Tagesordnungspunkt 18

Beratung

Wirksame Präventionsangebote vermeiden Jugenddelinquenz

Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/2639


(Hendrik Lange, DIE LINKE: Ich dachte, 19!)

- Ja. Wir haben aber gestern die Tagesordnungspunkte 18 und 20 getauscht.

(Hendrik Lange, DIE LINKE, tritt vom Rednerpult ab)

Wenn Sie auf die aktuelle Tagesordnung gucken,

(Cornelia Lüddemann, GRÜNE: So steht es im Plan!)

dann sehen Sie   ich nehme an, das hat die Landtagsverwaltung gemacht  , es wurde als Tagesordnungspunkte 18 und 19 einsortiert.

(Ulrich Siegmund, AfD: Aufpassen!)

Deswegen würde ich vorschlagen, dass wir jetzt, wie es auf dem ausgehändigten Zeitplan aufgeschrieben wurde, mit Tagesordnungspunkt 18 weitermachen, wenn das in Ordnung ist.

(Cornelia Lüddemann, GRÜNE: So ist es verabredet!)

- So ist es verabredet, genau. Deswegen. Nur weil Herr Lange hier eben stand. Jedenfalls behandeln wir jetzt Tagesordnungspunkt 18. Einbringen wird den Antrag Frau von Angern. - Frau von Angern, bitte.


Eva von Angern (DIE LINKE):

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich wäre auch flexibel gewesen, aber Sie haben natürlich recht, wir haben eine Reihenfolge bestimmt.

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordneten! In den Mittelpunkt des vorliegenden Antrags meiner Fraktion haben wir ausdrücklich die Frage nach einer wirksamen Prävention zur Vorbeugung von Jugendgewalt gestellt. Es ist mir wichtig, das an den Beginn zu stellen. Ich rede hier zwar auch als Rechtspolitikerin, aber nicht nur. Wir hätten auch zu zweit hier stehen können. Gehen Sie davon aus, es ist ein Querschnittsthema.

Es geht uns um notwendige Präventionsangebote für Kinder und Jugendliche, um Jugenddelinquenz von vornherein möglichst auszuschließen und im Idealfall verhindern zu können.

Denn wenn ein Fall bei der Polizei oder bei der Justiz landet, ist es tatsächlich meistens schon zu spät. Das bedeutet, dass nur eine frühe und vor allem erfolgreiche Prävention ein Fehlverhalten, Straftaten und damit Jugendkriminalität verhindern bzw. eindämmen kann. Das ist unser Ziel. Präventive Maßnahmen und ein System der frühen Hilfen eröffnen die Chance, Gefährdungspotenziale gar nicht erst aufkommen zu lassen bzw. sie so rechtzeitig zu erkennen und anzugehen, dass etwaige Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen vermieden oder eben auch abgeschwächt werden können.

Das alles kann nur gelingen - das ist uns sehr, sehr wichtig  , wenn alle Beteiligten, d. h. Eltern, Schule, Kinder- und Jugendhilfe, Jugendämter, Polizei und Justiz eng miteinander kooperieren und dabei versuchen, den Prozess gemeinsam zu tragen.

Meine Damen und Herren! Jugenddelinquenz hat sehr unterschiedliche und sehr vielfältige Ursachen. Niemand kommt kriminell auf die Welt. Das ist eine Binsenweisheit. Mit Blick auf etliche Studien lässt sich sagen, dass Jugendkriminalität und Jugendgewalt vor allem eine Ursache hat, und zwar soziale Ursachen.

Unsere Gesellschaft selbst schafft also den Boden und die Rahmenbedingungen für ein derartiges Verhalten. Diese Einsicht tut weh, aber wir müssen uns ihr stellen. Es gilt also beim Zustandekommen von Jugendkriminalität einen Blick auf Folgendes zu haben: Wie sehen die Perspektiven aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen aus? Wie sieht die Situation im Elternhaus aus - haben wir eine Vernachlässigung? Wie ist das soziale Umfeld aufgestellt? Welche Schwierigkeiten gibt es dort? Welcher Leistungsdruck findet statt, nicht nur im familiären, sondern auch im schulischen Umfeld? Wie hoch ist die Frustrationstoleranz ist? Dabei geht es immer um das Individuum. Wie sind die Zukunftsperspektiven? Wie hat Prävention möglicherweise schon stattgefunden?

Aufgrund dieser diversen Ursachen müssen eben auch die Präventionsmaßnahmen sehr vielfältig ansetzen und   das ist wichtig   vor allem frühzeitig ansetzen. Neben Elternhaus und Schule ist insbesondere die Kinder- und Jugendhilfe hierbei in der Verantwortung, einem auffälligen oder auch gewalttätigen Verhalten von Kindern und Jugendlichen präventiv möglichst frühzeitig etwas entgegenzusetzen. Dabei sind selbstverständlich die Bereitstellung von Jugendfreizeitangeboten, ein verlässliches Bildungsangebot, Verlässlichkeit in der Schule - darüber sprachen wir bereits mehrfach  , aber auch attraktive Ausbildungs- und Arbeitsplätze die beste Vermeidungsstrategie für die Entstehung von Jugendkriminalität.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)

Ich sprach eben von Verlässlichkeit. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wenn Vertrauenspersonen regelmäßig wegbrechen, wenn Lehrerinnen und Lehrer regelmäßig ausgetauscht werden, wenn Schulsozialarbeit eben keine zuverlässige Partnerin oder kein zuverlässiger Partner ist, dann stört das das Verhältnis der jungen Menschen zu diesen Vertrauenspersonen.

Wir brauchen diese verlässlichen Strukturen nicht nur in den urbanen Räumen, in den Städten, sondern wir brauchen sie auch im ländlichen Raum. Wir alle wünschen uns Bullerbü im ländlichen Raum, aber man findet Bullerbü dort nur selten.

Wir wissen, dass die Anzahl von Inobhutnahmen gerade nach der Pandemie in allen Landkreisen und kreisfreien Städten in Sachsen-Anhalt zugenommen hat. Das führt dazu   an alle, die kommunalpolitisch unterwegs sind   dass die Ausgaben für die Hilfen zur Erziehung, für die stationären Einrichtungen, die am teuersten sind, steigen. Das findet regelmäßig zulasten von Präventivangeboten, wie bspw. niedrigschwelligen Jugendclubs, statt. Das ist ein Riesenproblem. Die Jugendhilfe steht in den Kommunen personell und finanziell mit dem Rücken zur Wand. Wenn wir das FAG reformieren, müssen wir diesen Punkt unbedingt im Auge haben. Dabei sind die Bedingungen in den kreisfreien Städten und Landkreisen in Sachsen-Anhalt sehr, sehr unterschiedlich.

Meine Damen und Herren! Nicht nur hier, sondern seit Monaten wird medial, in der Öffentlichkeit, vor allem in Halle, über die steigende Jugendkriminalität diskutiert. Wir haben uns bewusst Zeit genommen, um dieses Thema hier aufzugreifen und dabei auch nicht den Oberlehrer zu spielen gegenüber der Stadt Halle, denn die Akteurinnen und Akteure in Halle wissen sehr wohl sehr gut, was vor Ort zu tun ist. Sie kennen die Bedarfe. Wir haben uns natürlich auch vor Ort informiert und sind dabei auch im engen Austausch mit den Stadträtinnen und Stadträten und den Entscheidungsträgern auf kommunaler Ebene.

Wenn man allerdings den gesamten Zeitraum der letzten 20 Jahre anschaut, kann man sehen, dass es zwar ein konstantes Niveau von Jugendstraffälligkeit gibt, aber in Gänze ist es eher rückläufig. Wir haben eine leichte Veränderung nach der Pandemie, was aber auch nicht wirklich verwundert, was aber auch korreliert mit den Zahlen von vor der Pandemie.

Was allerdings festzustellen ist   und das muss aufhorchen lassen  , ist, dass gerade die Zahl der Gewaltstraftaten, hier insbesondere die Raubstraftaten und die Körperverletzungsdelikte, seit Beginn der Pandemie zugenommen hat.

(Zuruf von der AfD: Warum denn wohl?)

Hierbei sind insbesondere die Städte Halle und Magdeburg im Fokus.

Im Jahr 2022 wurden 1 295 Fälle registriert. Das ist eine Steigerung um 23 %. Wir müssen deshalb handeln. Wir können nicht wegschauen, weil die Bevölkerung auch auf uns schaut und guckt, was dazu passiert und wie wir damit umgehen. Aber es gibt keine schnelle Lösung. Es ist wichtig, dass wir das genauso verantwortungsvoll sagen. Wir brauchen Geduld, weil wir in diesem Bereich nach wie vor   ich hoffe, dass das so bleibt   über Erziehung reden.

(Marco Tullner, CDU: Aber auch Konsequenz!)

Meine Damen und Herren! - Sie können nachher eine Frage stellen, sonst bekomme ich das nicht mit. - Den Fokus allein auf Strafverfolgung und schärfere Strafen oder gar   das wird ja immer mal wieder in Leserbriefen diskutiert - auf eine Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters zu setzen   ich ahne, Herr Tullner, dass es in diese Richtung geht  , ist ein fataler Fehler.

(Marco Tullner, CDU: Dann unterscheiden wir uns aber deutlich!)

Freiheitsentziehende Maßnahmen sind in unserem Rechtsstaat   das ist ein guter Grundsatz   die Ultima Ratio und im Jugendstrafrecht im besonderen Maße. Jugenddelinquenz, meine Damen und Herren, braucht Jugendhilfe im wahrsten Sinne des Wortes, und das hilft auch den Opfern.

(Beifall bei der LINKEN - Marco Tullner, CDU: Auch!)

Meine Damen und Herren! Im Fokus müssen pädagogische, erzieherische Antworten stehen, denn Kinder und Jugendliche befinden sich in der Entwicklung. Das heißt, sie sind noch auf dem Weg, den Platz in unserer Gesellschaft zu finden. Der Prozess des Aufwachsens beinhaltet auch immer das Austesten von Grenzen. Alle, die Kinder haben, wissen genau, worüber ich rede. Auf der Suche nach der eigenen Identität    

(Zuruf)

- Ja, die, die Enkelkinder und Nichten und Neffen haben, auch.

(Andreas Silbersack, FDP: Das ist wirklich zynisch, was Sie hier erzählen! Erzählen Sie das mal den Opfern! - Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Das finde ich aber auch!)

- Nein, das war überhaupt nicht zynisch. Sie können sich gern    

(Zuruf: Erzählen Sie das mal den Opfern!)

Auf der Suche nach der eigenen Identität setzen sich Jugendliche oft auch sehr provozierend mit ihren Eltern, mit Lehrkräften, mit ihrer Umwelt, mit der Gesellschaft und auch mit der staatlichen Autorität auseinander. Das ist spürbar. Dabei brauchen sie eben unterschiedliche Formen der Begleitung, die durch Familien gewährleistet werden kann - aber nicht immer  ,

(Zustimmung von Sebastian Striegel, GRÜNE)

die aber auch durch die Schule, die Kinder- und Jugendhilfe oder ggf. durch die Justiz gewährleistet werden kann und muss.

Wir erinnern uns, dass vieles von dem, was Kinder und Jugendliche als ihr soziales Umfeld sehen - ihr Freundeskreis, ihre Familie über den engsten Familienkreis hinweg, die Schule, die Kita, die Jugendhilfe  , in der Zeit der Pandemie weggebrochen ist. Insofern wundert es Expertinnen und Experten gar nicht, dass gerade danach die Zahl der Straftaten angestiegen ist, quasi ansteigen musste. Hierbei ist Vertrauen verloren gegangen. Hierbei brauchen wir   das sage ich noch einmal   einen langen Atem. Wir brauchen Geduld.

(Zuruf: Genau das brauchen wir nicht!)

Wir brauchen ein vorausschauendes Agieren und Handeln. Wir müssen einfach wissen, dass es, wenn wir im sozialen Bereich sparen, immer auch Folgen hat, auch solche wie das Ansteigen der Anzahl von Straftaten bei Kindern und Jugendlichen.

(Marco Tullner, CDU: Das klingt aber relativierend! - Zuruf von Matthias Büttner, Staßfurt, AfD)

Die Sorgen von jungen Menschen müssen ernst genommen werden. Wir müssen sie unterstützen. Wir müssen ihn auch dabei helfen, Perspektive und Pläne zu entwickeln. Das ist übrigens im besten Sinne Präventionsarbeit. Deswegen auch unser Engagement für die Schulsozialarbeit in allen Schulformen, nicht nur in den sogenannten Brennpunktschulen. Ich habe kürzlich in einer Grundschule in Hettstedt den Satz gehört „Auch kleine Menschen haben große Probleme.“.

(Matthias Büttner, Staßfurt, AfD, lacht)

Die Probleme sind größer geworden. Sie alle sind in Schulen unterwegs. Ich denke, Sie wissen, worüber ich rede.

(Marco Tullner, CDU: Unsere Ministerin ist konsequenter!)

Tatsache ist, dass es trotz aller Bemühungen dennoch zu Straffälligkeiten, wie auch in allen anderen Altersgruppen, kommt. Die Studienergebnisse vieler, vieler Jahre zeigen, dass es dabei wirklich wichtig ist, dass die Strafe möglichst schnell auf die Tat folgt. Das ist logisch und hat mit dem Erziehungsgedanken zu tun.

(Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Richtig!)

Deswegen möchten wir gern Ihnen auch über das sogenannte Neuköllner Modell reden. Ich habe interessiert in dem Interview mit Frau Geyer und Herrn Tewes gelesen, dass das garantiert nicht am Akteneinsichtsverfahren der Anwälte liegt, dass sich die Verfahren verzögern. Wenn alle, die in der Rechtspflege aktiv sind, zusammenarbeiten, können solche Verfahren sehr schnell gehen.

Ich würde gerne mit Ihnen auch über offene Formen, andere Formen des Strafvollzugs reden. Ich finde, es gibt gerade in anderen Bundesländern wie in Baden-Württemberg, in Brandenburg und sogar in Sachsen durchaus Modelle, über die man reden kann, dass eine U-Haft-Vermeidung, eine Haftvermeidung, offene Formen der Haftverbüßung, der Freiheitsstrafenabbüßung vollzogen werden können, die aus meiner Sicht auch durchaus sehr erfolgreich sind. Daran könnten wir uns tatsächlich ein Beispiel nehmen. Ich würde mir wünschen, dass darüber wieder einmal mehr diskutiert wird. Lassen Sie uns dafür die Zeit nehmen. Ich hoffe, dass der Antrag zumindest überwiesen wird in den zuständigen Ausschuss für Recht, Verfassung und Verbraucherschutz. Ich glaube, es wäre    


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Frau von Angern, mit der Zeit ist das jetzt wirklich so ein Thema. Das ist schon ziemlich Rot bei Ihnen, schon ziemlich lange Rot.


Eva von Angern (DIE LINKE):

Ich kann Ihnen sagen, dass es 39 Sekunden Rot war, Frau Präsidentin.


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Ja, genau! Deswegen denke ich, dass das jetzt die Rede war.


Eva von Angern (DIE LINKE):

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)