Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Vielen Dank, Herr Silbersack. - Es folgt Herr Gallert für die Fraktion DIE LINKE.
Wulf Gallert (DIE LINKE):
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich etwas irritiert bin, seit ich diese Aktuelle Debatte der SPD bekommen habe, weil mir immer noch die Frage im Kopf herumgeht, was Sie eigentlich von uns wollen. Wir haben einen Mindestlohn von 12 €. Wir haben Intel. Man hätte möglicherweise die Wasserknappheit dazu nehmen können.
(Zuruf: Die kommt danach!)
So richtig habe ich bisher noch immer nicht verstanden, was uns diese Aktuelle Debatte heute eigentlich sagen soll.
Dann macht man sich seine eigenen Gedanken und fängt an, darüber nachzudenken, was ist dieses Thema Mindestlohn eigentlich wert. - Es ist sehr viel wert und es ist auch in diesem Land Sachsen-Anhalt sehr viel wert. Wenn jemand von Ihnen noch immer denkt, dass die Mindestlohndebatte für uns keine Bedeutung hat, dann gebe ich ihm ein Schmankerl.
Vergleichen Sie bitte die Entwicklung der Diäten in den ostdeutschen Ländern in den letzten sieben, acht Jahren. Sachsen-Anhalt ist auf einmal beinahe an die Spitze gekommen. Wissen Sie, welchen Grund es dafür gab? Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns.
Ich will nicht den Eindruck erwecken, als würden wir den Mindestlohn erhalten, aber wir haben zeitgleich mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns die Diäten an die Lohnentwicklung in diesem Land gekoppelt.
(Siegfried Borgwardt, CDU: Der abhängig Beschäftigten!)
- Der abhängig Beschäftigten, das ist völlig richtig, an die Lohnentwicklung der abhängig Beschäftigten. - Was bedeutet das aber? - Die deutliche Steigerung, die wir in Sachsen-Anhalt aufgrund dieser politischen Maßnahmen haben und die wir im eigenen Geldbeutel spüren, hat damit zu tun, dass Sachsen-Anhalt bis zu diesem Zeitpunkt ein gotterbärmliches Billiglohnland war.
(Beifall bei der LINKEN)
Darin liegt die Bedeutung des Mindestlohnes.
Ich will ganz deutlich sagen: Das war kein leichter Weg. Ich lese Ihnen ich mache das sonst nicht, aber an der Stelle tue ich es den Ausschnitt einer Rede aus dem Jahr 2004 vor.
Die PDS bringt auf Bundesebene einen Antrag ein, der die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns vorsieht. Ich lese Ihnen jetzt folgende Passage vor:
„Meine Damen und Herren! Einen gesetzlich geregelten Mindestlohn gibt es derzeit in der Bundesrepublik Deutschland nicht und dafür gab und gibt es gute Gründe. Politisch und rechtlich galt und gilt: Die Gestaltung von Löhnen und Gehältern ist nicht Sache des Staates, sondern die Angelegenheit der jeweiligen Tarifvertragsparteien. Das ist der Kern des Prinzips der Tarifautonomie.“
Weiter heißt es: Deshalb „werden wir als Landtagsfraktion keiner Regelung zustimmen, die das Prinzip der Tarifautonomie außer Kraft setzt.“
(Hendrik Lange, DIE LINKE: Wer hat es gesagt?)
Nun könnte man denken, es handelt sich um die Position der FDP. Zumindest für Herrn Silbersack ist bemerkenswert, dass er gesagt hat, diese Idee wäre nicht auf seinen Schultern entstanden. Nein, das, was ich vorgelesen habe, hat der Vertreter der SPD gesagt, und zwar der IG-Metaller Rainer Metke.
(Zuruf von der AfD: Oh! - Zuruf von Rüdiger Erben, SPD)
Diese Mindestlohngeschichte das muss ich klar sagen ist durch die PDS und DIE LINKE politisch durchgesetzt worden, und zwar gegen den Widerstand von SPD, CDU, FDP und Gewerkschaft.
(Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der SPD)
Sie können lachen, aber es ist eindeutig historisch belegt, und zwar mit aller Deutlichkeit. Das, was Herr Metke gesagt, hat er im Rahmen seiner Fraktion gesagt. Das habe ich mir nicht ausgedacht.
(Zuruf von Dr. Katja Pähle, SPD)
Der Mindestlohn ist zu diesem Zeitpunkt von der IG Metall, dem DGB und von der SPD bekämpft worden. Die erste Gewerkschaft, die sich überhaupt dazu bekannt hat, war ver.di. Warum? Weil sie primär die Niedriglohnverdiener in ihren Reihen hatte. Das war der IG BCE und der IG Metall zu diesem Zeitpunkt völlig egal. Deswegen sage ich: Wir haben dieses Projekt politisch durchgekämpft, und zwar gegen die Widerstände, die ich benannt habe.
Ich sage ausdrücklich: Wir müssen uns darüber Gedanken machen, warum es überhaupt zu diesem Mindestlohn gekommen ist. Das, was der Kollege Metke damals gesagt hat, war nicht einmal völlig falsch. Natürlich ist die Tarifautonomie ein hohes Gut. Aber jetzt gucken wir uns an, wie sich die Tarifbindung in diesem Land Sachsen-Anhalt auf der Seite der Beschäftigten entwickelt hat.
Katja Pähle hat gerade etwas zu der Situation in Ost- bzw. Westdeutschland gesagt. Ich möchte etwas zu der Situation in Sachsen-Anhalt sagen. Im Jahr 2000 hatten wir eine Tarifbindung von 63 %. Im Jahr 2019 haben wir eine Tarifbindung in Höhe von 45 %. Das ist in etwa der Durchschnitt in Ostdeutschland. Der radikale Rückgang der Tarifbindung in den letzten 20 Jahren ist ein ostdeutsches und auch ein westdeutsches Phänomen.
Jetzt kann man sagen, je angespannter die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist, desto mehr Leute arbeitslos sind, umso höher ist der Druck auf die Beschäftigten. Deswegen hat das mit den Tarifverträgen alles nicht funktioniert. Nur das Problem war: Im Jahr 2000 hatten wir eine viel, viel höhere Arbeitslosenrate als im Jahr 2019. Das kann also nicht der Grund sein. Der Grund für diesen extremen Rückgang der Tarifbindung war Politik und diese hat einen Namen, nämlich Agenda 2010.
(Hendrik Lange, DIE LINKE: Genau!)
Sie hat die Tarifbindung in den Betrieben unterminiert und zum Teil zerstört. Deswegen ist dieser Mindestlohn notwendig gewesen. Und diese Dinge wirken bis heute. Wenn wir heute über einen Mindestlohn von 12 € reden, dann müssen wir auch darüber reden, dass er notwendig gewesen ist, weil er die Konsequenzen einer falschen arbeitnehmerfeindlichen Politik ausbügeln musste, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der LINKEN)
Jetzt springen wir ins Heute. Ich höre noch die Jammerei über den Mindestlohn von 12 €, also darüber, was er alles kaputt machen würde.
Es gab eine UN-Konferenz vor 14 Tagen in Genf, also in der Schweiz, im Mutterland des Kapitalismus; das kann man so sagen. Der Mindestlohn im Kanton Genf beträgt 28 Franken. Das ist dort der Mindestlohn. Die Begründung ist eindeutig: Man kann dort, wenn man das nicht verdient, nicht leben. Deswegen hat das Mutterland des Kapitalismus im Kanton Genf einen Mindestlohn in Höhe von 28 Franken, nicht Euro, wobei das Verhältnis inzwischen faktisch eins zu eins ist. Es ist offensichtlich ein System und ein Modell, das sich sehr wohl in sehr verschiedenen Ländern mit verschiedenen Traditionen durchgesetzt hat.
(Marco Tullner, CDU: Wir machen erst einmal einen Faktenscheck!)
Jetzt kommen wir zu der heutigen Situation. Natürlich haben wir immer noch das Problem, dass wir einen Prozess, der in etwa vom Jahr 2000 bis 2015 angehalten hat, nämlich einen realen Kaufkraftverlust aufholen müssen. Mit der Einführung des Mindestlohns gab es bundesweit, insbesondere in Sachsen-Anhalt, eine Erhöhung der Kaufkraft der Arbeitnehmer. Vorher gab es 15 Jahre lang eine Stagnation bzw. eine Absenkung.
Wir sind jetzt wieder an einer solchen Schwelle. Die Inflation beträgt 8 %. Dazu sage ich ganz klar, dass können wir nicht nur mit dem Mindestlohn aufhalten. Dazu brauchen wir eine höhere Tarifbindung. Für diese höhere Tarifbindung müssen wir politisch die Weichen stellen.
Dazu gehört auch: Wenn die IG Metall sagt, wir wollen eine Lohnerhöhung von 7 % bis 8 % als Inflationsausgleich, dann kann ich das nur unterstützen; denn die Arbeitnehmer dürfen nicht für diese Krise bezahlen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der LINKEN)
Jetzt stellt sich noch die Frage, was das alles mit Intel zu tun hat. Ich glaube, wir haben bei Intel nicht das Problem, über den Mindestlohn reden zu müssen. Zumindest sind das nicht die Erkenntnisse, die wir bisher haben. Auch bei den Subunternehmern und bei denjenigen, die im Baubereich tätig sind, ist der gesetzliche Mindestlohn zumindest bisher nicht das Problem gewesen. Er könnte es eventuell in der Perspektive sein, weil die entsprechenden allgemein verbindlichen Tarifverträge auslaufen.
Wir haben aber neben diesem Problem, dass wir unbedingt dafür sorgen müssen, dass das untere Lohnsegment angehoben wird, damit die Leute in Würde von ihrer Arbeit leben können, noch ein anderes Problem. Ich finde die Debatten, die darüber geführt werden, ob es eventuell eine Art Gentrifizierung geben kann durch ein Angebot an sehr gut bezahlten Jobs, z. B. bei Intel, nicht so falsch.
Dagegen brauchen wir politische Maßnahmen, z. B. Maßnahmen im Bereich des Wohnungsbaus. Zudem sind Dinge erforderlich, mit denen wir bisher kaum etwas zu tun haben, z. B. eine Mietenkontrolle. Wir werden in Sachsen-Anhalt zumindest regional eine ähnliche Debatte bekommen, wie wir sie derzeit in Berlin haben. Wir müssen diese Diskussion ernsthaft führen, damit es nicht zu solchen Gentrifizierungsprozessen kommt.
Das Entscheidende aber ist, die Lohnspreizung in diesem Kontext nicht größer werden zu lassen. Sie muss kleiner werden. Deswegen muss es uns darum gehen, alles zu tun, damit wir von diesem ausgeprägten Niedriglohnbereich, mit dem die Landesregierung übrigens vor 15 Jahren noch als Standortfaktor geworben hat das merken wir an verschiedenen Stellen bis heute wegkommen.
Wir müssen die unteren Lohngruppen mithilfe aller Varianten, die uns dafür zur Verfügung stehen, anheben, und zwar über ein besseres Vergabegesetz als das vorliegende, über die konsequente Kontrolle und Anwendung eines gesetzlichen Mindestlohns von 12 € und alle politischen Maßnahmen, die dazu führen, dass wir diese Tarifbindung wirklich erhöhen, inklusive der Erleichterung von Allgemeinverbindlichkeiten von Tarifbindung, die wir unbedingt brauchen, weil mehr als die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land keinen tariflichen Schutz hat. Das ist ein Skandal. Dort müssen wir ran. Dabei hilft uns der Mindestlohn ein wenig, aber er reicht nicht aus. - Danke, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der LINKEN)