Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Anliegen des hier vorliegenden Antrags ist wichtig und nachvollziehbar. Nutzen wir den Digitalisierungsschub durch Corona auch im Bereich der Pflege! Nutzen wir smarte Angebote gerade dort, wo wir in Zukunft einen gesteigerten Bedarf sehen werden! Da bin ich ganz bei Ihrem Antrag. Die Potenziale digitaler Angebote sind gerade für ein Flächenland wie Sachsen-Anhalt enorm. Sie können die Erreichbarkeit von Leistungen, z. B. im Bereich der Beratungsangebote, deutlich steigern und die Arbeitswelt im besten Sinne flexibilisieren.

Aber die Digitalisierung ist eben kein auf alles passendes Multitool. Ob der sensible Bereich der Begutachtung von Pflegebedarf wirklich für digitale Lösungen geeignet ist, dazu stellen sich mir durchaus noch Fragen - und nicht nur mir. Der Sozialverband Deutschlands etwa formuliert in seiner Stellungnahme zu der damaligen Verlängerung der Regelung gemäß § 147 des SGB XI:

In der Pandemie sind eine Zunahme der Widerspruchsverfahren zur Pflegebegutachtung und eine längere Verfahrensdauer festzustellen. Aus den Rückmeldungen unserer SoVD-Rechtsberatungsstellen wissen wir, gerade im persönlichen Gespräch und in der Inaugenscheinnahme können Gutachterinnen entscheidende Erkenntnisse zum Grad der Selbstständigkeit wahrnehmen und erfassen, die bei einer Begutachtung am Telefon oder nach Aktenlage im Verborgenen geblieben wären bzw. sind.

Der Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen, dem bis Ende 2021 so existierenden MDS, Dr. Peter P. stellt in einer Pressemitteilung des MDS im März 2021 fest: Der persönliche Hausbesuch ist und bleibt das beste Verfahren in der Begutachtung.

Übrigens suggeriert Ihr Antrag, dass die Begutachtungen in der Pandemiezeit regelhaft außerhalb des Wohnumfeldes erfolgt seien und wir somit auf zwei Jahre ausführlicher Praxiserfahrung zurückschauen könnten. Das trifft so aber nicht zu. Ausgesetzt war die zwingende Begutachtung im Wohnumfeld nur für den Zeitraum von Oktober 2020 bis Anfang März 2021. Seit dem 27. März 2021 ist die Begutachtung ohne Befunderhebung im Umfeld des Versicherten nur noch möglich   ich zitiere aus den bundesweit einheitlichen Maßgaben des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen für die Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit im Rahmen der Covid 19-Pandemie nach § 147 Abs. 1 Satz 3 SGB XI  :

„wenn dies im Einzelfall zur Verhinderung eines besonders hohen Risikos einer Ansteckung mit dem SARS-CoV-2-Virus zwingend erforderlich ist. In diesen Ausnahmefällen kann die Pflegebegutachtung anhand vorliegender Unterlagen und als strukturiertes Telefoninterview erfolgen.“

Dass die beschiedenen Pflegegrade vor und nach der Einführung des § 147 in etwa vergleichbar geblieben sind, wie Sie in Ihrer Begründung ausführen, könnte also schlicht an dem Umstand liegen, dass ein Großteil der Erhebungen weiterhin im Wohnumfeld erfolgt ist.

Auch frage ich mich, was eigentlich mit den Beratungsbesuchen nach § 37 Abs. 3 SGB XI ist. Auch diese konnten zeitweise gemäß § 148 SGB XI ohne Besuch in der Häuslichkeit, also digital, stattfinden. Diese Regelung lief im März dieses Jahres aus. Aber im Sinne Ihres Antrages sollte man auch das weiterhin und generell ermöglichen, denke ich.

Die Liga würde dies begrüßen. In deren Stellungnahme zur dritten Verordnung zur Verlängerung von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der pflegerischen Versorgung während der Pandemie heißt es:

„Des Weiteren begrüßen wir, dass die Beratungsbesuche nach § 37 […] weiterhin auf Wunsch des Pflegebedürftigen telefonisch und digital stattfinden können. Dies hat sich bewährt, und es sollte überlegt werden, auch nach der Krise diese Maßnahmen mit Ausnahme des ersten Beratungsbesuches zu verstetigen.“

Was ich sagen möchte, ist: Ganz so einfach, wie Ihr Antrag es nahelegt, ist eine Entfristung der Abschaffung der verpflichtenden Begutachtung im Wohnumfeld dann doch nicht. Aber der Ansatz ist bemerkenswert und wichtig. Daher hätte ich mir und hätte meine Fraktion sich gewünscht, diesen Antrag in den Sozialausschuss zu überweisen und im Ausschuss mit einem Fachgespräch gemeinsam die Chancen und Risiken und die Übertragbarkeit abschließend zu bewerten. Der Zeitdruck durch die auslaufende Regelung, den nicht wir zu verantworten haben, sondern der schlicht daran liegt, dass dieser Antrag sehr spät kam, verhindert das. Das ist schade und das halte ich für sehr schwierig. Frau Anger hat dazu ja auch schon ausgeführt.

Der einzige Grund, aus dem wir uns enthalten werden, ist: weil es so einfach eben nicht ist. Grundsätzlich ist der Antrag aber bemerkenswert. - Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Vizepräsident Wulf Gallert:

Eine Frage von Frau Dr. Richter Airijoki.

(Dr. Heide Richter-Airijoki, SPD: Ich habe das eigentlich als Intervention gemeint!)

- Das können Sie sich jetzt aussuchen. Sie sind einfach dran. Bitte.


Dr. Heide Richter-Airijoki (SPD):

Danke. - Zu den Widerspruchsverfahren. Aus meiner Sicht ist das mit den Widerspruchsverfahren gerade gut. Die Widerspruchsverfahren, die bei der Pflegebegutachtung mit gutem Grund leicht anzuwenden sind, sind für mich auch eine Rückversicherung dafür, dass eben kein Risiko besteht, dass Patienten in der Begutachtung schlechter wegkommen als sonst.

Es gibt diese Widerspruchsmöglichkeit. Darum wird auch extra darauf hingewiesen. Es ist klar, dass, wenn es eine Umstellung auf ein neues Verfahren gibt, es dabei Übergangsfragestellungen gibt, die man zu behandeln hat. Deswegen würde ich eine solche Innovation, die mir wirklich sehr sinnvoll erscheint, auch nicht verschieben wollen, bis noch viele Details geregelt sind. Denn gerade in dem Widerspruchsverfahren liegen Möglichkeiten. Es ist auch an Bedingungen geknüpft. So müssen z. B. Unterlagen vorliegen usw. Im Zweifelsfall wird man immer die Begutachtung vor Ort durchführen. Es besteht auch die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Begleitung durch eine unserer Universitäten.

Vor diesem Hintergrund bin ich in diesem Fall   ich bin nicht jemand, der immer sagt, Innovation per se müssen wir unbedingt machen   sehr dafür, dass wir diese Innovation wagen. - Danke.


Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):

Vielen Dank. - Darauf möchte ich gern reagieren. Ich habe das schon ausgeführt. Ich finde die Innovation an diesem Punkt tatsächlich bedenkens- und bemerkenswert. Aber ich würde es gern auch fachlich stärker abwägen. Sie wissen, so wie ich es weiß und wie es alle wissen, die mit dem Fach ein bisschen vertraut sind, dass Widerspruchsverfahren bei Begutachtungen zur Pflegebedürftigkeit eher nicht die Ausnahme sind. Ich drücke das jetzt einmal sehr vorsichtig aus. Es ist kein Einzelphänomen, sondern es findet häufig statt, dass Menschen erst nach dem Widerspruch den ihnen nach ihrem Pflegebedarf eigentlich zustehenden Pflegegrad erhalten. Die Zahl der Widerspruchsverfahren ist aber zu der Zeit angestiegen, als quasi diese digitalen Möglichkeiten hinzukamen. Ich kann Ihnen nicht beantworten, ob es daran liegt oder ob es, wie vorhin suggeriert wurde, daran liegt, dass es insgesamt mehr Verfahren gab. Aber das hätte ich gern ausgelotet, bevor ich dem zustimme. Nur daher rührt an der Stelle unsere Enthaltung.

(Zustimmung von Olaf Meister, GRÜNE)