Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Aha, Klimaschutz!)

Um Sicherheit und Fahrradnutzung zu stärken, liegen auch noch andere Maßnahmen auf dem Tisch, die ich nur kurz nennen will. Wir brauchen z. B. eine verstärkte Mobilitätsbildung. Die Fahrradprüfung muss intensiver vorbereitet werden. Die Kinder müssen an die sichere Nutzung des ÖPNV herangeführt werden. Ich kann nur dringend empfehlen, enger mit der Landesverkehrswacht und den Fahrschulen im Land zusammenzuarbeiten, um tatsächlich präventiv wirken zu können. Ich will als Beispiel an die Dooring-Unfälle erinnern, also an Fälle, in denen jemand ohne zu gucken die Tür aufmacht und ein Radfahrer dagegenknallt. Das sind Dinge, die vermeidbar sind. 

(Zustimmung bei den GRÜNEN und von Eva von Angern, DIE LINKE)

Und last, but not least: Der Verkehrssicherheitsbeirat des Landes ist dringend zu reaktivieren; denn das ist der Ort, wo Häuser übergreifend, als vom Innenministerium, vom Verkehrsministerium, im Zweifel vom Bildungsministerium etc., an dem Thema Verkehrssicherheit gearbeitet werden muss. 

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Es ist wirklich nicht zu akzeptieren, dass dieses Gremium seit 2018 nicht mehr getagt hat. Hier braucht es einen klaren Neustart, das ist überfällig. 

Zum Abschluss, geehrte Kolleginnen und Kollegen: Nur mit der Vision Zero, nur mit einem starken Umweltverbund verwirklichen wir Mobilität für alle, die dann auch ein Gewinn für alle in Sachsen-Anhalt ist. - Vielen Dank. 

(Beifall bei den GRÜNEN)


Vizepräsident Wulf Gallert: 

Dann haben wir jetzt die Möglichkeit, die angezeigten Interventionen abzuarbeiten. 

(Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: O nein, bitte nicht!)

Es beginnt mit Herrn Scharfenort.

(Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Okay, der darf! - Lachen bei der AfD)

- Herr Büttner, wer hier darf oder nicht, das obliegt mir und nicht Ihnen. - Herr Scharfenort, Sie haben das Wort. Bitte sehr. 


Jan Scharfenort (AfD): 

Frau Lüddemann, ich muss Sie leider berichtigen; denn Sie haben hier schon wieder Klimaschutz und die Senkung von 50 km/h auf 30 km/h als eine Senkung von Schadstoffen verkaufen wollen. Das ist faktischer und physikalischer Unsinn. 

(Zuruf von Olaf Meister, GRÜNE)

Ein Kraftfahrzeug verbraucht bei 30 km/h auf der gleichen Fahrstrecke mehr als bei 50 km/h. 

(Dr. Katja Pähle, SPD, lachend: Logisch, fährt ja länger! - Lachen bei und Zurufe von den GRÜNEN) 

Wenn Sie also den Schadstoffausstoß erhöhen möchten, dann machen Sie das bitte. Noch weiter können Sie ihn erhöhen, wenn Sie dann noch diese unsinnigen Hindernisse in den Weg stellen. 

(Unruhe bei den GRÜNEN)

Dann haben wir noch Bremsvorgänge und damit noch mehr Feinstaubproduktion. Also nur weiter so! Ihre Energiewende ist: Armut produzieren und am Ende noch mehr Schadstoffe produzieren. 


Vizepräsident Wulf Gallert: 

Wenn Sie wollen, können Sie reagieren. 


Cornelia Lüddemann (GRÜNE): 

Ich bin dankbar für solche Kurzinterventionen; denn sie entlarven die AfD, die einfach von nichts eine Ahnung hat, 

(Beifall bei den GRÜNEN)

wenn es nicht um Rassismus oder um Ausgrenzung von Minderheiten geht.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN und bei der SPD - Tobias Rausch, AfD: Sie haben keine Ahnung! - Zuruf von Eva von Angern, DIE LINKE)


Vizepräsident Wulf Gallert: 

Gut, dann sind wir bei der nächsten Intervention. Herr Heuer.


Guido Heuer (CDU): 

Danke. - Sehr geehrte Kollegin Lüddemann, der Beginn Ihrer Rede hat Sie eigentlich als das entlarvt, was Sie sind: eine Klientelpartei. 


Cornelia Lüddemann (GRÜNE): 

Klar, das sind wir.


Guido Heuer (CDU): 

Jetzt bin ich erst einmal dran, dann können Sie mir antworten. 

(Sebastian Striegel, GRÜNE: Ja, wir ergreifen Partei für Menschen!) 

- Ja, Herr Striegel halten sie doch mal den Mund und hören Sie einfach zu. 

(Lachen und Beifall bei der AfD - Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Jawohl!)

Sie haben als ersten Satz gesagt: Was macht eine lebenswerte Stadt aus? Daran haben Sie wieder klar und deutlich gemacht, dass Sie der ländliche Raum überhaupt nicht interessiert. 

(Beifall bei der CDU, bei der FDP und bei der AfD)

Als Zweites habe ich eine Frage, weil Sie sich immer einseitig gegen die Autofahrer wenden: Sind Radfahrer eigentlich Verkehrsteilnehmer und haben sich auch Radfahrer an Verkehrsregeln zu halten? Oder warum überholen Radfahrer regelmäßig rechts?

(Sebastian Striegel, GRÜNE: Das dürfen sie an bestimmten Stellen! - Unruhe) 


Vizepräsident Wulf Gallert: 

Dann können Sie auch darauf reagieren. 


Cornelia Lüddemann (GRÜNE): 

Ich kann Ihnen jetzt noch einmal ein paar Beispiele für Gemeinden, für Städte nennen, die Tempo 30 unterstützen: 

(Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Er hat doch eine ganz andere Frage gestellt!) 

Brücken-Hackpfüffel, Berga, Kelbra, Petersberg, Witten, Thale, Lühe - 

(Zuruf von Matthias Büttner, Staßfurt, AfD)

all das ist ländlicher Raum. Auch im ländlichen Raum - du kennst ja den Landesentwicklungsplan, du kennst die zentralen Orte - würde es eine immense Steigerung der Aufenthaltsqualität bedeuten, wenn wir Tempo 30 hätten. 

(Guido Kosmehl, FDP: Damit sind wir wieder bei Ortsumfahrungen!) 

Und natürlich müssen sich Rad Fahrende - das ist überhaupt keine Frage - wie zu Fuß Gehende auch an die Verkehrsregeln halten, selbstverständlich. 

(Beifall bei den GRÜNEN)