Vizepräsident Wulf Gallert:
Ich sehe keine Fragen. - Dann kommen wir zur nächsten Rednerin, Frau Sziborra-Seidlitz für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. - Sie haben das Wort, bitte sehr.
Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):
Vielen Dank für das Wasser. - Sehr geehrte Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Geschäft der antragstellenden Partei ist ein Rollback unseres modernen, sozialen und offenen Landes in eine Gesellschaft, wie sie vor Jahrzehnten war. Sie lassen dabei kein Politikfeld aus, auch unsere Schulen wollen Sie in preußische Lehranstalten alter Ordnung zurückverwandeln.
Auf eine ganz simple Weise hat das zu Ihrem Antrag beschriebene Problem sogar einen Zusammenhang; denn ganz sicherlich hat dieses alte Schulsystem auch leistungsfähige Eliten produziert. Was Sie aber bei Ihrer romantischen Verklärung der guten, alten Bildungszeit verschweigen, ist, dabei blieb eine große Anzahl von Kindern chancenlos auf der Strecke. Anders als Ihnen ist das dem Rest der Gesellschaft ich nehme an, auch dem Rest des Hohen Hauses nicht egal.
Ganz zu schweigen von Ihrem ekelhaft verzerrten und ehrabschneidenden Blick auf die Leistungsbereitschaft unserer Schülerinnen von heute. Aber zweifelsohne braucht es Anstrengungen, um einen Schulerfolg zu erreichen und jeder Schülerin und jedem Schüler den für sie oder ihn besten Schulabschluss zu ermöglichen.
Deshalb möchte ich jetzt über unsere Idee sprechen, wie die Bildungsqualität in Sachsen-Anhalt gestärkt werden kann, und zwar mit dem einfachen Prinzip „länger gemeinsam lernen“.
(Zustimmung von Olaf Meister, GRÜNE)
Denn Bildungsungerechtigkeit beginnt bei uns in Sachsen-Anhalt bereits in der Grundschule. Viel zu früh werden dort Kinder nach der 4. Klasse sortiert. Die Lehrkräfte sprechen Empfehlungen an die Eltern aus, wer auf das Gymnasium oder die Sekundarschule gehen soll. Ob die Kinder die Empfehlung bekommen und für welche Option die Eltern sich dann entscheiden, hängt mindestens genauso sehr von der schulischen Leistung wie vom sozialen Hintergrund der Kinder ab. Dazu gibt es zahlreiche Untersuchungen.
Gleichzeitig entwickeln sich Kinder gerade in dieser Altersgruppe rasant. Kinder, die in der 3. und 4. Klasse noch wenig Lust auf Schule und Lernen haben, können sich in den Jahren danach ganz anders entwickeln. Das trifft natürlich auch umgekehrt zu. Statt also die schulische Laufbahn bereits in einem so frühen Alter vorherzubestimmen, ohne dass die Schülerinnen und Schüler selbst einen Großteil mitbestimmen können, sollten wir den Kindern ermöglichen, länger gemeinsam zu lernen, z. B. in zehn oder 13 gemeinsamen Jahren an einer Gemeinschaftsschule.
(Zustimmung von Olaf Meister, GRÜNE, und von Katrin Gensecke, SPD)
Die Vorteile liegen auf der Hand. Eltern und Lehrkräfte müssen nicht für die Kinder entscheiden, ob sie eine Sekundarschule oder ein Gymnasium besuchen. Stattdessen können die Kinder sich erst entwickeln und in der Mittelstufe dann selbst entscheiden und daran mitwirken, ob sie den Weg zum Abitur gehen oder die Schule mit dem Sekundar- oder dem Hauptschulabschluss verlassen. Sie können fächerdifferenziert Stärken und Talente ausbauen und Schwächen trainieren. Wer in Mathe genial ist, braucht in Deutsch vielleicht Unterstützung. Ein Musiktalent kann in Kernfächern Förderungsbedarf haben. All das lässt sich bei einem längeren, schulformübergreifenden gemeinsamen Lernen gut unterstützen und gut fördern.
Ein großer Erfolgs- und Leistungsdruck und viel zu frühe pauschale Einteilungen in „Elite“ und „normal“ würden unseren Kindern von den Schultern genommen werden. Aber bis wir unser Bildungssystem in Sachsen-Anhalt so weit entwickelt haben, dass dieses längere gemeinsame Lernen möglich ist, ist es noch ein weiter Weg. Mir ist vollkommen klar, dass es auch politisch ein sehr, sehr dickes Brett ist.
Es ist allerdings ein Ziel, das wir gemeinsam verfolgen sollten. Denn die Durchlässigkeit, die auch schon erwähnt wurde, ist für viele Kinder auch das ist untersucht worden wegen des sozialen Hintergrundes oft nur eine theoretische Möglichkeit und ersetzt deshalb das längere gemeinsame Lernen eben nicht vollständig.
Es ist allerdings ein Ziel, das wir alle gemeinsam verfolgen sollten, um jedem Kind und jeder oder jedem Jugendlichen den Bildungsweg, der für sie oder ihn am besten geeignet ist, und den bestmöglichen Schulabschluss zu ermöglichen. Das ist dann auch Bildungsqualität.
Wir Bündnisgrünen kämpfen deshalb dafür, dass längeres gemeinsames Lernen in Sachsen-Anhalt für alle Kinder und Jugendlichen ermöglicht wird. Wir kämpfen dafür, dass mit dem Ausbau der Gemeinschaftsschulen in unserem Bundesland die Bildungsgerechtigkeit und damit auch die Bildungsqualität gestärkt wird. Selbstverständlich lehnen wir deshalb den vorliegenden Antrag ab. - Vielen Dank.
(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Vizepräsident Wulf Gallert:
Danke. - Jetzt gibt es eine Intervention von Frau Gorr. - Sie haben das Wort.
Angela Gorr (CDU):
Sehr geehrte Kollegin Abgeordnete, ich bin ganz froh, dass Sie zum Ende Ihres Beitrages auch noch auf den Beitrag unseres Koalitionsredners eingegangen sind, der klipp und klar darauf hingewiesen hat, dass wir ein sehr durchlässiges Schulsystem haben. Das freut mich in gewisser Weise.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal bekräftigen, dass ich glaube, dass es im Land Sachsen-Anhalt eher daran fehlt, die Durchlässigkeit dieses Bildungssystems transparenter insbesondere an die Eltern, aber auch an die Schülerinnen und Schüler heranzuführen. Wenn ich es vorhin richtig gehört habe, dann hatten wir heute ein Abendkolleg zu Gast auf der Tribüne. Die Themen, die Sie genannt haben, also dass es unter Umständen soziale Gründe gibt, warum Kinder nicht den bestmöglichen Schulabschluss machen, sind aus meiner Sicht nur ein sehr kleiner Aspekt.
Die jungen Leute erleben manchmal erst im späteren Leben, wie wichtig Bildungsabschlüsse sind. Sie können die Abschlüsse auch noch als Erwachsene machen. Ich denke, das ist etwas, was wir hier als Koalition auch als hohes Gut verteidigen sollten. Daher denke ich, dass das Bildungssystem in Sachsen-Anhalt Chancen ermöglicht und nicht Chancen verschließt.
(Zustimmung von Ministerin Eva Feußner und von Jörg Bernstein, FDP)
Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):
Vielen Dank, Frau Gorr. Selbstverständlich ist die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems etwas, was Chancen ermöglicht, aber eben nur dort, wo es die Schülerinnen und Schüler auch erreicht und wo sie davon wissen. Auch aus eigener Erfahrung als Mutter kann ich sagen: Die Durchlässigkeit ist mit einem großen Aufwand für Eltern verbunden, auch für die Eltern, die sich engagieren. Das ist eben nicht bei allen Kindern und Jugendlichen der Fall. Deswegen ist unsere Idee dazu: längeres gemeinsames Lernen.
Es gibt einen zweiten Aspekt, den ich an der Stelle wirklich sehr wichtig finde: Wenn Kinder hinsichtlich der Leistungsfähigkeit eingeteilt werden, dann ist das immer sehr pauschal. Das heißt, jemand, der an das Gymnasium geht, bekommt dann dort in allen Fächern die Unterstützung und hat Unterricht auf einem höheren Niveau. Es gibt nun einmal bestimmte Leistungsansprüche und eine bestimmte Förderung in der Sekundarschule nicht in dem gleichen Ausmaß wie im Gymnasium.
(Matthias Redlich, CDU: Das stimmt doch nicht!)
Wenn Kinder in unterschiedlichen Bereichen talentiert sind, wenn jemand zum Beispiel in Mathematik durchaus das Talent hätte, im Leistungskurs am Gymnasium zu bestehen, aber in Deutsch und in Englisch nicht so gut ist, dann landet der eben auf einer Sekundarschule und hat in Mathe nicht die Möglichkeit, die Förderung zu erhalten, die
(Matthias Redlich, CDU: Nein! Das stimmt doch gar nicht! Das ist doch falsch!)
Vizepräsident Wulf Gallert:
Lassen Sie jetzt Frau Sziborra-Seidlitz ausreden.
Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):
Das heißt, auch schulformübergreifendes Lernen würde dazu beitragen, dass man da differenzierter Stärken fördern könnte.
(Carsten Borchert, CDU: Wenn man keine Ahnung hat, sollte man nicht darüber reden!)
Vizepräsident Wulf Gallert:
Jetzt hat offensichtlich Frau Gorr noch einen ganz kleinen Nachschlag zu ihrer Intervention. Der muss aber klein sein. - Bitte sehr.
Angela Gorr (CDU):
Er ist sehr klein, weil ich die Diskussion mit Ihnen natürlich hier im Plenum nicht grundsätzlich führen kann. Fakt ist aber, dass es aus meiner ganz persönlichen Sicht ein sehr großer Unterschied ist, ob ich Kinder nach ihren Leistungen einteile, die durchaus in dem einen Bereich besser sein können als in dem anderen. Das heißt, es ist keine Wertung und auch keine Stigmatisierung. Aber die Einteilung nach Fähigkeiten innerhalb bestimmter sozialer Schichten halte ich für einen nicht immer so passenden Ansatz. Ich denke, es ist unsere Verantwortung, uns darum zu kümmern, dass auch an Eltern, die sich nicht so gut damit auskennen, diese Informationen herangetragen werden.
(Zustimmung von Ministerin Eva Feußner)
Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):
Das teile ich. - Vielen Dank.