Sebastian Striegel (GRÜNE): 

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit es Menschen gibt, machen sie sich auf den Weg in eine bessere Zukunft, wenn das nächste Tal, das gegenüberliegende Flussufer oder auch die hinter dem Meer liegende Ferne eine solche für sie selbst oder die eigenen Kinder verspricht. Seit es Menschen gibt, fliehen sie vor Verfolgung, Krieg oder aus Armut in andere Länder. Seit es Menschen gibt, suchen sie nach Naturkatastrophen eine neue Heimat.

Migration ist Realität. Sie geschieht überall auf der Welt und sie ist so gewiss wie das Aufgehen der Sonne im Osten oder das Fließen des Wassers einen Berg hinunter. Angesichts der von uns mitverursachten, zunehmenden klimabedingten Verteilungs- und Verdrängungskonflikte ist es unwahrscheinlich, dass die Zahl der Flüchtenden weltweit abnehmen wird - eher im Gegenteil. 

Migration als Fakt anzuerkennen, ist Ausgangspunkt für eine realistische Migrationspolitik. Maßnahmen, die diese Realität verleugnen, werden nicht die erhoffte oder versprochene Wirkung entfalten. Europa, die Bundesrepublik Deutschland und unser Heimatland Sachsen-Anhalt brauchen Migration. Wir brauchen gelingende Zuwanderung. Hochgezogene Grenzen, Abschottung und rassistische Fantasien von der Deportation breiter Bevölkerungsteile schaden unserem Land. Unserem Land vorsätzlich zu schaden, das mag gut für die AfD sein, aber für uns alle, für die hier lebenden Menschen ist dieser vorsätzliche, aus rassistischen Gründen verursachte Schaden eine Katastrophe.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Migration kann an Grenzen sichtbar gemacht werden. Sie lässt sich dort in Grenzen regulieren oder umleiten. Vollständig stoppen lässt sie sich auch mit Zäunen und Grenzkontrollen nicht - nicht an Außen- und nicht an Binnengrenzen. Im besten Fall sichern Grenzen Humanität und Ordnung in der Migrationspolitik, im schlechteren, dem häufigeren Fall werden Grenzen zur todbringenden Falle. Das passiert zu häufig und wir haben als GRÜNE den Anspruch, das zu ändern. 

Die damalige EG hat mit der Begründung des fast 40 Jahre alten Schengen-Raumes, in dem sich Personen und Güter frei über alle nationalen Grenzen hinweg bewegen können, ein Fundament für ein friedliches, solidarisches und geeintes Europa gelegt. Schengen ist für viele Menschen in der EU der sichtbare Erfolg der Befriedungsbestrebungen in Europa. Wir, die wir in Sachsen-Anhalt keine Außengrenzen haben, kennen diese Vorzüge vor allem dann, wenn wir zu Freunden oder in den Urlaub nach Polen, Tschechien oder Österreich fahren. Für Menschen, die in den Grenzregionen leben, bedeutet Schengen einen Alltag in Freiheit ohne ständige Kontrollen und Verdächtigungen vor und nach der Arbeit, dem Einkaufen oder dem Weg zum Freizeitsport. 

(Beifall bei den GRÜNEN) 

Der Schengen-Raum wird seit einigen Jahren immer wieder durch Binnengrenzkontrollen unter Druck gesetzt. Grenzkontrollen sind insbesondere bei internationalen Sportveranstaltungen oder bei konkreten Hinweisen auf eine angespannte Sicherheitslage für einen begrenzten Zeitraum durchaus angebracht und sinnvoll. Als Dauerlösung taugen sie nicht. Ja, sie schaden der öffentlichen Sicherheit, weil sie die Bundespolizei von ihrer mindestens ebenso wichtigen Aufgabe abhalten, auf Flughäfen und Bahnhöfen für Sicherheit zu sorgen. 

Die Entscheidung der Bundesinnenministerin, stationäre Grenzkontrollen an allen Grenzen durchzuführen, ist tatsächlich nicht dauerhaft realisierbar, rechtlich auf lange Sicht nicht vertretbar und in ihrer Wirkung überschaubar. Politisch sind diese Kontrollen ein schweres Pfand für unsere europäischen Partner und eine extreme Belastung für die Menschen in den Grenzregionen. 

Ja, die Einführung der Grenzkontrollen folgt aus einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis in der Bevölkerung infolge des islamistischen Terroranschlags in Solingen. Dieses Sicherheitsbedürfnis ist echt und wir nehmen es ernst. Unsere Antworten müssen jedoch sowohl rechtmäßig, als auch tatsächlich wirksam sein. Wir sind von der Bundestagsfraktion bis zu den Landtagsfraktionen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN jederzeit bereit, über Vorschläge zu reden, die rechtlich möglich und die tatsächlich hilfreich sind. 

Wer über Vorschläge ins Gespräch kommen will, der sollte aber vielleicht nicht mit Ultimaten auffallen und im Raum bleiben, und nicht wie die CDU mit stampfendem Fuß die Verhandlungen verlassen. Um es einmal mit Herbert Wehner zu sagen: Wer rausgeht, der muss auch wieder reinkommen.“

(Beifall bei den GRÜNEN)

Zurückweisungen an den EU-Binnengrenzen   um diese Fälle geht es Ihnen von der CDU offensichtlich   sind bei Flüchtlinge, die unter die Dublin-III-Verordnung fallen, rechtlich nicht möglich. Hier so zu tun, als befinde sich das europäische Recht im Widerspruch zu dem deutschen, ist selbst im Falle eines Notstands rechtspolitischer Unsinn. Schauen Sie sich die EuGH-Rechtsprechung an; der Hof hat bisher jede Notfallerklärung zur Begrenzung von Migration kassiert, und selbst im Fall des Obsiegens blieben noch immer die Grundsätze des Nicht-Zurückweisungsrechts der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention. 

Was Herr Merz und die CDU an dieser Stelle wollen, ist kalkulierter Rechtsbruch. Unsere europäischen Nachbarn haben auf diese Vorschläge zu Recht mit Unverständnis reagiert. Die großen Europäer Konrad Adenauer und Helmut Kohl rotieren angesichts ihrer europafeindlichen Vorschläge im Grab und Angela Merkel faltet die Hände zur Raute und schüttelt bedächtig den Kopf. Es waren bessere Zeiten, als die CDU sich noch dem geeinten Europa verpflichtet sah. 

(Oh! bei der CDU) 

Dieses gemeinsame Europa hat mit der GEAS-Reform einen Kompromiss in der Asylpolitik gefunden. Eine Reform, die nicht genau dem entspricht, was wir als GRÜNE uns vorgestellt haben, aber das ist das Wesen eines Kompromisses. Ich habe weiterhin erhebliche Zweifel daran, dass ein System, das für die EU-Grenzstaaten eine deutliche Belastung bedeutet und zu wenig tatsächliche Solidarität zwischen den Staaten verbindlich macht, genug Wirkung entfaltet. Dennoch, GEAS ist der Kompromiss, den wir haben und der nun mit Leben gefüllt werden sollte. Deshalb werbe ich dafür, an ihm festzuhalten, ohne dabei aus dem Blick zu verlieren, was dieser Kompromiss noch nicht leistet. 

Ich bin sicher, auch in Zukunft wird es Menschen geben, die innerhalb von Europa weiterreisen, egal ob vorher registriert oder nicht. Wir brauchen ein europäisches Asylsystem mit einem verbindlichen und solidarischen Verteilmechanismus für alle europäischen Staaten. Auch das sichert offene Grenzen innerhalb Europas. 

Meine Damen und Herren! Ich sprach davon, dass viele Menschen nach den islamistischen Anschlägen der letzten Monate ein hohes Sicherheitsbedürfnis haben. Der Attentäter von Solingen hat sich, ob hier oder bereits vor der Ankunft in Europa, islamistisch radikalisiert. Anschläge durch radikalisierte Terroristen sind für alle Menschen auf der Welt eine Gefahr. Allein der selbsternannte Islamische Staat hat sich in den letzten Jahren zu zahlreichen Anschlägen bekannt, die meisten davon in Asien oder Europa. 

Menschen, die aus dem arabischen Raum fliehen, suchen oft genau vor diesen Islamisten bei uns Schutz und Frieden. Um ihrer und unser willen müssen und werden wir uns jedem Terrorismus, gerade auch dem islamistischen, entgegenstellen. 

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung von Dr. Katja Pähle, SPD)

Es gilt aber auch: Absolute Sicherheit wird es in einer freien Welt nie geben. Wir werden die Gefahr, die mit der islamistischen Radikalisierung einhergeht, aber erneut in den Blick nehmen und Programme stärken, die dort ansetzen, wo Menschen für solche Radikalisierung empfänglich werden. Wir werden die europäische Sicherheitsarchitektur auf bestehende Lücken abklopfen und sie schließen. Und wir werden uns allen entgegenstellen, die zu uns geflüchtete Menschen in die Perspektivlosigkeit drängen; denn Perspektivlosigkeit schafft den Boden, aus dem Terror sprießt. 

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der SPD)

Menschen in Kettenduldung belassen, Menschen mit Arbeitsverboten gängeln, sie aus dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt heraushalten, keine Integrationsangebote vorhalten, keine Traumatherapien anbieten 

(Ulrich Thomas, CDU: Hören Sie doch mal auf, die Menschen in Schutz zu nehmen! - Andreas Schumann, CDU: Das ist Täterschutz, was Sie betreiben!)

und faktisch keinen oder nur einen extrem beschränkten Familiennachzug ermöglichen - wer so handelt, Herr Thomas, der schafft den Raum für den Terror von morgen. 

Migration ist in unseren Kommunen als Herausforderung spürbar. Migration ist für ein funktionierendes System der öffentlichen Daseinsvorsorge aber kein unlösbares Problem. Ein Problem, meine Damen und Herren, sind die krass sinkenden Bevölkerungszahlen und der demografische Wandel. 

Seit 1990 ist die Bevölkerung in Sachsen-Anhalt um ein Viertel zurückgegangen. Bis 2040 erwartet Sachsen-Anhalt einen zusätzlichen Rückgang um ca. 12 %. Darüber hinaus hat Sachsen-Anhalt im Bundesvergleich den höchsten Altersdurchschnitt. Wenn Sie heute zum Arzt oder in ein Krankenhaus gehen, dann wird sie dort mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Person mit Zuwanderungsgeschichte behandeln. Wenn wir wollen, dass elementare Dienstleistungen in diesem Staat auch in Zukunft noch geleistet werden können, dann braucht es gelingende Zuwanderung.

(Jörg Bernstein, FDP: Gelingende!)

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich mit der Feststellung „Wir sind ein Einwanderungsland“ auf den Weg gemacht. Die aktuelle Ampelbundesregierung hat dieser Migrationsrealität mit dem ersten Einwanderungsgesetz dieser Republik Rechnung getragen. Die Ampel hat das Staatsangehörigkeitsrecht modernisiert und sie hat mit dem Chancenaufenthaltsrecht und weiteren Maßnahmen vieles, vieles mehr bewegt. 

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der SPD)

Wir müssen in diesem Land dafür sorgen, dass Menschen sich hier willkommen und zu Hause fühlen. Aktuell passiert das Gegenteil. Die öffentliche Debatte über Migration ist entgleist. Desinformation, rechtsextreme Wahlerfolge und die Selbstermächtigung von Rassisten   wir konnten es auch heute hier im Plenum wieder sehen   setzen die offene Gesellschaft unter Druck. 

(Zuruf von Andreas Schumann, CDU)

Das Einknicken unter diesem Druck in der Mitte der Gesellschaft, Herr Schumann, gibt mir zu denken. Man kann den Aufenthaltsstatus eines Menschen eben nicht am Gesicht erkennen. Unter der aktuellen, der destruktiven Migrationsdebatte leiden viele Menschen ganz konkret, 

(Tobias Rausch, AfD: Nein, die leiden unter Ihrer Politik!) 

Menschen, die hier eine Zukunft für sich sehen und die in Sachsen-Anhalt ankommen wollen. Unterstützen wir sie. Lassen Sie uns über die wichtigen Probleme in diesem Land sprechen: Wie schaffen wir gemeinsam Zukunft? - Herzlichen Dank.