Xenia Sabrina Schüßler (CDU):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Mitglieder des Landtages! Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist in den Artikeln 20 und 28 das Sozialstaatsprinzip verankert. Nach der vorherigen Debatte bin ich auch sehr glücklich darüber, dass dieses verankert wurde. Es besagt, dass der Staat für sozialen Ausgleich zwischen starken und schwachen gesellschaftlichen Gruppen zu sorgen hat. Außerdem muss er die Existenzgrundlage seiner Bürger sichern und es ihnen ermöglichen, selbstverantwortlich ihr Leben zu gestalten.

Zur Umsetzung dieses Prinzips ist auch das Land Sachsen-Anhalt verpflichtet. Zuständig hierfür sind unter anderem das Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung und die Sozialagentur.

In unserem Bundesland leben mehr als 27 000 Menschen mit einer Behinderung in einer der über 1 100 Einrichtungen der ambulanten und stationären Eingliederungshilfe. Die Kosten hierfür übernimmt zu einem Großteil das Land Sachsen-Anhalt. Ja, die Unterstützung der Menschen mit Einschränkungen kostet Geld und wird auch immer Geld kosten. Aber es gibt schlichtweg die Verpflichtung, dass das Land hierbei unterstützen und zahlen muss. Auf ein Gesamtvolumen von knapp 2 Milliarden € beläuft sich der Einzelplan 05 im Landeshaushalt 2023, den wir gestern verabschiedet haben. Mittel in Höhe von ca. 625 Millionen € sind für die Eingliederungshilfen eingestellt worden.

Nun zum Prozedere. Jede Einrichtung der Eingliederungshilfe muss mit der Sozialagentur über die Sach- und Personalkosten verhandeln, sprich: Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen treffen, und das für jede einzelne Einheit, die vorgehalten wird. Bei mehr als 1 100 Einrichtungen könnte man daher durchaus sagen, es handelt sich für die Sozialagentur um das tägliche Geschäft und eines der Hauptbetätigungsfelder. Aber in Sachsen-Anhalt gestalten sich diese Verhandlungen alles andere als zielführend.

(Beifall bei der CDU)

Seitens der Sozialagentur wird unter anderem vorgetragen, dass die Einrichtungen ihrer Bringepflicht nicht nachkommen und daher keine einvernehmliche Übereinkunft getroffen werden kann und dass Personal zur Bearbeitung fehlt. Fragt man jedoch auf der anderen Seite, auf der Seite der Einrichtungen, nach, klingt der überwiegende Tenor ganz anders: Die Sozialagentur verweigere die klärenden Gespräche; die eingereichten Unterlagen reichten immer nicht aus; die Einrichtungen seien nicht in der Lage, die Anforderungen zu erfüllen. Es ist von Misstrauen und Allmachtsgebaren die Rede.

(Zustimmung bei der CDU)

Ich möchte an dieser Stelle gar nicht die Frage nach Schuld oder Nicht-Schuld stellen, aber es mutet doch seltsam an, dass ein Großteil der 1 100 Einrichtungen nicht in der Lage sein soll, die Anforderungen zu erfüllen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zuruf von der CDU: Genau!)

Vielleicht sollte sich die Sozialagentur die Frage stellen, ob das Problem und seine Lösung nicht im eigenen Haus liegen.

(Beifall bei der CDU)

Wenn die Verhandlungen zwischen der Sozialagentur und den Einrichtungen nicht einvernehmlich beendet werden können, sind die Einrichtungen, wie wir schon gehört haben, letztlich gezwungen, spätestens am 31. Dezember eines Jahres die Schiedsstelle anzurufen, um ihre Ansprüche zu sichern. Ganz nebenbei: Nach der Anrufung wäre auch eine Eingangsbestätigung an die Einrichtung schön.

(Zustimmung bei der CDU)

Die Schiedsstelle ist gemäß § 126 Abs. 2 SGB IX zuständig. Ihre Mitglieder sind ehrenamtlich tätig und nicht an Weisungen gebunden. Sie haben den Auftrag, unverzüglich Entscheidungen zu treffen. Im Land Sachsen-Anhalt - Fehlanzeige. Aktuell sind gut 700 Verfahren bei den entsprechenden Schiedsstellen für Eingliederungshilfe anhängig. Bei allen fünf Schiedsstellen sind es 1 134 Verfahren.

Die Schiedsstelle soll jedoch nur in Einzelfällen tätig werden, wenn über den Inhalt von Vereinbarungen keine Einigung erzielt worden ist. Dazu sage ich: Wow, 700 Einzelfälle! Oder vielleicht doch ein Systemversagen innerhalb der Sozialagentur? Anders sind die Fallzahlen nicht mehr zu erklären. Schaut man bspw. nach Berlin oder Brandenburg, sieht man, dass die dortige Schiedsstelle tatsächlich nur in einigen wenigen Fällen im Jahr angerufen wird.

Statt dass das zuständige Ministerium dem langjährigen Trend entgegenwirkt, erhöht man lieber die finanziellen Mittel für die Schiedsstellen um mehr als das Vierfache. Aufarbeitung und Abarbeitung dieses Bürokratiemonsters sehen anders aus.

(Beifall bei der CDU - Zuruf von der CDU: Sehr richtig!)

Der Vollständigkeit halber möchte ich noch erwähnen, dass für einige Einrichtungen bei der Schiedsstelle noch nicht Schluss ist, sondern zusätzlich oder im Anschluss Verfahren vor den Sozialgerichten geführt werden müssen.

Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich bei allen Einrichtungsträgern und Arbeitnehmern in diesen Einrichtungen für ihre tägliche Arbeit und ihren täglichen Einsatz bedanken. Sie übernehmen eine wichtige staatliche Aufgabe und geben den Menschen mit Beeinträchtigungen ein Zuhause, Sicherheit und Unterstützung.

(Beifall bei der CDU)

Aus meiner Sicht ist es daher fatal, dass sich diese Einrichtungen gegenüber der Sozialagentur als Bittsteller fühlen. Die Verhandlungen mit der Sozialagentur müssen künftig auf Augenhöhe geführt und innerhalb des normalen Verfahrens beendet werden. Alles andere ist eine Farce.

Der Sozialagentur stelle ich anheim, intern umzustrukturieren und auf die Einrichtungen zuzugehen. Aktuell gehen diese massiv in Vorleistung, vor allem die drei Einrichtungen, die neu gebaut haben. Es bleibt die Frage, wie lange sie das durchhalten können.

Ein konkretes Beispiel: Eine Einrichtung verhandelt für Kindergarten, Wohnheim, Tagesförderung und Werkstatt seit dem Jahr 2020, also seit drei Jahren, und hat aktuell 37 Verfahren bei der Schiedsstelle.

(Zuruf von der CDU: Das ist ja unglaublich!)

Die allgemeinen Anpassungen gehen jedoch auch an den Einrichtungen nicht spurlos vorbei. Auch bei dem bekannten Fachkräftemangel stehen die Einrichtungen mit dem Rücken zur Wand, wenn sie nicht kurzfristig an Lohnsteigerungen anknüpfen können.

Schaut man auf die inflationsbedingten Erhöhungen seit dem letzten Jahr, dann stellt man fest, dass auch bei den Einrichtungen der Eingliederungshilfe die Kosten nicht konstant geblieben, sondern im Durchschnitt um 8 % gestiegen sind. Diese Zahl entspricht der allgemeinen Preissteigerung. Einrichtungen haben diese Erhöhungen gegenüber der Sozialagentur geltend gemacht. Das Angebot seitens der Sozialagentur an die Einrichtungen belief sich jedoch auf lediglich 1,8 %. Dass dies bereits korrigiert worden ist, wurde schon gesagt. Aber wie sollen die Einrichtungen diese Defizite ausgleichen?

Es sind aber nicht nur die oben genannten Vertragsverhandlungen, die problematisch sind, sondern auch die Bewilligung von Leistungen der Eingliederungshilfe für die betreffenden Personen. Es gibt vielschichtige Probleme seit der Einführung des neuen BTHG. Die Verfahrensdauer bis zur Feststellung einer Hilfebedarfsgruppe und damit bis zur Bewilligung von Leistungen ist vielfach nicht angemessen, ganz abgesehen davon, dass nur einfache Mitteilungen an die betroffenen Menschen über die Zuordnung zu einer Hilfebedarfsgruppe ergehen, gegen die kein Rechtsmittel möglich ist. Die Einrichtung hat dann die Verpflichtung, hiergegen vorzugehen. Es wird schlichtweg über die Köpfe der Menschen mit Behinderungen hinweg entschieden, obwohl gerade diese einbezogen werden sollen. Die Rechte der Menschen mit Beeinträchtigungen werden ausgehöhlt.

Noch ein kurzer Ausblick: Es gibt immer mehr sogenannte Systemsprenger, Menschen mit geistigen und/oder seelischen Mehrfachbehinderungen, die nicht gruppenfähig sind. Für diese Menschen werden zukünftig neue Wohnformen geschaffen werden müssen. Die Sozialagentur täte gut daran, bereits zum jetzigen Zeitpunkt mit ausgewählten Einrichtungsträgern in Verhandlung zu treten, um mit ihnen zu sprechen, wie diese gestaltet werden können und welches Personal vorzuhalten ist. Der Schuh drückt hier schon gewaltig. Auch der Petitionsausschuss des Landtages hat sich bereits mehrfach mit der Thematik befasst.

Um auf den Anfang meiner Rede zurückzukommen: Der Bereich der Eingliederungshilfe kostet Geld. Aber es ist eine staatliche Aufgabe, die die Einrichtungsträger erbringen. Daher dürfen diese nicht als Bittsteller behandelt werden, sondern die Sozialagentur muss ihre Arbeitsweise anpassen. - Danke schön.

(Beifall bei der CDU)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Vielen Dank, Frau Schüßler. Es gibt eine Nachfrage von Herrn Gallert.


Xenia Sabrina Schüßler (CDU):

Ja.


Wulf Gallert (DIE LINKE):

Frau Schüßler, vielen Dank für Ihre Rede. Man merkt, dass sich Ihre Einschätzung kaum von der von Frau Anger unterscheidet, was die Sozialagentur anbelangt. Wir haben alle mit denselben Leuten dieselben Gespräche geführt. Wir wissen also, worüber wir reden, gerade aus der Stendaler Perspektive. Aber wenn ich Ihre Einschätzung höre, frage ich Sie: Was glauben Sie, was die Ursache dafür ist, dass die Sozialagentur so agiert, wie sie agiert? Hinter vorgehaltener Hand sagen mir natürlich alle: Wir sind diejenigen, die das Geld einzusparen haben, und deshalb benehmen wir uns so.

(Eva von Angern, DIE LINKE: Die sind ja nicht glücklich darüber!)

Ich frage Sie aus der Perspektive eines Mitglieds einer Koalitionsfraktion: Wenn Sie die Einschätzung so teilen - was sind Ihre Konsequenzen aus dieser Situation der Sozialagentur?


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Frau Schüßler.


Xenia Sabrina Schüßler (CDU):

Danke für die Nachfrage. Die Frage habe ich mir auch gestellt, ich habe letztens beim Landesbehindertenbeirat auch schon mit Frau Anger darüber gesprochen. Es müssen mit dem Sozialministerium und der Sozialagentur Gespräche geführt werden, wie diese Bearbeitungsweise zukünftig anders laufen kann. Wie gesagt, es ist eine staatliche Verpflichtung, diese Leistungen zu zahlen. Die Menschen haben einen Anspruch darauf. Dass das Geld kostet   größter Einzelplan im Haushalt  , das wissen wir alle. Es muss aber eine Lösung her. Wie diese aussieht, das kann ich Ihnen   das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen   im Moment nicht sagen. Wir müssen uns an einen Tisch setzen und reden. - Danke.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)