Sebastian Striegel (GRÜNE):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Damen und Herren von der CDU, mit der heutigen Debatte erklärt sich, wieso Sie unseren Selbstbefassungsantrag im Innenausschuss vor zwei Wochen nicht behandeln wollten. Wir hatten da beantragt, dass die Landesregierung zum aktuellen Sachstand bezüglich der Unterbringung und Betreuung von Geflüchteten Stellung bezieht. Sie haben die Information des Parlaments und die Fachdebatte dort verweigert.
Es ist bedauerlich, dass es mit Ihnen nicht möglich ist, dieses wichtige Thema im Fachausschuss, in dem wir direkt Lösungen hätten erarbeiten können, zu besprechen. Ihr Interesse gilt offensichtlich stärker der großen Bühne, der Publicity und nicht der Lösung der von Ihnen beschriebenen Herausforderungen.
(Zuruf von Guido Heuer, CDU)
Herr Schulenburg, Sie haben gesagt, es brauche die AfD für diese Debatte nicht. Angesichts Ihres Redebeitrages - ich will nur auf das Thema Obergrenze oder das letztliche Ersaufenlassen von Leuten im Mittelmeer eingehen - stimmt das.
(Unruhe bei den GRÜNEN und bei der AfD)
Es braucht die AfD an dieser Stelle nicht. Sie schaffen das mit der rassistischen Mobilisierung ganz alleine. Das ist schade. Das hat das Thema nicht verdient.
Das Land Sachsen-Anhalt hat in den vergangenen Jahren gemeinsam mit allen anderen Bundesländern die Unterbringung von Geflüchteten im Rahmen der Humanitätskrise 2015/2016 ebenso gemanagt wie die Ankunft, Unterbringung und Betreuung von Menschen, die aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine zu uns geflohen sind.
Erfolgreich war dies immer da, wo das Handeln von Land, Bund und Kommunen ineinandergriff und durch ehrenamtliches Engagement unterstützt wurde. Es waren die Kirchengemeinden, antirassistische Gruppen, Sportvereine, Nachbarschaftsinitiativen und viele andere großartige Menschen, die das Ankommen in Sachsen-Anhalt organisiert haben. Ich wünschte mir, die Innenministerin oder die CDU würde all diesen Gruppen oder Personen ihren ausdrücklichen Dank noch viel stärker aussprechen und vor allem konkrete Unterstützung leisten.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Ich sage Ihnen zudem - Herr Erben hat es schon deutlich gemacht -: Es wird nicht ausreichen, in der Migrationsfrage nur mit dem Finger auf den Bund zu zeigen und vermeintlich fehlende Aktivitäten dem Bundesinnenministerium anzukreiden. Ich darf daran erinnern: Noch stellt die CDU in Sachsen-Anhalt die Innenministerin. Wenn Sie also Handlungsbedarf erkennen, dann finden Sie in ihr Ihre erste Ansprechpartnerin.
Aber da Sie ja immer mit dem Finger auf die Bundesregierung zeigen, können wir auch noch einmal anführen, was diese bisher an positiven Dingen beschlossen hat.
(Oh! bei der CDU - Hannes Loth, AfD: Ach! - Zuruf: Richtig!)
Die Bundesregierung hat ein Gesetz zur Einführung des Chancen-Aufenthaltsrechts und ein Gesetz zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren auf den Weg gebracht. Diese werden vom Bundestag beschlossen und am 1. Januar 2023 in Kraft treten. Mit diesen Gesetzen erkennen wir auch endlich an - Herr Kollege Kosmehl hat es gesagt : Wir sind ein Einwanderungsland. Sie müssen sich ehrlich machen, meine Damen und Herren.
(Guido Heuer, CDU: Wir sind ehrlich! Das ist also völlig überflüssig!)
Wenn Sie das nicht tun, werden Sie in der Migrationsfrage nicht weiterkommen.
(Zustimmung bei den GRÜNEN)
Mit diesen Vorhaben schaffen wir für Menschen, die im System der entwürdigenden Kettenduldung feststecken, eine Perspektive auf ein dauerhaftes Bleiberecht. Das betrifft rund 240 000 Menschen, die teilweise bereits seit Jahren nur geduldet hier leben. Dieses Gesetz setzt Kraft frei für echte Integration. Es nimmt Menschen die ständige Angst, jeden Augenblick abgeschoben werden zu können. Mehr als 130 000 Menschen können bereits im kommenden Jahr von diesem Gesetz profitieren.
Das Gesetz trägt auch zur Bekämpfung des Fachkräftemangels bei, denn rund drei Viertel der in Deutschland geduldeten Menschen verfügten bislang nicht über eine Beschäftigungserlaubnis. Sie wurden aus rassistischen Gründen vom Arbeitsmarkt ferngehalten.
(Lachen bei und Zurufe von der CDU und von der AfD - Guido Heuer, CDU: Das gibt es doch wohl nicht! - Zuruf von Ulrich Thomas, CDU - Unruhe)
Übrigens stellen die Behörden in Sachsen-Anhalt in einer unvergleichbaren Praxis übermäßig oft die sogenannte Duldung light aus.
(Unruhe)
Diese Duldung light verhindert den Zugang zum Arbeitsmarkt und zur sozialen Teilhabe. Probleme der Überlastung der Behörden sind daher in Sachsen-Anhalt auch hausgemacht. Hieran könnte die Innenministerin ohne Probleme etwas ändern. Das Gesetz der Ampel gibt auch den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern Planungssicherheit dahin gehend, dass ihre Mitarbeiter*innen nicht abgeschoben werden.
(Ulrich Siegmund, AfD, und Thomas Korell, AfD, lachen - Unruhe)
So können diese Menschen zukünftig auch auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen und qualifizierte Ausbildungsberufe erlernen und ausüben. Daher zeigt sich eben auch hier ein ungemein großes und bisher unbeachtetes Potenzial. Herr Kosmehl hat auf die Zahlen verwiesen. Hierbei können wir besser werden.
(Zuruf von Nadine Koppehel, AfD)
Die neuen Gesetze verringern auch die Arbeitsbelastung der Behörden. So schafft die Bundesregierung die obligatorischen anlasslosen Überprüfungen der Bescheide durch das BAMF ab. Diese Verfahren haben in einem Maße Arbeitskraft gebunden, das in keinem Verhältnis zu den daraufhin erfolgten Rücknahmen oder Widerrufen stand.
Behördenunabhängige Verbände bieten zukünftig flächendeckend und gesetzlich verankert Asylverfahrensberatung an. Dadurch werden Bescheide für die Asylbewerber*innen verständlicher, und es wird eine höhere Qualität der Bescheide erzielt, wovon auch die Asylbehörden und letztlich die Verwaltungsgerichte profitieren werden. Denn momentan verlieren die Behörden in Sachsen-Anhalt noch 42 % der Verwaltungsgerichtsverfahren teilweise oder vollständig. Das ist eine viel zu hohe Anzahl an fehlerhaften Bescheiden, und man muss sich fragen, wo hierfür die Ursachen liegen.
(Ulrich Siegmund, AfD, lacht)
Die Verwaltungsgerichte werden unter anderem auch entlastet, indem die Verfahren durch höchstrichterliche Rechtsprechung vergleichbarer werden und zügiger bearbeitet werden können. Das ist in Sachsen-Anhalt bitter nötig. Noch immer stellen in Sachsen-Anhalt die Asylverfahrensklagen rund 37 % der Verfahrenseingänge an den Verwaltungsgerichten dar. Zwar ging die Gesamtzahl der Eingänge im Jahr 2021 zurück und die Bearbeitungszeit reduzierte sich im Schnitt von rund 15,1 Monaten auf jetzt 13,7 Monate, dennoch bleibt die Belastung auf einem zu hohen Niveau.
Richtig ist: Aktuell gibt es weltweit mehr als 100 Millionen Vertriebene. Im Jahr 2022 wurden in Europa rund 72 % mehr Asylanträge gestellt als im Vorjahr. Deutschland hat rund 52 % mehr Menschen aufgenommen als im Vorjahr. An der Westbalkanroute sind die Zahlen aktuell rückläufig. Es wurden aber bis Anfang Dezember insgesamt rund 128 000 irreguläre Grenzübertritte oder Grenzübertrittsversuche gezählt. Das sind rund 170 % mehr als in dem Vorjahrszeitraum, wobei man diese Zahl mit Vorsicht behandeln sollte, da von den Grenzbehörden kein Unterschied zwischen versuchten, mehrfach versuchten und erfolgreichen Grenzübertritten gemacht wird.
Vorbereitend haben Bund, Länder und Kommunen ein gemeinsames digitales Portal für den fachlichen Austausch über verschiedene Unterbringungslösungen angestoßen. Die Länder sollen im Jahr 2023 finanzielle Mittel in Höhe von rund 1,5 Milliarden € vom Bund als Unterstützung für die Ausgaben für Geflüchtete aus der Ukraine erhalten. Darüber hinaus erhalten die Länder und die Kommunen Mittel in Höhe von 1,25 Milliarden € jährlich als Unterstützung für die Versorgung der Geflüchteten aus anderen Ländern. Richtig sind auch die von Ihnen zitierten Geflüchtetenzahlen für Sachsen-Anhalt, die wir in der Begründung zu dem Antrag auf Durchführung dieser Aktuellen Debatte gelesen haben.
Vor dem Hintergrund, dass Russland seit Wochen vermehrt kritische Infrastruktur in der Ukraine zerstört und somit einem großen Teil der ukrainischen Bevölkerung kein Strom und keine Heizung in den kältesten Wintermonaten zur Verfügung steht, müssen wir uns auch in Sachsen-Anhalt auf ein Szenario vorbereiten, in dem mehr Menschen aus der Ukraine bei uns Schutz suchen werden. Es bedarf jetzt also schneller Antworten des Landes.
Tragen Sie Ihre politischen Kämpfe innerhalb der Koalition in dieser Situation bitte nicht auf dem Rücken der Kommunen aus. Sorgen Sie dafür, dass die Landeserstaufnahmeeinrichtung in Stendal noch vor 2025 in Betrieb gehen kann. Sorgen Sie dafür, dass bis dahin andere geeignete Unterkünfte zur Verfügung gestellt werden. Heben Sie die Restriktionen auf, denen Asylsuchende bei der Auswahl der Unterkunft begegnen. Dies würde auch eine bessere Verteilung und Entlastung der Zentralen Aufnahmeeinrichtungen mit sich bringen.
Entlasten Sie endlich Ihre Behörden. Nehmen Sie Abstand von den vielen Duldungen light und holen Sie die Menschen aus dem Sozialleistungssystem heraus. Setzen Sie endlich eine Vorgriffsregelung für das Chancen-Aufenthaltsrecht um und schieben Sie über die Weihnachtstage keine Menschen ab, die ab Januar einen Anspruch auf ein Chancen-Aufenthaltsrecht oder ein dauerhaftes Bleiberecht haben.
(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung von Dr. Heide Richter-Airijoki, SPD)
Nutzen Sie die Ressourcen doch lieber für die schnellere Bearbeitung der Asylanträge. Die Bearbeitungszeiten innerhalb der Ausländerbehörden in Sachsen-Anhalt sind außer Kontrolle geraten. Begegnen Sie der Überlastung endlich mit einer Einstellungsoffensive, einer qualifizierten Fortbildung der Mitarbeitenden und einer Verschlankung von Verwaltungsabläufen. Hier liegen die Stellschrauben. Und anerkennen Sie bitte endlich - ich sehe es hier schon wieder : Deutschland ist ein Einwanderungsland.
(Zurufe von der CDU und von der AfD: Nein! - Weitere Zurufe)
Diese CDU, die 16 Jahre lang die Bundesregierung geführt hat, muss sich ehrlich machen. Es ist gut, dass Sie Zeit dafür in der Opposition haben. Nutzen Sie diese Zeit.
(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung von Dr. Heide Richter-Airijoki, SPD)
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Herr Striegel, es gibt eine Frage von dem Abg. Herrn Heuer.
Guido Heuer (CDU):
Herr Striegel, erst einmal: Schon nach Ihrer Entgleisung bei Twitter - schnelleres Sterben mit CDU und FDP , muss ich sagen: Ihre Entgleisungen habe ich jetzt langsam satt.
Sie haben uns eben gerade unterstellt, dass wir aus rassistischen Gründen
(Michael Scheffler, CDU: Hass und Hetze! - Zurufe: O, ja! - Unglaublich! - Eine Frechheit! - Zuruf von Tim Teßmann, CDU - Unruhe)
Zuwanderer vom Arbeitsmarkt fernhalten. Herr Striegel, Sie sitzen in zwölf Landesregierungen. Sind diese Beteiligungen, diese grünen Partner in den Landesregierungen auch Rassisten?
(Beifall bei der CDU - Hannes Loth, AfD: Ja, klar! - Guido Kosmehl, FDP: Ja! - Weitere Zurufe)
Sebastian Striegel (GRÜNE):
Herr Heuer, das System der Kettenduldung ist ein zutiefst rassistisches System.
(Lachen bei der CDU und bei der AfD - Zurufe von der CDU)
- Das ist es.
(Ulrich Thomas, CDU: Mein Gott! - Unruhe)
Es sorgt nämlich dafür, dass Menschen ohne deutschen Pass auf Dauer in einem verwaltungsbürokratischen Limbo landen, nicht vorwärts und nicht zurück kommen.
(Zuruf von Hannes Loth, AfD)
Das muss beendet werden.
(Guido Kosmehl, FDP: Sie bekommen Geld!)
Diese Praxis kritisieren wir als GRÜNE bereits seit vielen Jahren.
(Guido Kosmehl, FDP: Das hat doch nichts mit Rassismus zu tun!)
Wir ändern sie jetzt und wir sorgen endlich dafür, dass Menschen auch in den Arbeitsmarkt integriert werden können. - Vielen herzlichen Dank.
(Beifall bei den GRÜNEN - Zuruf von Ulrich Siegmund, AfD - Tim Teßmann, CDU: Eine Frage!)
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Herr Teßmann, das geht nicht. Sie können keine Frage mehr stellen, wenn der Redner schon auf eine Frage geantwortet hat. Das muss während der Rede passieren.
(Tim Teßmann, CDU: Das war eine Frage an ihn!)
- Ja, aber das ist nur bei der Rede möglich und nicht, wenn er dann selbst reagiert hat.