Dr. Katja Pähle (SPD):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Ministerpräsident hat seine Rede abgebunden mit einer persönlichen Bemerkung. Ich will Sie mit einer persönlichen Bemerkung beginnen. Die Hallenser teilen ja die Hallesche Stadtgesellschaft in Halloren, Hallenser und Halunken.
(Zuruf: Ach!)
Auch wenn ich wahrscheinlich immer als Halunkin, als Zugezogene, gelten werde: Der 14. Februar war für mich ein unglaublicher Tag der Freude, weil wir als Halle ein Rennen gewonnen haben, obwohl es vom ersten Moment an von überall hieß: Lasst es! Es hat keinen Zweck! - Das geschafft zu haben, ist wunderbar und es ist eine unglaubliche Leistung von ganz vielen. Darüber können wir uns freuen.
(Beifall bei der SPD, bei der CDU, bei der FDP, bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der unsinnigste Kommentar, der zu den globalen Umwälzungen der Jahre 1989/90 abgegeben wurde, kam ohne Zweifel aus der Politikwissenschaft. Das war die Einschätzung des amerikanischen Professors Francis Fukuyama, mit dem Ende der Blockkonfrontation sei das Ende der Geschichte gekommen. Nichts könnte falscher sein.
Die Demonstrantinnen und Demonstranten in Leipzig, in Dresden, hier in Magdeburg, in Halle und anderswo, die Mitglieder der Solidarność in Polen, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der „Samtenen Revolution“ in Prag - sie alle haben nicht nur Geschichte geschrieben, sie haben auch das Tor für ein neues Europa und eine neue Epoche der Geschichte aufgestoßen.
(Zustimmung bei der SPD, bei der CDU und bei der FDP)
Sie haben den Weg dafür geebnet, dass Diktatur und Unterdrückung in Ost- und Mitteleuropa endeten. Sie haben dafür gesorgt, dass Grenzen fielen und die Menschen in einer Freiheit lebten, die mehr war und ist als Reisefreiheit. Sie haben die Grundlage dafür gelegt, dass Menschen selbstbestimmt über ihren Lebensweg entscheiden können.
Geschichte wurde damit nicht beendet, sondern es wurden Umbrüche angestoßen, die bis heute andauern. Mit diesem Umbruch begann der Prozess, den wir heute als Transformation bezeichnen. Wir blicken heute auf 30 Jahre dieses Transformationsprozesses mit einer Mischung aus Stolz und Ernüchterung und mit dem Willen, den weiteren Prozess aktiv zu gestalten. Denn wir haben noch viel vor.
Bei der ersten Sitzung des Deutschen Bundestages nach der Wiedervereinigung am 4. Oktober 1990 hat Willy Brandt gesagt: Es kommt entscheidend darauf an, dass Solidarität heruntergeholt wird vom Podest der Festreden. Genau daran hat es aber dann gefehlt.
Viel zu wenig bestimmten gesellschaftliche Entwicklungsziele die Richtungsentscheidungen, vor allem im ersten Jahrzehnt dieses Prozesses. Im Mittelpunkt standen nicht zukunftsfähige Arbeitsplätze, nachhaltige Entwicklung und gleichwertige Lebensverhältnisse, sondern die schnelle Mark und die verlängerte Werkbank.
Viel zu selten waren es Akteure vor Ort, waren es Ostdeutsche mit ihrer Lebenserfahrung und ihrer Kenntnis von Märkten im Osten, die die Entscheidungen trafen. Viel zu spät wurde an die gedacht, die bei dieser Art, die Marktwirtschaft zu implementieren, aus der Kurve geflogen sind. Auf diese Weise ging nicht nur Vertrauen verloren, sondern auch viel Erfahrung, Professionalität und Kompetenz. Das ist die ernüchternde Seite des Prozesses.
Ihr gegenüber steht das, worauf wir stolz sind. Wir sind stolz auf den Aufbau einer funktionierenden Demokratie. Hier im Raum sind eigentlich zwei, aber aktuell leider nur eine Person, die seit der ersten Wahlperiode in diesem Landtag die Demokratie in Sachsen-Anhalt aufgebaut haben. Darauf können wir nicht nur stolz sein, sondern wir alle stehen in ihren Fußstapfen. Vielen Dank dafür.
(Zustimmung bei der SPD, bei der CDU, bei der FDP und bei den GRÜNEN)
Wir können stolz darauf sein, was in allen Teilen unseres Landes und allen Widrigkeiten zum Trotz erhalten und neu aufgebaut wurde. Die Generation, die hiergeblieben ist und durchgehalten hat, ist heute der wichtigste Träger von Kompetenz in Sachen Transformation. Wir können stolz darauf sein, dass sich ganz allmählich auch außerhalb unseres Landes die Erkenntnis herumspricht, dass Ostdeutsche es draufhaben, Zukunft zu gestalten.
Wir können stolz darauf sein, dass hier die großen Potenziale für Innovationen liegen und dass ausgerechnet das alles dazu führt, dass dem unterschätzten, kleinen und belächelten Land Sachsen-Anhalt mit seiner Lage mitten in Europa endlich auch die Aufmerksamkeit gegeben wird, die es braucht und die es tatsächlich auch verdient mit seinen allerbesten Voraussetzungen.
(Zustimmung bei der SPD und bei der FDP)
Nach der Entscheidung von Intel für Magdeburg ist die Standortentscheidung für das Zukunftszentrum für Europäische Transformation und Deutsche Einheit in Halle an der Saale die zweite große Weichenstellung, für diese Bedeutung Sachsen-Anhalts auch weiterhin zu wirken und sie sichtbar zu machen. Darüber können wir uns freuen, egal welcher Partei wir angehören.
(Olaf Meister, GRÜNE: Richtig!)
Die Stadt Halle hat offenkundig bei der Bewerbung sehr vieles richtiggemacht. Das hat die Jury überzeugt. Tatsächlich sprach viel für die Stadt, die starke wissenschaftliche Prägung durch die jahrhundertealte Universität und durch die Leopoldina, die große kulturelle Bedeutung der Stadt, ihre Lage in unmittelbarer Nähe zur Chemieregion und zum Braunkohlerevier. Hier finden technische und wirtschaftliche Transformationen Tag für Tag live und in Farbe statt. Die im Vergleich zu anderen Bewerberstädten verkehrsgünstige Lage und Erreichbarkeit darf auch erwähnt werden.
Auch die Landesregierung und der Landestag haben die richtige Entscheidung getroffen, sich einmütig hinter eine Bewerbung zu stellen. Herzlichen Dank an alle Kolleginnen und Kollegen, die daran mitgewirkt haben, herzlichen Dank an den Ministerpräsidenten und die Landesregierung, die das auch mit viel Verve nach außen vertreten haben.
Ich möchte allen weiteren, die vor und hinter den Kulissen dazu beigetragen haben, dass diese Bewerbung zum Erfolg geführt hat, sehr herzlich für ihren Einsatz danken. Der Dank richtet sich stellvertretend an den Bürgermeister der Stadt Egbert Geier, der eine ambitionierte und inspirierende Bewerbung auf den Weg gebracht hat.
Der Dank richtet sich natürlich auch an Katrin Budde, die als Vorsitzende der Jury eine sicherlich neutrale, aber dennoch eine unüberhörbare und starke Stimme für Sachsen-Anhalt war und ist. Deshalb auch hier ein herzlicher Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)
Und wer könnte hier treffsicherer auch für Halle sprechen, wenn nicht eine Magdeburgerin, die die Vorzüge von beiden Städten kennt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es wird in den nächsten Jahren viele Diskussionen darüber geben, wie dieses Zentrum profiliert und ausgerichtet werden soll. Eines steht fest: Wir brauchen kein Transformationsmuseum. Wir brauchen keinen Pilgerort für Ostalgie. Das neue Haus in Halle ist kein Ort zum Wunden lecken, sondern zum Besser-gemacht-Werden.
Aus meiner Sicht sollten wir, auch wenn Halle anders als etwa Frankfurt (Oder) nicht in einer Grenzregion liegt, großen Wert darauf legen, dass beide Aspekte, die im Namen des Zentrums auftauchen, den Charakter dieser Begegnungsstätte bestimmen: die deutsche und die europäische Transformation.
In der eben erwähnten Bundestagssitzung am 4. Oktober 1990 hat Willy Brandt auf die europäische Dimension des Umbruchs hingewiesen und sie unterstrichen. Es gilt, die Erkenntnis lebendig zu halten, dass wir ohne die Veränderung in Mittel- und Osteuropa nicht dorthin gelangt wären, wo wir heute sind. Willy Brandt warnte, dass sich aus der russischen bzw. sowjetischen Entwicklung erhebliche Unsicherheiten ergeben könnten. - Ein Satz, den man heute, insbesondere an diesem Tag, nicht ohne Beklemmung lesen kann.
Gerade angesichts unserer heutigen Erfahrungen eines Krieges mitten in Europa und des latenten Risikos einer Eskalation halte ich es für wichtig, dass das Zukunftszentrum in Halle auch ein Think Tank für gesamteuropäische Entwicklung wird. Auch, ja gerade weil es heute unwirklich erscheinen mag, müssen wir weiter an einem Europa bauen, in dem alle Völker friedlich zusammenleben und an gemeinsamer Entwicklung teilhaben, auch das russische und das ukrainische Volk.
Denn das sind doch die wichtigsten Erkenntnisse aus den Ereignissen von 1989/90: Geschichte ist gestaltbar. Friedlicher Umbruch ist machbar. Demokratie ist stärker als die denken, die ihren Abgesang jeden Tag verlauten lassen. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der CDU und bei den GRÜNEN)
Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:
Frau Pähle, es gibt eine Intervention. - Frau Tarricone, bitte.
Kathrin Tarricone (FDP):
Frau Dr. Pähle, ich sage herzlich danke schön für Ihre Rede. Die war der Zukunft des Zukunftszentrums würdig. Das sage ich nicht nur als eine derjenigen, die 1989 bei der friedlichen Demonstration dabei war, sondern als stolze Parlamentarierin dieses wunderschönen Bundeslandes. - Danke.
(Zustimmung bei der CDU und bei der SPD)
Dr. Katja Pähle (SPD):
Vielen Dank.