Henriette Quade (fraktionslos):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Die schrecklichen Ereignisse am 20. Dezember lassen wohl jeden emphatiefähigen Menschen in diesem Land auch heute fassungslos, erschüttert und schockiert zurück. Sechs Menschen wurden getötet, fast 300 verletzt und Unzählige sind traumatisiert und Betroffene dieses Anschlags. Ihnen gelten unsere Gedanken und unsere Solidarität.
Es ist richtig, eine umfassende, eine systematische und kritische parlamentarische Untersuchung schnell auf den Weg zu bringen. Die erste Reaktion vieler, nicht nur von Sicherheitsexperten, nach den ersten furchtbaren Nachrichten und vor allem Videos aus Magdeburg war die Frage, wie so etwas nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz im Jahr 2016 eigentlich passieren kann.
Wieso kann ein Attentäter ungehindert mit einem Fahrzeug auf den Weihnachtsmarkt fahren? Wieso gab es in Magdeburg an zwei entscheidenden Stellen weder Betonsperren noch Polizeifahrzeuge oder andere physische Barrieren, die ein Attentat mit dem Auto hätten verhindern können?
Der Waffen- und Sicherheitssachverständige Lars Winkelsdorf äußerte zu einem Zeitpunkt, als das Sicherheitskonzept des Weihnachtsmarktes vom verantwortlichen Beigeordneten einerseits als „sehr gut“ bezeichnet wurde und andererseits aber unter Verschluss gehalten wurde, den Eindruck, dass die Umsetzung des neuen Waffengesetzes der Bundesregierung Stichwort: Messerkontrollen quasi als Ersatz für bisherige Schutzkonzepte verstanden wurde.
Später beschrieb er das Sicherheitskonzept als stellenweise laienhaft und skurril, und er schrieb, dass sein Eindruck sei, auch die Frage der Kosten und möglichen Ersparnisse habe beim Konzept eine Rolle gespielt.
So unverdächtig es sein dürfte, permanent Aufgaben in Richtung Polizei verlagern zu wollen, stelle nicht nur ich mir die Frage, wie es eigentlich sein kann, dass für ein Sicherheitskonzept in Zeiten vieler abstrakter und diffuser Bedrohungen letztlich die Verantwortung beim privaten Veranstalter liegt.
Auch mir drängt sich der Eindruck auf, das Sicherheitskonzept sei eben auch als Instrument der Kostenersparnis und Umsatzmaximierung gehandhabt worden. Es wäre nötig gewesen, die gleiche Akribie, die verwendet wurde, um anderen Märkten Auflagen zu erteilen und das Leben schwer zu machen, auf das Konzept des Weihnachtsmarktes anzulegen, um dort Schwachstellen zu finden. Das ist ein Punkt, den der Untersuchungsausschuss untersuchen muss.
Wir wissen, dass ein Polizeiwagen nicht an der in der Planung vorgesehenen Stelle stand und dass dies die Stelle war, an der der Attentäter zuerst in die Menschenmenge fahren konnte, dass an weiteren Stellen im Sicherheitskonzept Barrieren vorgesehen waren, die in der Realität nicht da waren, dass es vor dem Anschlag mehrfach Hinweise darauf gab, dass nicht alle in der Planung vorgesehenen Polizeiwagen dort standen, wo sie stehen sollten. Insofern liegt auf der Hand, dass das ein zu untersuchender Komplex ist.
Wovor ich warnen will: Wer ernsthaft ergründen will, an welchen Stellen für die Zukunft Handlungsbedarf besteht, darf sich nicht nur an formalen Zuständigkeiten und daran, wer für welche Abweichung von welchem Plan die Verantwortung trägt, abarbeiten und verlieren. Wenn ein Konzept auf dem Papier Sperrungen vorsieht, die in der Realität überhaupt nicht praktikabel sein können, wie z. B. Stangen oder Ketten an Hauptverkehrsstrecken von Fußgänger*innen, dann ist das ein untaugliches Konzept.
Wenn mehrere Stellen dieses Konzept kennen, beraten, besprechen und bei der Abnahme solche Schwachstellen nicht problematisiert werden, und auch in der praktischen Umsetzung niemand der an der Sicherheitsgewährleistung Beteiligten diese Lücken sieht, dann müssen sie alle die Frage beantworten, warum. Dann liegt auf der Hand, dass es um mehr geht als um einzelne Planabweichungen und die Frage, ob die Stadt oder die Polizei zuständig war. Es muss um die Verantwortung aller Beteiligter gehen.
Der zweite Komplex, der zu Recht viele Menschen bewegt, ist die Frage, wie es eigentlich sein kann, dass zu einem Attentäter vor seiner Tat derart viele Hinweise vorliegen, ohne dass die Gefährdung, die von der Person ausgeht, bekannt wird. Ab Tag 1 nach dem Anschlag haben wir sehr schnell die üblichen reflexhaften Forderungen gehört: Mehr Kompetenzen und Befugnisse für Sicherheitsbehörden, mehr Datenspeicherung, leichtere Datenweitergabe zwischen Behörden. Das alles sind Klassiker, auch um Ratlosigkeit zu überdecken.
Mittlerweile ist sehr klar, das ist kein Problem von zu wenig Datenweitergabe. Es ist eines von falscher Analyse. Anders als in anderen Fällen lagen hier ungewöhnlich viele Informationen vor, und zwar nicht irgendwo, sondern an der Stelle, die für das Erkennen von Gefährdungen und für das systematische Auswerten zuständig ist, nämlich beim LKA.
Wie kann es sein, dass jemand in seinen Social-Media-Posts klare Hinweise auf seine eigene Radikalisierung gibt, nicht nur mit einer Waffe als neues Profilbild, sondern auch im Inhalt seiner Posts, dass sich Hinweise auf einen irrationalen Hass auf staatliche Strukturen und Akteure in den letzten zwei Jahren verdichten, dass jemand immer wieder auf Anschläge anspielt und sogar das wahllose Töten von Menschen in den Raum stellt, dass es schließlich mehrfach für nötig gehalten wird, eine Gefährderansprache durchzuführen und zugleich die Analyse der Fachstelle des LKA permanent gleich bleibt - keine Hinweise auf Extremismus, keine Hinweise auf Gefährdung durch den späteren Attentäter?
Was wir bisher gehört haben, deutet auf ein schweres Defizit in der Analysefähigkeit des LKA und anderer Sicherheitsbehörden hin. Mein Eindruck ist, dass hierbei schlichtweg immer wieder dieselbe Schablone aufgelegt wurde. Da wir es mit einem Ausländer zu tun haben, wurde offenkundig die Frage nach Extremismus gleichgesetzt mit der nach Islamismus und darauf reduziert, mangels stichhaltiger Hinweise darauf verneint und damit automatisch eine Radikalisierung, eine Gefährdung und Terrorismus ausgeschlossen. Hierin liegt das analytische Kernproblem.
Ich habe zugleich die größten Zweifel, dass der Untersuchungsausschuss dem gerecht werden kann. Denn das Problem scheinen gerade nicht der Regelverstoß, sondern die Anwendung der Regel und die Regel selbst zu sein. Wenn die Fachstelle bei der Anwendung der Standardanalysekategorien für das Erkennen von Gefahren immer wieder zu der Einschätzung kommt, dass keine Radikalisierung und Gefahr vorliegen, dann taugen diese Standardkategorien nicht, um Gefahren zu erfassen, und dann ist das Problem nicht mit der Festnahme des Täters behoben, sondern weit größer als bisher sichtbar.
Es stellt sich die Frage, ob es weitere Fälle gibt, in denen eine solche Fehlanalyse zum Verkennen von Gefahren führt. Das verweist unmittelbar auf die Ebene, die zu einer umfassenden Untersuchung aller Umstände, die den Attentäter in seiner Tatabsicht bestärkt haben, zwingend dazugehört, nämlich die seiner ideologischen Anknüpfungspunkte. Auch darüber geben die Postings des Attentäters verblüffend klar Auskunft. Er war Fan der AfD, er wähnte sich in einer Kampfgemeinschaft mit ihr gegen den Islam. Er warf Angela Merkel eine unkontrollierte Massenmigration vor und fand, sie verdiene die Todesstrafe. Er zeigte sich als Anhänger der Verschwörungsideologie des großen Austauschs und fühlte sich zu Racheakten berufen.
Sein Profil zeigt nicht nur viele Posts und Follower, es zeigt auch einen klaren Radikalisierungsprozess in Worten, in Symbolen und in Tatankündigungen. Das ist eins zu eins das, was wir auf jeder AfD-Demo hören können. Das ist nicht zuerst ein Konflikt mit seinem Heimatland, wie es der Ministerpräsident einordnet, es zeigt eine ideologische Anbindung an die extreme Rechte, die weder LKA noch Verfassungsschutz erfassten.
(Zurufe von der AfD)
Das hindert die extreme Rechte natürlich nicht an der Instrumentalisierung dieses Verbrechens. Die Videos und Inszenierungen von AfD-Politikern auf dem Weihnachtsmarkt, als noch Rettungseinsätze liefen, als Menschen noch um ihr Leben kämpften, gehören zum Widerlichsten, was ich jemals in meinem Leben gesehen habe.
(Beifall bei der Linken und bei den GRÜNEN)
Die Radikalisierung des Täters wurde befeuert von Ideologie und Kampagnen der extremen Rechten, insbesondere der AfD.
(Zurufe von der AfD)
Das zu negieren, heißt, Gefahren zu ignorieren.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Die Weigerung zur Übernahme des Verfahrens durch den Generalbundesanwalt ist mir deshalb nicht nur unverständlich, sie wird der terroristischen Dimension der Tat auch nicht gerecht und ist deswegen auch eine verheerende Botschaft an die Opfer des Anschlags. Es ist auch eine verheerende Botschaft an diejenigen, die von der Stimmungsmache, der Desinformation und der Feindmarkierung der extremen Rechten, von Brüdern im Geiste des Attentäters, betroffen sind.
Vermeintliche oder tatsächliche Migranten, People of Color, Asylsuchende und Geflüchtete werden seit dem Anschlag zum Ziel rassistischer Attacken und Gewalttaten. Die Beratungsstellen berichten von einer regelrechten Explosion der Fallzahlen. Es ist deshalb dringend nötig, dass Landesregierung und Landtag heute auch das klare Signal senden: Wir verurteilen die rassistischen Angriffe und wir tun alles dafür, Menschen vor ihnen zu schützen.
(Zustimmung bei der Linken, bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Meine Damen und Herren! Die klare Orientierung an den Bedürfnissen der Betroffenen, Aufklärung und Transparenz sowie Fehlerkultur, Wahrnehmung von Verantwortung statt Verantwortungspingpong, das Handeln Einzelner untersuchen, ohne Strukturen aus dem Blick zu verlieren, die eigenen Analysekategorien hinterfragen und weiterentwickeln, Solidarität mit den Opfern des Anschlags, Solidarität mit den Betroffenen von Resonanzstraftaten, hier in Magdeburg und anderswo - das ist das, was nötig ist. Ich hoffe, der Untersuchungsausschuss trägt dazu bei. Er allein wird es nicht leisten können. - Vielen Dank.
(Zustimmung bei den GRÜNEN)